
Eine Rezension für das große Buch von Michael Schmidt und Lucien van der Walt (englisch 2009, deutsch 2013) brauche ich sicherlich nicht mehr schreiben, aber ja, ich habe es jetzt auch mal ganz gelesen. Ersterer Autor hat politisch ja etwas geirrlichtert, wie man so munkelt. Allerdings ging ich ohnehin davon aus, dass vor allem van der Walt das Werk geschrieben hat, zu welchem der angekündigte zweite Band, in welchem es um Syndikalismus weltweit gehen sollte, leider bisher nie erschienen ist.
Gut und beeindruckend an Schwarze Flamme ist die fundierte Recherche und der nachvollziehbare Argumentationsgang. Die Autoren stecken wirklich in den Debatten der jeweiligen Zeit drin. Syndikalismus wäre in der heutigen Welt mit ihrer armen, („eindeutig“ so zu benennenden) Arbeiter*innenklasse von mehr als 2 Milliarden Menschen und den entsprechenden eklatanten Vermögens- und Machtunterschieden der Klassen im 21. Jahrhundert eine relevante Bewegung. Was jedoch weitgehend vergessen worden wäre, sei die Geschichte des Syndikalismus, weswegen Schmidt und van der Walt ein vorrangig historisches Buch schreiben wollten. Dabei gälte es insbesondere an die „glorreiche“ Zeit des Syndikalismus zwischen 1890 und 1920 zu erinnern. – So weit, so verständlich. Gegen die historische Betrachtung habe ich nichts und zweifellos lässt sich aus vergangenen Debatten und Erfahrungen viel für die heutige Praxis lernen. Zu viel wird immer wieder vergessen und verdreht. Zugleich finde ich die Herangehensweise dahingehend schwierig, als das sie ihren Gegenstand meiner Ansicht nach als angestaubt konserviert und ihn als Sozialromantik konserviert. Wie viele Mitglieder welche syndikalistische Gewerkschaft hier und da irgendwann hatte – meine Güte, ich kann es nicht mehr hören! In gewisser Hinsicht bilden die Autoren damit allerdings tatsächlich den theoretischen Stand des Syndikalismus ab. Eine neue große Geschichte, kann nur geschrieben werden, wenn sie sich auf die alte bezieht, aber auch aus ihre herausschält.
Dazu trägt dann verständlicherweise auch die Weise der Darstellung bei. Van der Walt/ Schmidt skizzieren dahingehend eine „broad anarchist tradition“ welche „Massenanarchismus“, „Insurrektionalismus“ und „Syndikalismus“ umfasse. Letzterer sei dabei noch mal in verschiedene Unterströmungen zu unterscheiden, hauptsächlich in den Anarcho-Syndikalismus, den „revolutionären Syndikalismus“ und den „rank-and-file“-Syndikalismus. Diese Tradition gehe im Wesentlichen auf Bakunin und Kropotkin zurück, meinen die Autoren. Sicherlich waren beide wichtige Figuren, Bakunin ein Protagonist in der internationalen Organisierung und Kropotkin einer der bedeutendsten anarchistischen Theoretiker. Zu unterstellen, dass Bakunin jedoch im Grunde genommen schon syndikalistisch orientiert gewesen wäre, halte ich für einen Mythos. Die Autoren machen deutlich, dass es schon vor der Entstehung der CGT ab den 1890ern eine erste syndikalistische Welle in den 1870er und 1880ern gegeben hätte. Dies mag sein, doch das Bakunin darin eine Rolle gespielt hätte, glaube ich nicht und habe den Eindruck, dass hier ziemlich etwas zurecht gestutzt wird.
