Material: Anarchismus – Sozialismus?

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Mit diesem Schema wird deutlich, dass ich den Anarchismus als Hauptströmung des Sozialismus ansehe. Die leite ich einerseits aus der Ideengeschichte ab und andererseits aus der ethischen Wertebasis, die meiner Ansicht nach alle „echten“ Sozialist*innen teilen. Beispielsweise haben sich die anarchistischen in zahlrecihen Debatten und Streits innerhalb des sozialistischen Lagers entwickelt. Als sich der Anarchismus als eigenständige Strömung formierte, geschah dies, um die als ursprünglich angenommenen Organisationsvorstellungen (z.B. den Föderalismus, die Dezentralität) und die Grundanliegen (z.B. der Anti-Nationalismus, Selbstorganisation von unten) entgegen dem hierarchischen Prinzip von sozialistischen Parteien und ihrer Integration in die bestehende politische Ordnung zu verteidigen. John Holloway macht diese Unterscheidungen der Hauptströmungen des Sozialismus in Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen auf und ebenso Erik Olin Wright in Reale Utopien.

Dabei verändert sich die Definition der jeweiligen Strömungen selbstverständlich im Laufe der Zeit. Unsere heutige Vorstellung entspricht nicht mehr jener in der sich industrialisierenden Massengesellschaft,. mit ihrer starken Arbeiter*innenbewegung, anderen Formen der politischen Herrschaft usw.. Gleichzeitig könnte nicht mehr von Anarchismus gesprochen werden, wenn aus diesem eine politische Partei hervorginge.

In der Vergangenheit wie in der Gegenwart gab und gibt es zudem eine Vielzahl sozialistischer Strömungen. Diese können und sollten nicht alle dem Anarchismus zugeordnet werden, nur weil sie beispielsweise ebenfalls Parteien ablehnten oder für eine soziale Revolution im anarchistischen Sinne eintraten. Dies betrifft Rätekommunist*innen, den Gildensozialismus, progressive Lebensreformbewegungen und syndikalistische Gewerkschaftsotganisationen.

Unter Anarchist*innen gibt es dahingehend aber wieder mal einen Streit. Denn den Anarchismus als Teil des Sozialismus zu bestimmen, bedeutet von ihm zu sagen, er sei der radikale oder „linke“ Flügel des Sozialismus insgesamt – so meinte es etwa Peter Kropotkin und viele mit ihm. Dagegen wenden sich andere Anarchist*innen, welchen es wichtig ist, einen klaren Bruch mit der politischen Linken zu vollziehen, auch dort, wo sie „außerparlamentarisch“ organisiert ist.

Im Grunde genommen zieht sich diese Auseinandersetzung vom Streit zwischen Errico Malatesta (1897) und Luigi Galeani (1907) zu dem zwischen Murray Bookchin und Bob Black. Letzterer schrieb dazu das Buch Anarchy after Leftism (1997) und initiierte mit anderen eine Debatte um eine „Post-Linke Anarchie“. Gelegentlich erscheint diese Auseinandersetzung als eine zwischen „kollektivistischen“ und „individualistischen“ Anarchist*innen. Doch die Sache ist noch etwas komplizierter…

Auch wenn ich meine eigene Position dazu habe, scheint mir die Frage, wie Anarchist*innen und „Linke“ sich zueinander verhalten, eine fortwährend zu diskutierende und auszuhandelnde, somit also offene, Frage zu sein. Mich stellt weder die Antwort zufrieden, Anarchist*innen wären einfach Teil einer pluralistischen „Linken“, noch, dass sie es auf jeden Fall nicht sind (oder sein sollen). Antworten können dahingehend nur gefunden werden, wenn sie nicnht abstrakt, auf einer moralischen oder ideologischen Ebene geführt werden, sondern anhand konkreter sozialer Kämpfe, ausgehend von bestimmten Gruppen in spezifischen Kontexten. Unabhängig davon lässt aber sagen, dass der überwiegende Teil aller Anarchist*innen (ins Blaue hinein: 90%) von ihren Organisationsvorstellungen und Werten her als „sozialistisch“ bezeichnet werden können. Übrigens glaube ich, dies betrifft sogar die meisten derjenigen, welche bei so einer Aussage trotzig und wütend sagen werden: Ich gehöre zu den stolzen 10% und scheiße auf die gesellschaftliche Linke…