Richard Day schrieb 2005 das Buch Gramsci is dead. Anarchist currents in the newest social movements. Darin nahm er unter anderem die Hegemonietheorie von Antonio Gramsci als Ausgangspunkt, um in Abgrenzung zu dieser anarchistische Strategien darzustellen zu diskutieren. Das ist ziemlich plausibel, denn Anarchist*innen streben nicht danach, über den Weg der Hegemonie (= „Zustimmung + Zwang“), die Staatsmacht zu übernehmen, wie es kommunistische Parteien wollen. Vielmehr schaffen sie dezentrale, autonome und selbstorganisierte alternative Strukturen von unten. Dies spiegelt sich entsprechend auch in ihren Praktiken und Strategien wider. Day zeigt auf, dass der radikale Flügel der Anti-Globalisierungsbewegung sich genau daran orientiert und im Wesentlich anarchistisch inspiriert ist. Daneben kritisiert er die marxistische Hegemonietheorie jedoch auch aus einem anderen Grund: Seiner Ansicht nach funktioniert das neoliberale technokratische Herrschaftsarrangement in einer nahezu perfekten Anwendung hegemonialer Politik und kann sich somit als „nicht-ideologische Mitte“ darstellen. (Was es freilich nicht ist, denn es funktioniert im Wesentlichen als Projekt für die herrschenden Klassen.) Aus strukturellen Gründen würde eine hegemoniale Orientierung des eigenen Projektes, deswegen das bestehende Ordnung stützen, da deren Mechanismen der Vermittlung, Einbeziehung und Individualisierung unheimlich gut ausgebaut seien. Dies nennt Day, die „Hegemonie der Hegemonie“, gegen die eine linke Parteipolitik, als auch liberale Bewegungspolitik, welche auf die Inklusion von Minderheiten setzt, nicht ankäme.

Nach wie vor würden Linke aber nach Hegemonie streben. Sie stellen sich weiterhin vor, die Staatsmacht übernehmen zu können.

Deswegen organisieren sie sich als ein linkes Staatsprojekt und versammeln ihr Lager um mehr zu werden. Würde ihnen das gelingen, würde die bestehende Ordnung brüchig werden…

… und könnte schließlich eine neue Form des staatlich eingeführten Sozialismus durchgesetzt werden.

Anarchistische Strategien funktionieren hingegen ganz anders. Sie bauen direkte Alternativen auf, welche sich parallel zur dominanten Herrschaftsordnung ausbreiten. Dies sind nicht-hegemoniale Strategien. Daneben greifen sie zugleich die Hegemoniebestrebungen der politischen Staatsprojekte an, um sie zu untergraben.

Während dessen, schließen sich immer mehr Gruppen und Kommunen diesem Vorhaben an, tun dies allerdings nicht unter der Führung einer Partei, sondern dezentral, autonom und horizontal. Diese wechselseitige Bezugnahme und Verbindung nennt Day die „Affinität für Affinität“. Mit ihr würde die bestehende Herrschaftsordnung untergraben werden, während gleichzeitig grundlegend andere Strukturen an ihre Stelle treten, welche die gesellschaftlichen Funktionen nicht-hierarchisch ausüben.

Fluchtpunkt dieses postanarchistischen Ansatzes ist kein neues Gesellschaftssystem, also die Einführung von Anarchie als eine bestimmte Ordnung, sondern ein fortwährender Prozess der Gesellschaftstransformation. Dieser geht freilich in eine bestimmte Richtung, indem anarchistische Vorstellungen und Organisationsweisen sich fortwährend ausbreiten.

Nach dieser Darstellung und einigen Diskussionen darum, muss ich nach wie vor sagen, dass ich Days Buch sehr inspirierend finde. Unter anderem wegen seiner anti-kolonialen Perspektive, wegen seiner zahlreichen Beispiele aus emanzipatorischen sozialen Bewegungen, aber auch, weil seine Theorie anarchistische Praktiken und Strategien sinnvoll erfassen kann. Gleichzeitig haben sich die Bedingungen seit 2005 ziemlich verändert. Heute ist das rechts-autoritäre Staatsprojekt eine wirkliche Gegenhegemonie, welche leider das Potenzial hat, eine neue Ordnung zu etablieren. Daraus folgt jedoch nicht der Umkehrschluss, dass es darum zwangsläufig eine linke Gegenhegemonie aufzubauen gilt. Zumindest nicht im alt hergebrachten Sinne. Dennoch braucht es eine Großerzählung, wo es hingegen und ein gemeinsames Projekt, welches dies realisieren kann. Das ist meiner Ansicht nach der libertäre Sozialismus.