Politik ist wie viele solcher großen Wörter ein schwammiger Begriff. Ihn mit Inhalt zu füllen, ist selbst ein Prozess der politischen Auseinandersetzung. Saul Newman entwickelte in seinem Buch The Politics of Postanarchism 2010 ein geeignetes Modell, um die Spannungen insbesondere auch innerhalb anarchistischer Verständnisse deutlich zu machen. Mit einem tiefer gehenderen Verständnis der eigenen Positionen lassen sich reflektierte Handlungsmöglichkeiten ableiten. Eine Grundfrage scheint mir tatsächlich zu sein, ob Anarchist*innen politisch handeln – oder, ob sie nicht – zumindest meistens – eigentlich andere Handlungsmodi bevorzugen.
In diesem Zusammenhang gehe ich selbst von einem „harten“ „realistischen“ Politikverständnis aus. Sie bedeutet die Auseinandersetzung um verschiedene Interessen unter Bedingungen struktureller Ungleichheit (also ungleicher politischer und auch anderer Macht) in einer Gesellschaft, die antagonistisch (Kapital/Lohnarbeit, Regierende/Regierte, Hetero-Männer/andere Geschlechter usw.) gespalten ist. Zwar wird in Politik fortwährend verhandelt und werden auch Kompromisse geschlossen. Dies geschieht jedoch, um die bestehende Herrschaftsordnung grundlegend aufrecht zu erhalten. Wenn wir diese Definition annehmen, ist eine Problematisiernug von Politik aus anarchistischer Perspektive sehr verständlich. Dabei ist dass Problem selbstverständlich nicht das Wort „Politik“, sondern die politische Herrschaft, die sich in der realen Politik (ihren Institutionen, Diskursen, Personal, Ideologien) manifestiert. Newman meint, dass Politik vom Staat an sich gezogen wird – dies gilt auch für außerpalamentarische Bewegungen, die Weise, wie wir politisch denken etc.
Mit der poststruktruralistischen Denkfigur der Differenz theoretisiert Newman: Wenn wir Politik definieren, entsteht zugleich, dass Andere, das Verdrängte oder Unbewusste von ihr. Das, was von Politik ausgeschlossen wird, bezeichnet er als Anti-Politik. Diese ist aber nicht einfach „unpolitisch“, sondern definiert sich in Abgrenzung zu Politik…

Genauer beschreibt Newman für den Anarchismus Anti-Politik in den Sphären von Ethik und Utopie. Hiermit trifft er zwei bedeutende Punkte: Erstens sind Utopie und Ethik im Anarchismus tatsächlich äußerst stark ausgeprägt. Sie kommen eigentlich vor jeder Politik und sind der Ausgangspunkt und Fluchtpunkt für anarchistisches Handeln. Zweitens werden utopische und ethische Anliegen tatsächlich kaum in der „harten“ Politik (wie oben definiert) verwirklicht. Vielmehr stellen sie Politik grundlegend in Frage und kritisieren sie. Das ethisch begründete Anliegen, dass alle Menschen dort leben können, wo sie wollen, ist zunächst kein Gegenstand politischer Verhandlung. Ebenso ist die Verwirklichung einer Welt ohne Grenzen vom heutigen Punkt aus gedacht zweifellos utopisch.
Ich habe Newmans Modell weiter gedacht und stellte fest, dass sich Politik sehr gut näher durch die Begriffe Strategie und Programm definieren lässt. Es geht hier um eine bestimmte politische Rationalität, nach welcher konkrete Forderungen verwirklicht, politische Subjekte formiert und adressiert, Gegner*innen zurückgedrängt werden sollen etc..