So „breit“ ist die Tradition dann allerdings tatsächlich auch gar nicht. Zwar stimmt es sicherlich, die anarchistisch orientierten, organisierten Arbeiter*innen, zahlenmäßig die weit größte Fraktion innerhalb es anarchistischen Spektrums bildeten. Davon Godwin, Stirner, Tolstoi und Tucker kategorisch auszuschließen halte ich jedoch für Schwachsinn. Dabei stimmt es – alle drei waren sicherlich periphere Figuren innerhalb organisierter anarchistischer Zusammenhänge. Godwin kann wenn dann als Vorläufer des Anarchismus angesehen werden, Stirner eher als Inspirationsquelle – nicht nur für ausgewiesenen egoistische Individualist*innen. Und Tolstoi wirkte wohl kaum „politisch“ oder gar „gewerkschaftlich“, sondern kulturell und als Pädagoge. Was Tucker angeht, weichen dessen Vorstellung sicherlich von einem „klassenkämpferischen“ Standpunkt ab – dies mindert jedoch keineswegs, dass er Klassen und Lohnarbeit als wesentliche Probleme ansah, die es mit mutualistischen Verbänden zu überwinden gälte. Damit geht er zwar nicht von der gleichen Position wie Syndikalist*innen aus, jene haben in der Regel jedoch wohl kaum etwas gegen Genossenschaften und dergleichen einzuwenden…
Van der Walts und Schmidts Argument ist, wenn eine solche Darstellung des Anarchismus vorgelegt werde – wie sie 1900 schon Paul Eltzbacher aufmachte – müsste der Anarchismus zwangsläufig als inkohärent und diffus erscheinen. Dagegen wollte sie eine Bewegungsgeschichte schreiben, die von den vorhandenen Organisationen, Debatten und Aktionen der Arbeiter*innenklasse ausginge, wobei letztere übrigens weit zu fassen sei und insbesondere auch die Bauern, andere lohnabhängigen Klassen und proletarische Klassen außerhalb formeller Lohnarbeit umfasse. Insofern macht es zunächst den Anschein, als wäre die Eingrenzung und Öffnung (Richtung IWW und „DeLeonismus“) des Anarchismus plausibel. Meine Frage ist jedoch, warum die Autoren sie derart krampfhaft vornehmen (weil sie sich immer wieder in Begründungsversuche und Wiederholungen verstricken). Mein Eindruck ist, dass sich ihre Behauptung der einer broad anarchist tradition, wie sie diese aufmachen, schlichtweg nicht haltbar ist. Anstatt sich damit auseinander zu setzen, dass der Anarchismus heterogen und teilweise auch widersprüchlich ist, konstruieren sie eine vermeintlich klare und einheitliche Bewegung, welche es in dieser Form nicht gab. Die gilt auch, wenn sie aufzeigen und deutlich machen, dass einige Vertreter des „Massenanarchismus“ den Syndikalismus ablehnten, während umgekehrt nicht alle Syndikalist*innen explizit anarchistisch orientiert wären. Oder, wenn van der Walt/Schmidt explizit dem Insurrektionalismus, welcher insbesondere zwischen 1870 und 1880 stark war, als anarchistische Strömung benennen, die den Syndikalismus ebenfalls verwarf, was sich jedoch nicht primär an der Gewaltfrage festmachte.
Wie leider noch zu viele Anhänger des Syndikalismus begehen van der Walt und Schmidt daher meiner Ansicht nach einen fundamentalen Fehler: Sie behaupten eine Darstellung der „tatsächlichen“ Geschichte zu betreiben und eine „reine Praxis“ abzubilden und fetischisieren jene bedauerlicherweise derart, dass sie bei einer „Ideologie der Praxis“ anlangen. Und da hätten wir sie dann wieder die so und so viel tausende von Mitgliedern, die syndikalistische Gewerkschaften anno dazu mal hatten, ihre kämpferische Haltung, ihre direkten Aktionen, ihre Netzwerke aus weit verzweigten Gegeninstitutionen und ihre gelebte Gegenkultur. Doch Schein und Sein divergieren leider immer und dies kann auch in diesem Fall unterstellt werden. Ja, wir sehen nicht die vielen tausende von Menschen, die sich täglich in der Klassengesellschaft zurechtfinden müssen, gewerkschaftlich organisiert und auch an Arbeitskämpfen beteiligt sind, das stimmt. Hier gilt es hinzuschauen und mitzudenken, dass untergründig immer mehr geschieht, als oberflächlich wahrgenommen wird. Und das die eigentlich radikalen und verändernden Prozesse in der Regel aus unspektakulärem Alltagshandeln hervorgehen. Umgekehrt lässt sich aber auch fragen, wer in der Massenorganisation denn wirklich aktiv war, wer die leitenden Figuren waren, wer sich zu welchem Grad eingebracht hat. Ja, dann schlossen sich scharenweise Arbeiter*innen dem Anarcho-Syndikalismus an. Nach einer Debatte stimmten sie dafür und dann waren es halt gleich mal 500 an einem Ort oder aus einem Betrieb. Wer aber wirklich von diesen Leuten aktiv war und überhaupt sein konnte, lässt sich dann vielleicht aber doch wieder an einer Hand abzählen.
