Mehr als ein Aufstand in der Hauptstadt

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Die Kommune-Bewegung im Licht einer engagierten Geschichtsschreibung

Einhundertfünfzig Jahre nach der Existenz und Niederschlagung mehrerer selbstverwalteter und autonomer Kommunen in Frankreich beschreiben Detlef Hartmann und Christoph Wimmer diese historischen Ereignisse aus einer – wenn man so will – rätekommunistischen Perspektive. Ähnlich wie es Roman Danyluk hinsichtlich der Bayrischen Räterepublik (1) herausarbeitete, handelte es sich bei den aufständischen Kommunen nicht primär um ein Hauptstadtphänomen, wie nachträglich meist dargestellt. Vielmehr entstanden während der Verwerfungen des deutsch-französischen Krieges in verschiedenen Städten und Provinzen Versuche kommunaler Selbstverwaltung, die sich dezidiert gegen den zentralistischen und kapitalistischen Nationalstaat richteten und dessen Regierung grundlegend in Frage stellten.

Nach einer sozialgeschichtlichen und politischen Einordnung berichten die Autoren von den markantesten Beispielen der Kommunen von Lyon, Le Creusot, Marseille und in Algerien. Darüber hinaus werden Bestrebungen kommunaler Selbstverwaltung in Toulouse, Narbonne, Limoges, Brest und Thiers und auf Martinique erwähnt, während es in zahlreichen weiteren Orten zu Aufständen kam.

Ein plurales Klassensubjekt in Abwehr von modernem Staat und Kapitalismus

Neben diesem historisch-kritischen Blick zeigen Hartmann und Wimmer auch auf, dass es sich bei den Aufständischen und Engagierten für eine autonome Selbstverwaltung um verschiedene soziale Gruppen und Klassen und keineswegs um ein einheitliches politisches Subjekt handelte. Weiterhin spielten zwar Sozialist*innen, Anarchist*innen und Aktivist*innen der Internationalen Arbeiter-Assoziation eine Rolle, gleichwohl wurden die Ereignisse von einer größtenteils spontanen wirklichen Volksbewegung dominiert und vorangetrieben.

Bei der Geschichtsbetrachtung jener Entwicklungen oftmals unterschätzt wurde und wird, wie lange nicht-kapitalistische Formen und gemischte Einkommensquellen für einen großen Teil der Bevölkerung parallel bestanden und dass die französische Kommunebewegung somit auch als explizit antikapitalistisch verstanden werden muss, um erklärt werden zu können. Mit ihr wandte sich die aufständische Bevölkerung auch gegen die bonapartistische Regierungsform, durch welche versucht wurde, unterschiedliche Interessengruppen auszubalancieren, um moderne kapitalistische Verhältnisse und den zentralistischen Nationalstaat gegen die bäuerliche Subsistenzwirtschaft, das Handwerk, die regionale Selbstverwaltung und unterschiedliche regionale Kulturen durchzusetzen. (Darin lässt sich eine gewisse Analogie zur neoliberalen Politik sozialdemokratischer Parteien an der Wende zum 21. Jahrhundert erkennen.)

Kämpfe von Frauen* und Antikolonialismus

Wer sich einigermaßen mit der Geschichte des 19. Jahrhunderts beschäftigt hat, kennt die Entwicklungen im Zuge des mörderischen deutsch-französischen Krieges, der zur deutschen Reichseinigung auf der einen Seite und zur Dritten französischen Republik auf der anderen Seite des Rheins führte. Das prägnante Buch kann in der in ihm entfalteten Perspektive dahingehend als innovativ gelten und stellt einige Aspekte der bolschewistischen Geschichtsverfälschung richtig. Neben dem Fokus auf die politischen Provinzen wird auch den Frauen* in der Kommunebewegung mehr Aufmerksamkeit als in früheren Publikationen geschenkt, ebenso wie Fragen der rassistischen Diskriminierung der Berber*innen und Araber*innen in Algerien mitbedacht werden.


Unter diesem Blickwinkel ist die berühmte Pariser Kommune vom 18. März bis 28. Mai 1871 eher als ein nachziehendes und weniger radikales Ereignis anzusehen als beispielsweise die Straßenkämpfe in Marseille, die umfassenden Selbstverwaltungsorgane am Industriestandort Le Creusot oder die antikolonialen Bestrebungen in Algerien. Gleichwohl erlitt die Bewegung der Kommunen in der Hauptstadt ihren blutigen Höhepunkt, wo bei ihrer Niederschlagung unter Duldung der deutschen Invasoren mehr als 20.000 Menschen abgeschlachtet wurden, die sich für ein anderes Gesellschaftsmodell einsetzten. Diese Ereignisse sind nicht zu vergessen, waren sie doch ein wesentlicher Faktor dafür, dass sich die radikaleren sozialistischen Strömungen wie die Anarchist*innen einerseits wesentlich reformistischer gaben und sich andererseits zersplitterten und teilweise im Terrorismus verhedderten.

Wie anarchistisch war die Kommune?

Die Autoren deuten an, dass sie das Konzept dezentraler und autonomer Selbstverwaltung nicht als „anarchistisch“ verstanden wissen wollen. Wenngleich es sicherlich nicht anarchistisch vereinnahmt werden darf, frage ich mich doch, warum sie diesem Abwehrreflex verfallen, statt sich positiv auf diese Bezeichnung zu beziehen, die von ihren Positionen und ihrem Politikverständnis her deutlich näher an der Kommunebewegung ist als viele Gruppierungen, die sich als „linksradikal“ verstehen.


Die Kommunen als geschichtlich gewachsenen sozialen Zusammenhang zu sehen, mit einer jeweils eigenen Ausprägung, bildet den Ausgangspunkt dafür, derartige Gemeinwesen der Selbstverwaltung als konkretes Gegenmodell zum kapitalistischen Nationalstaat zu begreifen. (2) Damit landet man keineswegs zwangsläufig in provinzieller Borniertheit, wobei selbstredend auch Lokalpatriotismus zu problematisieren ist, wo er entsteht. In jedem Fall ist die reflektierte und differenzierte Erinnerung an die Kommune-Bewegung des 19. Jahrhunderts ein Baustein für ein emanzipatorisches Geschichtsverständnis. Dazu gehört auch die Betonung dessen, dass die rebellischen Klassen sehr heterogen waren und die Ereignisse um das Jahr 1870 herum nicht als Vorspiel für die Russische Revolution fehlinterpretiert werden dürfen.

Anmerkungen:
(1) siehe https://paradox-a.de/texte/eine-gelungene-geschichte-von-unten/ bzw. Libertäre Buchseiten von März 2022 (Beilage zur GWR 467)
(2) Einen weiter gefassten und umfassenderen Kommunebegriff erarbeitet Ferdinand Stenglein in seiner Dissertation Die Anarchistische Kommune: Depropertisierung und interstitielle Autonomie