
Wie so viele hatte mich vor Jahren Horst Stowassers Leben ohne Chef und Staat. Träume und Wirklichkeit der Anarchisten sehr inspiriert. Das 1986 im Eichborn-Verlag erschienene Buch beinhaltet sieben Auszüge aus der der anarchistischen Praxis. Von der Machno-Bewegung, dem Attentäter Simón Radowitzky in Argentien, dem Pöbel-Agitator Johann Most, südamerikanischen anarchistischen Kommunen, spanischen Enteignern um Buenaventura Durruti, Arbeitskämpfen der Bergarbeiter in Düsseldorf 1920 bis hin zum zeitgenössischen Anarchismus in Mexiko, zeichnet Stowasser verschiedene Beispiele der anarchistischen Wirklichkeit nach. Und dies tut er auf eine lebendige Weise, indem er jeweils zunächst eine „Story“ (beziehungsweise „Anekdoten“) präsentiert, auf den historischen Kontext eingeht und dann – etwas altbacken – eine „Moral“ aus der jeweiligen Geschichte ableitet. Auch wenn er mit dem Buch explizit keinem wissenschaftlichen Anspruch genügen will, verweist Stowasser dazu auf zahlreiche Quellen, die er bis zu Letzt im von ihm gegründeten „Anarchiv“ in Wetzlar sammelte. Wie kaum ein anderer trug Stowasser in den von den 70er bis zu den 2000er Jahren zur Pflege und Weiterentwicklung des anarchistischen Erbes bei und inspirierte damit zahlreiche Menschen. So wurde auch sein Buch Freiheit pur. Die Idee der Anarchie, Geschichte und Zukunft (1995) zu einem wichtigen Grundlagenwerk des Anarchismus im deutschsprachigen Raum (2007 neu herausgegeben unter dem Titel Anarchie! – Idee, Geschichte, Perspektiven [kostenloser Download hier]).
Stowasser war auch als Mitentwickler des sogenannten „Projektanarchismus“ bekannt mit dem er „Wege aus dem Szene-Ghetto“ finden wollte. Er versuchte bis zu seinem Lebensende in der Kommune WEPSE in Neustadt an der Weinstraße seine Vorstellungen umzusetzen, um deutlich zu machen, dass Anarchie eine äußerst praktische Angelegenheit ist.
Im vorliegenden Buch fand ich persönlich damals insbesondere das Kapitel Der Plüschsessel zu Johann Most sehr spannend.
Interessant ist auch seine realistisch-optimistische Herangehensweise, die schon in der Einleitung zum Ausdruck kommt, wo der Anarchist*innen als die „lachenden Verlierer“ darstellt. Abgesehen davon, dass ich selbst Anarchismus nicht hauptsächlich anhand von „Ideen“ messe, lohnt sich ein kleiner Auszug aus den ersten Zeilen. Dort heißt es:
„Seit gut 150 Jahren stapfen sie nun schon unverdrossen durch die Weltgeschichte, die Anarchisten. Gehaßt und gefürchtet, verfolgt und immer wieder geschlagen – erreicht haben sei bei alldem wenig. Zumindest nicht das, was ihr höchstes Ziel ist: eine herrschaftslose Gesellschaft , eine glückliche Idylle ohne Staat und Unterdrückung, dafür mit jeder Menge Phantasie, Lust und einem Maximum an Freiheit. Man könnte sie für weltfremde Spinner halten – das sind sie aber nicht. Ihre optimistische Vision eines Lebens ohne die Herrschaft des Menschen über den Menschen ist möglicherweise sogar die einzig realistische, wenn unsere Gattung auf diesem Planeten überleben will. Betrachtet man die Geschichte als Bilanz von Erfolg und Niederlage, so sind die Anarchisten die großen Verlierer. Ihre hochfliegenden Projekte, ihre Hoffnungen, die Millionen von menschen zu begeistern vermochten, wurden wieder und wieder vernichtet. Mit Gewalt, mit Brutalität und auch immer mit einer gehörigen Portion Zynismus. Träume wurden so zu Schutt und Asche, Tränen blieben anstelle von Hoffnungen. Aber kaputt zu kriegen waren sie nie. Sie sind zäh. Sie sind anpassungsfähig. Und sie ließen sich nie verbittern; ihr Glaube an ein freies Leben, ihre Überzeugung von der Kraft des Guten in der Gesellschaft war stets überlebensfähiger als alle Unterdrückung, all die Massaker und Abscheulichkeiten, die