Seit langem nahm ich wieder einmal die Gitarre in die Hand und spielte das Lied der Machnowschina. Die ukrainische Bauern- und Arbeiterarmee kontrollierte zwischen 1918 und 1922 ein Drittel der heutigen südöstlichen Ukraine. Vor 100 Jahren wurde sie besiegt, ihre Anhänger*innen verstreut, inhaftiert, gefoltert und getötet. Dies maßgeblich von der roten Armee unter Trotzki. Genau jenes Gebiet ist auch heute schwer umkämpft. Die Auseinandersetzung findet jedoch nicht mehr zwischen der „weißen“ Armee des Zarenreiches, den westlichen Kolonialarmeen, der roten Armee und den Anarchist*innen statt, sondern zwischen den alten kapitalistischen Staaten des Westens und dem neueren staatlichen Kapitalismus Russlands. Da ist kein Lager, welches die Besitzenden enteignet, Land und Produktionsmittel umverteilt und die autonome Selbstverwaltung der Kommunen umsetzt.

Man kann die Machnowschina dahingehend kritisieren, dass ihre Anführenden Säufer waren und ihre Kämpfer vermutlich ebenfalls vergewaltigten, wie Volin im dritten Buch von Die unbekannte Revolution beschreibt. Im Übrigen erscheint auch aus diesem Grund die angeblich straighte Linie des späteren „Plattformismus“ fragwürdig. Wer vehement strenge Prinzipien und Disziplin fordert hat nicht zuletzt Angst vor der eigenen Verrohung, Unzuverlässigkeit und Verwirrung. Solche Kritik ist zu üben – und dennoch zu beachten, worin die Unterschiede bestehen im Vergleich zu regulären Armeen oder auch Verwaltungsapparaten diktatorialer und imperialer Nationalstaaten. Dass zahlreiche Menschen sich aus eigenem Antrieb erhoben und gegen die Fremdherrschaft – und damit auch gegen den sowjetischen Herrschaftsanspruch – kämpften ist jedoch ein Phänomen, welches auf einem ganz anderen Blatt steht.
Nestor Machno hatte unrecht. Die Anarchist*innen waren nicht zu schlecht organisiert und uneinheitlich, zu unverbindlich und zu pluralistisch. Sie waren vielmehr „zu“ anarchistisch organisiert und orientiert. Und diese Strukturen sind eben nicht auf die Beherrschung von Territorien und die Unterwerfung der Bevölkerung ausgerichtet, wie jene imperialer Nationalstaaten. In der militärischen Auseinandersetzung, der bürokratischen Verwaltung und der ideologischen Kriegsführung können sie daher auf lange Sicht nicht gegen effektive Herrschaftsordnungen bestehen. Ihre Vorzüge liegen allerdings in anderen Bereichen, weswegen nicht prinzipiell ausgeschlossen ist, dass sich ein großer Teil der Menschen eines Tages doch davon überzeugen lässt – was freilich wiederum Siege in Auseinandersetzungen zur Voraussetzung hat.
Dennoch war die Machnowschina zunächst enorm erfolgreich und bediente sich unter anderem mit als erste Armee der Bahn als unschlagbar schnelles Fortbewegungsmittel für die Truppenbewegung. (Der erste Krieg, in welchem die Eisenbahn eine Rolle spielte war jener zwischen Preußen und Österreich 1866). Ironischerweise wirkt dies wie eine Parallele zur heutigen Situation, die tatsächlich aber eine ganz andere ist. Das russische Regime ist weder das Zarenreich, noch die Sowjetunion, ebenso wenig wie die westlichen Mächte im alten Sinne Kolonialmächte sind. Weitergedacht könnte man damit auch die Frage aufwerfen: Wenn es heute keine anarchistische Machnowschina gibt und aufgrund historischer Umstände auch nicht geben kann, welche Rolle spielen Anarchist*innen dann heute? Am Beispiel: in der Ukraine. Übertragen und erweitert gedacht aber genauso in anderen Gegenden. Begreifen sie sich als eigene Macht, als eigene Strömung mit dem Anspruch Territorien, Diskurse, zumindest Subkulturen und Stadtviertel zu dominieren? Oder bleiben sie dem Sektenwesen oder der Selbstbezüglichkeit von Szenen verhaftet? Wollen und können sie zu einem eigenständigen und initiativer Akteur werden? Oder bleiben sie vor allem Getriebene von Faschismus, repressivem Klassenstaat, rechtem Zeitgeist und neoliberaler Elite?
Einen Versuch war und ist es wert. Deswegen ohne jede Verklärung hier der französische Text des im Exil geschriebenen Liedes zur Machnowschina:
Makhnovtchina, Makhnovtchina
Tes drapeaux sont noirs dans le vent
|: Ils sont noirs de notre peine
ils sont rouges de notre sang:|
Par les monts et par les plaines
dans la neige et dans le vent
|: À travers toute l’Ukraine
se levaient nos partisans:|
Au Printemps les traités de Lénine
Ont livré l’Ukraine aux Allemands
|:A l’automne la Makhnovtchina
Les avait jeté au vent:|
L’armée blanche de Denikine
est entrée en Ukraine en chantant
|:Mais bientôt la Makhnovtchina
l’a dispersée dans le vent:|
Makhnovtchina, Makhnovtchina
Armée noire de nos partisans
|:Qui combattait en Ukraine
contre les rouges et les blancs:|
Makhnovtchina, Makhnovtchina
Armée noire de nos partisans
|:Qui voulait chasser d’Ukraine
à jamais tous les tyrans:|
Makhnovtchina, Makhnovtchina
Tes drapeaux sont noirs dans le vent
|:Ils sont noirs de notre peine
ils sont rouges de notre sang:|