Material: Verhältnis von „Anarchismus“ und „Wissenschaft“

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Das Verhältnis von „Wissenschaft“ und“ Anarchismus“ ist zurecht zu problematisieren. Beides steht hier in Anführungsstrichen, weil zunächst definiert werden müsste, was darunter jeweils zu verstehen ist. Wissenschaft kann einen Teil dazu beitragen, zu erhellen, was Anarchismus ist. Aber eben nur einen Teil und nie vollständig, denn er hat mit dem Leben von eigenwilligen und unendlich komplex interagierender Menschen (und anderer Kreaturen) zu tun. Es gibt auch Leute, die überhaupt das Nachdenken über ein Verhältnis von Anarchismus und Wissenschaften pauschal ablehnen. Das ist meiner Ansicht nach ein strategischer Fehler, widerspricht aber auch dem, was Anarchismus auch ist: ein Set an komplexen Weisen, darüber nachzudenken, wie moderne Gesellschaften ohne Herrschaft organisiert werden können. Beispielsweise wurde das Wort und Konzept der „Selbstorganisation“ aus der wissenschaftlichen Diskussion in die politische eingebracht. Wie auch immer, hier zumindest 6 mögliche Konstellationen:

a) Historiker erforschen die anarchistische Bewegung in verschiedenen Ländern. Politische Theorie diskutiert Grundvorstellungen des Anarchismus in Abgrenzung zu anderen politischen Lagern. Kritische Pädagog*innen schauen sich an, was Anarchist*innen zu Pädagogik geschrieben haben. Sowas in der Art…

b) Ganz einfach: Menschen definieren sich selbst als Anarchist*innen und machen Wissenschaft – ob sie dafür bezahlt werden oder nicht, ist dabei eine andere Frage. Sie können sich dabei unterschiedlichsten Themen widmen. Ihre Haltung und Perspektive wird sich allerdings sehr wahrscheinlich auf die Untersuchung des Gegenstandes auswirken – egal, ob dies die Biologie, Soziologie, Physik, Geschichte, Astronomie oder Politologie betrifft.

c) „Anarchistische Wissenschaften“ wären dagegen etwas anderes. Hierbei geht es um anarchistische Ansätze in einem bestimmten Wissenschaftsgebiet. Beispielsweise wurden Versuche gestartet, eine anarchistische Geographie, Politikwissenschaft, Archäologie, Ethnologie, Sozialwissenschaft vorzuschlagen. Um so benannt werden zu können, wäre zu klären, was die Eigenständigkeit dieser anarchistischen Ansätze im Unterschied zu anderen (kritischen) Ansätzen, wie feministischen, poststrukuralistischen, postkolonialen, marxistischen Ansätzen oder „der“ Kritischen Theorie ausmacht. Dies betrifft nicht nur die betrachteten Gegenstände, sondern fast stärker noch, wie Wissenschaft selbst betrieben wird. Das Institute of Anarchist Studies in den USA und das Anarchist Studies Network in Großbritannien sind Beispiele für derartige Bestrebungen. (Dort ist der Abwehrreflex gegenüber intellektuellem Denken in der anarchistischen Szene übrigens auch nicht so stark ausgeprägt wie im deutschsprachigen Raum).

d) Peter Kropotkin wollte den Anarchismus „wissenschaftlich“ begründen, ähnlich wie Marx einen historischen Materialismus und seine politische Ökonomie als Wahrheitsgebäude für den (Staats-)Sozialismus setzen wollte. Kropotkins Projekt ist aus mehreren Gründen problematisch: Einerseits ist das ethische Element im Anarchismus so stark, dass es sich rein logischer Erklärung entzieht. Im schlechtesten Fall dient Wissenschaft dann nur zur Rechtfertigung der eigenen Meinung (= wie bei den Herrschaftswissenschaften, allen voran der größte Teil der heutigen Volkswirtschaftslehre). Selbst im besten Fall, leiten sich die ethischen Implikationen des Anarchismus aber nun einmal nicht aus der Erkenntnis der „Naturgesetze“ ab, da alles Gesellschaftliche und Soziale immer eine Frage von Gestaltung und Aushandlung zwischen Menschen ist. Dennoch kann diesem Vorhaben auch einiges abgewonnen werden. Immerhin bedienen sich auch andere politische Projekte wissenschaftlicher Erkenntnisse, um sich zu legitimieren – diese kommen aber nie vollständig „neutral“ zu Stande. Ein Beispiel, wo wissenschaftliche Erkenntnisse anarchistische Annahmen unterstützen , sind die Untersuchungen von Michael Tomasello, der fragt: Warum wir kooperieren?

e) Die bestehenden Wissenschaften sind aus aus anarchistischer Perspektive aus mehreren Gründen zu kritisieren: Aufgrund ihrer internen, streng hierarchischen Strukturen und dem damit zusammenhängenden post-feudalen, auch immer noch patriarchalen, Geklüngel; wegen den Fragen, wie Wahrheit verstanden wird, wie sie zu Stande kommt und welche Wahrheiten dafür ausgegrenzt werden; weil sie oftmals nicht zum Nutzen und Wohl aller forschen und lehren, sondern für die Interessen von Militär, Wirtschaftsverbänden oder politisch herrschenden Klassen…

f) Selbstverständlich lassen sich auch anarchistische Positionen wissenschaftlich kritisieren. Wenn jemand beispielsweise ein neues hierarchie-armes Organisationsmodell entwirft, könnte es sein, dass es auf problematischen Grundannahmen beruht. Eine wissenschaftliche Kritik kann auch dort geübt werden, wo Erkenntnisse einfach so interpretiert werden, das sie ins eigene Weltbild passen, damit aber Irrationalismus fördern.

Okay. Dies waren jetzt nur einige Gedanken, die ich mir gemacht habe, um das Verhältnis von Anarchismus und Wissenschaft besser greifbar zu machen. Was du von anarchistischen Ansätzen in einzelnen Wissenschaftsdisziplinen hältst, ob du eine wissenschaftliche Begründung des Anarchismus für möglich oder grundsätzlich abzulehnen ansieht – das ist selbstverständlich dir selbst überlassen.