Nun standen und stehen Anarchist*innen vor dem Paradox, dass sich ihre ethischen und utopischen Anliegen nicht ohne Politik verwirklichen lassen. Sicherlich lassen sich alternative Lebensstile entfalten, autonome Zwischenräume aufbauen und rebellisches Handeln forcieren. Wenn es jedoch um die Veränderung der Gesellschaft als Ganzes geht, kommen auch Anarchist*innen nicht komplett um Politik herum. Das lässt sich an vielen Stellen zeigen: Auch wenn es ihnen oft wenig Spaß macht, melden auch Anarchist*innen mal eine Demo an, formulieren politische Forderungen oder versammeln ein Lager unter einer bestimmten Ideologie.
Newman ist der Ansicht, der Postanarchismus wäre in der Lage, diese Spannungsfeld (was sich aus einer Gesellschaft ergibt, in der politische (ökonomische usw.) Herrschaft besteht) sinnvoll zu erfassen. Anarchist*innen machten seiner Ansicht nach einer Politik der Anti-Politik oder eine anti-politische Politik. Genauer genommen kann diese als Politik der Autonomie bezeichnet werden.

Die Politik der Autonomie bewegt sich weiterhin im Spannungsfeld zwischen ethischen und utopischen Ansprüchen und der „Realität“ der Politik. Auch sie kann dieses nicht auflösen, denn dies gelänge lediglich, zu dem Grad, wie der Herrschaftscharakter der Gesellschaft insgesamt abgebaut werden würde. Aber: Gerade weil anarchistische Strategien und Praktiken nach einem Umgang damit suchen, stellt die Politik der Autonomie etwas qualitativ anderes dar, als die dominierende Politik im Rahmen der Herrschaftsordnung. Mit ihr gelingt es, das politische Handeln und Denken aus seiner staatlichen Einhegung zu befreien und stückweise eine Selbstorganisation nach anarchistischen Vorstellungen zu verwirklichen. Anarchistische Politik der Autonomie ist nicht irgendetwas, sondern mit bestimmten Aspekten wie dem Streben nach Emanzipation, der Autonomie einzelner Strömungen und Gruppen, mit dem Anspruch, Macht umzuverteilen etc. verknüpft. Dies kann jedoch nur mit einer klaren Kritik an dominierenden politischen Institutionen und Logiken, den Subjekten und Logiken, auf welche sich Politik bezieht etc. gelingen. Aus diesem Grund ist der ethische und utopische Charakter des Anarchismus sehr wichtig, aufrecht zu erhalten und weiter zu entwickeln.

Wie deutlich wurde, finde ich Newmans Modell tatsächlich sehr gut, um anarchistisches Handeln besser zu begreifen, was meiner Ansicht nach eine wichtige Voraussetzung ist, um Anarchie besser verwirklichen und ausweiten zu können. Ich habe mich ausgiebig mit Newmans Theorie beschäftigt und teile deswegen vieles auch nicht. Die grundlegende Skepsis gegenüber Politik scheint mir jedoch sehr angebracht und insbesondere in der deutschen sogenannten „linken Szene“ stark ausbaufähig. Diese bewegt sich meiner Wahrnehmung nach in einem gigantischen Widerspruch zwischen radikalen Rhetoriken (hinter denen radikale Sehnsüchte stehen, die aber nur selten thematisiert werden) und meiner Ansicht nach langweiliger „Realpolitik“.
Mit der anarchistischen Politik der Autonomie werden hingegen tatsächlich andere Formen, Inhalte und Stile entwickelt und geprägt. Diese sind selbstbestimmter und münden im besten Fall in direkte Aktionen und Selbstorganisationsprozessen. Im besten Fall gelingt es ihnen sogar, diejenigen anzusprechen und einzuladen, welche von der herrschenden Politik ausgeschlossen und direkt unterdrückt werden – nicht, um sie politisch im Rahmen der bestehenden politischen Ordnung zu „vertreten“, sondern, um ihnen eine Politisierung ihrer Ausgrenzung und Unterdrückung zu eröffnen, indem sie sich ermächtigen und Politik der Autonomie hervorbringen.