Tatsächlich war mir nicht bewusst, dass einige Genoss*innen beider Fraktionen einen Gegensatz zwischen (Queer-)Feminismus und Klassenkampf sehen wollen. In der jüngeren Zeit lässt sich eine Ausdifferenzierung der verschiedenen Lager feststellen, was seine Gründe und Folgen, seine Vor- und Nachteile hat. An sich stellt es aber kein Problem dar, dass verschiedene Gruppen und Personen sich auf die Themen konzentrieren, welche ihnen besonders wichtig sind. Im Gegenteil, dies kann auch zu einer gegenseitigen Bereicherung und Bestärkung führen, wenn sich die jeweiligen Fraktionen auch solidarisch und konstruktiv aufeinander beziehen.
Bedauerlicherweise scheint dies in der Realität nicht so einfach zu sein. Die unterschiedlichen Schwerpunkte ergeben sich jedoch nicht aus verschiedenen ideologischen Positionen, sondern aus den Erfahrungen, Kontakten und der Subjektivität der jeweiligen Menschen und Zusammenhänge. Mit anderen Worten: Was eine*r persönlich begegnet und wichtig erscheint wird dann auch im (anti-)politischen Kampf betont und eingefordert. Und dies völlig zurecht. Warum sollte mensch also behaupten, dass entweder Klassenkampf oder (Queer-)Feminismus die entscheidenden Kampffelder sind?
Der Anarchismus lebt vor allem davon, dass aus ihm Perspektiven auf alle gesellschaftlichen Fragen und Probleme abgeleitet werden können. Das bedeutet umgekehrt nicht, dass jede einzelne Person sich mit allen Themen gleichermaßen beschäftigen könnte oder sollte. Weil unsere Kapazitäten begrenzt sind, können wir uns nur bestimmten Themenfeldern widmen, begrenzte Aktionen planen und uns nur in einigen sozialen Zusammenhängen organisieren. Entscheidend ist deswegen, dass es Anarchist*innen verschiedener Fraktionen eine respektvolle, solidarische und konstruktive Haltung zueinander entwickeln und sich zumindest regelmäßig verständigen und austauschen. Wo es sich ergibt, können dann im besten Fall auch gemeinsame Aktionen durchgeführt werden.
Gewerkschafts- oder Stadtteilarbeit nimmt ebenso viel Zeit und Kraft in Anspruch, wie die Auseinandersetzung mit patriarchalen Strukturen und das Voranbringen (pro-)feministischer Anliegen. Radikal-ökologische Kämpfe bilden aktuell ferner ein drittes großes Lager, welches ebenso mit den ersteren verknüpft ist. Einen „rein“ klassenkämpferischen Ansatz kann es im Anarchismus ebenso wenig geben, wie ein rein anarcha-feministischer oder ein ausschließlich ökoanarchistischer Ansatz. Auch wenn unterschiedliche Personen und Gruppen verschiedene Schwerpunkte setzen und damit teilweise andere Erfahrungen machen, Stile und Aktionsformen entwickeln, hängen diese und andere Themen für das Vorhaben umfassender Emanzipation unbedingt zusammen.
Damit möchte ich nicht sagen, dass es keine Konflikte zwischen den Lagern gibt oder geben sollte. Entscheidend ist, wie sie ausgetragen werden. Hier können die jeweiligen Fraktionen aber auch voneinander lernen. Somit meine ich, dass die Bezeichnung „klassenkämpferisch“ zu einer bloßen ideologischen Phrase verkommen kann, ebenso wie der Queer-Feminismus in einer liberalen Denktradition verbleiben kann. Wenn Menschen sich ihrer eigenen Positionen und Aktivititäten nur versichern können, indem sie jene von anderen abwerten, offenbart dies, dass sie sich ihrer eigenen Annahmen gar nicht so sicher sein können…
Es gilt daher weiter darüber nachzudenken, was expliziter Anarch@-Syndikalismus und Anarcha-Feminismus in Verbindung und Abgrenzung zu anderen klassenkämpferischen oder feministischen Ansätzen umfassen. Eine solche Debatte wäre wiederum die Grundlage, beide sinnvoll aufeinander beziehen zu können und miteinander zu wachsen.