sich Herrschende immer wieder ausdachten, um sie endgültig zu erledigen. […] Es stimmt, bisher haben die Anarchisten verloren, aber sie haben nie aufgegeben. Sie sind immer wieder aufgestanden, sie haben gelernt, und – sie lachen immer noch. Sie sind lachende Verlierer, die an ihrer bitteren Geschichte nicht verzweifelt sind. Ihre Zukunft – die Zukunft ihrer Ideen – liegt noch vor ihnen. Sie haben sich nicht verhärten lassen durch harte Zeiten; noch immer arbeiten sie daran, aus der Utopie eine Topie zu machen, die Träume aus den Wolken auf die Erde zu holen. Das macht sie so sympathisch. Es ist vielleicht auch der Grund, weshalb sie lachen – immer noch. […]
Der Anarchismus ist eine idee, die radikal alles in Frage stellt – auch sich selbst – und deren schonungslose Kritik vor nichts haltmacht. Auch nicht vor linken Mythen, heiligen Kühen und kapitalistischen Tabus. So sitzt denn der Anarchist so ziemlich zwischen allen Stühlen die es gibt und zieht sich den Haß aller auf den Hals, die Unfreiheit und Unterdrückung brauchen – und die gibt es bekanntlich rechts wie links, oben wie unten. Dabei ist die Idee des Anarchismus ganz einfach und mit einem Satz erzählt. Anarchie ist, wenn kein Menschen über den anderen herrscht. Basta. […] Das klingt ja alles ganz nett, sagen wohlwollende Kritiker, und: wer will das schließlich nicht? Aber es ist leider unmöglich, der Mensch ist nun mal schlecht und kann ohne Autorität nicht leben. Anarchisten sind aber so verstockt, daß sie tatsächlich das Gegenteil behaupten: der Mensch geht ohne Herrschaft nicht zugrunde. Mehr noch – er bleibt nicht nur am Leben, sondern er lebt sogar besser ohne Chef und Staat. ‚Besser‘, das kann man auch mit Inhalt füllen: freier, menschlicher, ökologischer, sozialer, glücklicher. Und nicht nur das – Anarchisten gehen noch weiter. Sie haben es gar nicht nötig zu behaupten, daß dies alles theoretisch möglich sei, sie könnten mit Recht darauf verweisen, daß all dies schon möglich war. […]
Dieses Buch handelt also von Träumen und Realität – und auch von der Lücke, die zwischen beiden klafft. Denn: ein Propagandabuch wollte ich nicht schreiben. Ich sagte schon: der Anarchismus stellt alles radikal in Frage, auch sich selbst. Darum ist es von jeher eine anarchistische Tugend gewesen, die eigenen Fehler und Unzulänglichkeiten nicht unter den Tisch zu kehren. Nur arrogante Schnösel oder akademische Scholastiker können von den Anarchisten ernsthaft erwarten, daß sie in Theorie und Praxis eine Gesellschaft liefern, die ohne Widersprüche ist. Eine Gesellschaft ohne, in der nicht das geringste Unrecht, kein Rest von Gewalt, keine Spuren von Kriminalität und kein Anflug von Traurigkeit zurückbleiben. Das alles wird auch eine anarchistische Gesellschaft nicht bieten können. Die Anarchie ist kein perfektes Paradies, auch dort wird es Aggressionen und Eifersucht, Eitelkeiten und Kriminalität geben. Die Frage ist nur, wieviel davon und wie man damit umgeht. Die Forderung der Staatsverfechter, die Anarchisten müßten eine makellos glückliche Gesellschaft bieten können oder aber den Mund halten, ist angesichts des weltweiten staatlichen Chaos, in dem täglich Tausende verhungern und Unrecht oftmals Gesetz ist, eine schlichte Frechheit. […]
Die Experimente der Anarchisten von gestern zu kennen, ihre Hoffnungen und Enttäuschungen, ihre Siege und Fehler, ist Voraussetzung dafür, daß wir morgen vielleicht in einer Gesellschaft leben können, in der soziale Gerechtigkeit und Freiheit verwirklicht sind. Und das scheint, bei all den verhängnisvollen Sackgassen in die staatliche Politik in Ost und West gleichermaßen hineintreibt, immer mehr auch zu einer Frage des bloßen Überlebens zu werden.“ (S. 6-12).