Ähnliches gilt übrigens auch für die unterstellte „antirassistische“, „feministische“ und „internationalistische“ Orientierung des Syndikalismus. Ja, das sind sicherlich die Ansprüche, welche führende Personen, möglicherweise auch nach kontroversen Debatten, in ihre Programme aufnahmen, als Ansprüche, an denen sie sich orientierten. Doch das formelle Programm ist eben nicht einfach Wirklichkeit, die Ansprüche werden nicht einfach von allen Mitgliedern in einer Massenorganisation geteilt, auch wenn es durch die entsprechenden Bildungsprogramme und die gemeinsamen Kämpfe schon mal gute Voraussetzungen gibt, dass sie davon möglichst viel mitbekommen. Worauf ich hinaus will, ist, dass Darstellung, welche die hauptsächlich aus Quellentexten abgeleiteten Selbstbeschreibungen resultieren, notwendigerweise auch ihre Grenzen haben. Es spricht ja überhaupt nichts dagegen ein kraftvolles und Mut machendes Buch zu schreiben, dass auch aus glorreichen Zeiten schöpft. Schwierig ist es jedoch, wenn zwei Denker schreiben, was „der“ Syndikalismus „immer schon“ war, ist und sein soll. Der eigene Anspruch, das Wissen aus der Praxis der wirklichen Bewegung zu generieren wird damit nämlich zu Teilen untergraben.
Interessant ist unter anderem noch, dass sie die Frage nach einer „militanten Minderheit“ ausführlich im achten Kapitel besprechen, also die Frage, ob und wenn ja welche anarchistischen politischen Organisationen es braucht. Sie stellen dabei dar, dass es klarerweise die Ablehnung jeglicher politischer Organisationen durch die Insurrektionalist*innen gab. Hiergegen kann eingewandt werden, dass es eine grundlegende Fehlannahme ist, aus formeller Organisation gingen automatisch Hierarchien hervor und das ein Netzwerk von Affinitätsgruppen (wenn es tatsächlich als informelle Struktur vorhanden ist und nicht nur fiktiv in den Wunschvorstellungen einiger Leute) ja ebenfalls eine Form politischer Organisation sei. Aber auch viele Syndikalist*innen meinten, dass die der Syndikalismus „sich selbst genüge“ und keine expliziten politischen Organisationen brauche. Dies Haltung resultierte aus der Ablehnung des „politischen“ Sozialismus in Form von politischen Parteien, Parlamentarismus und die Orientierung auf den Staat. Van der Walt und Schmidt halten mit den Argumenten verschiedener Quellentexte dagegen und meinen, wenn „politische Fragen“ vollständig ignoriert werden würden, liefe dies zwangsläufig darauf hinaus, dass auch eine autonome Gewerkschaftsbewegung wieder von Partei dominiert werden würde und eben nicht zugleich ökonomische und „politische“ Kämpfe in sich vereinen könnte. Dagegen insistierten verschiedene Protagonisten des Syndikalismus wie beispielsweise Rudolf Rocker darauf, dass – entgegen marxistischer Unterstellungen und Diffamierungen – Syndikalist*innen sehr wohl auch politische Kämpfe führen, eine Analyse des Staates haben, den sie darum als Struktur grundlegend ablehnten, aber Reformen nicht grundlegend verwarfen, wenn sie durch Kämpfe einer autonomen Arbeiter*innenbewegung erzwungen werden konnten.
Schließlich lehnen van der Walt und Schmidt naheliegenderweise auch die anarchistische Synthese ab mit den Argumenten, sie könnte nur diffuse Organisationen, Positionen und Analysen hervorbringen, also niemals ernstzunehmende Kämpfe und eine klare Perspektive, wo es hingehen kann. Der Versuch, Positionen und Stile zu vereinen, die sich einfach nicht vereinen ließe, führe notwendigerweise zu Inkonsistenz und Handlungsunfähigkeit. Abgesehen davon spräche überhaupt nichts dagegen, dass Anarchist*innen auch gemeinsame Programme, Analysen und Strategien annehmen könnten. Theoretisch vielleicht nicht. Praktisch aber offensichtlich schon, ob es einem gefällt oder nicht. Es nimmt daher nicht Wunder, dass die Fans des Syndikalismus auch mit dem Plattformismus liebäugeln, damit also die Ansprüche, welche sie auf andere projizieren, durch eine dogmatische und ideologisch-verblendete Herangehensweise durchzudrücken versuchen. Da dieser Versuch historisch immer wieder gescheitert ist, führt dieser Weg schlussendlich zur Abkehr vom Anarchismus und damit entweder zu leninistischen Kadergruppen, reiner Gewerkschaftsarbeit oder – in seltenen, aber den schlimmsten Fällen – zum Faschismus.
Abschließend: Ich bin mit den Autoren von „Schwarze Flamme“ vielleicht etwas zu hart ins Gericht gegangen. Das war jedoch weit milder, als sie meine Position aburteilen würden. Selbstverständlich schätze ich das Buch auch für seine fundierten Recherchen und Seitenstränge, die einen tiefen Eindruck von syndikalistischen Debatten und Geschichten geben – weswegen es durchaus als Standardwerk für den Anarcho-Syndikalismus gelten kann. Meine ziemlich frei formulierten Kritikpunkte müsste ich wahrscheinlich an anderer Stelle näher ausführen.