Gedankenfetzen auf den letzten Metern

Lesedauer: 4 Minuten

Jetzt nicht durchdrehen. Auf den letzten Metern nicht irre werden. Die Nerven zusammen nehmen, bei allem was nervt. Die Störung produktiv, aber ohne Leistungszwang, achtsam, aber ohne neoliberales Wundenstopfen, ehrlich, aber mit dem erreichten Selbstbewusstsein, in das Projekt, das Ding kanalisieren. Da habe ich was erschaffen. Auf den letzten Metern laufen da unterschwellig schwer greifbare Gefühle mit, wenn es daran geht, eine viereinhalb jährige Lebensphase abzuschließen. Und gleichzeitig ist das völlig unspektakulär. Du machst fertig, was du fertig machen kannst, dann druckst du es, dann reichst du es ein – und damit ist es gut.

Normalerweise liest ja kaum wer diese Arbeit selbst und darum geht es auch nicht. Was du siehst und auf Papier bringst ist zwar Ausdruck deines Denkens, Könnens, Wissens. Worum es aber eigentlich geht ist etwas anderes: Das neuronale Netzwerk, was du in den letzten Jahren und vorher geformt hast – und die Person, die du dadurch geworden bist. Und ja, es ist ein Reiz am intellektuellen wie auch am handwerklichen Arbeiten, in die erschaffenen Produkte ein gutes Stück seiner Selbst zu legen – und sich damit selbst zu schaffen. So gut es unter den Anforderungen und der Gesellschaft, in der wir leben geht, selbstbestimmt.

Um meine Selbstbestimmung, Leidenschaft und Konzentration für dieses Buch aufzubringen, habe ich sie in anderen Bereichen meines Lebens sehr stark zurückgestellt. Für diese Tätigkeit ist das auch zu einem gewissen Grad erforderlich, bzw. wann tue ich es denn nicht, hat ja auch was mit mir selbst zu tun. Aber da ich gleichzeitig viele andere Dinge getan habe, von anderen Konflikten belastet war, Verlassenheit und Erniedrigung aushalten musste, zwischendrin neu anzufangen begonnen habe, war es einfach verdammt anstrengend. Und das ist ja das vor allem das Schöne, worauf ich mich freue: Dass ich auch nervös bin vor Aufregung, was geschehen mag. Denn die Zukunft ist offen.

Und so schwanke ich dann auch wie eh und jäh zwischen der Ambition, mich endlich vernünftig um mich selbst zu kümmern. Vielleicht einen Job zu kriegen, vielleicht ein geregeltes und schönes Wohnumfeld, vielleicht in fester Liebesbeziehung zu sein, mich vielleicht für eine Stadt zu entscheiden, vielleicht langfristig an einer (anti-)politischen Gruppe zu bauen. Und dann gibt es die chaotische Seite in mir, die danach giert, alles abzubrechen, einfach auszubrechen, einfach los zu ziehen, auf Abenteuerreise zu gehen und das Leben auszukosten, solange ich noch eine Weile diesen Traum leben darf und kann. Dass meint nicht notwendigerweise, tatsächlich zu reisen. Aber eben unterwegs, ohne feste Bleibe und ohne Plan zu bleiben.

Kein Wunder, dass ihr auf den letzten Metern noch mal reinkommt, ihr beiden: Ordnung und Chaos. Und der Konflikt zwischen euch. Denn das war immer mein Thema und ist es für viele Anarchist*innen, denen ich begegnet bin: Wie kann ich mir eine Ordnung schaffen, die nicht einschränkend ist, sondern ermöglichend, einbeziehend und prozesshaft-offen? Wie kann ich das kreative Chaos auskosten, mich der Unsicherheit, Ungebundenheit und Heimatlosigkeit hingeben, ohne mich dabei zu verlieren, sondern selbstbestimmt und selbstbewusst bleiben, sein und werden zu können? Ich bewundere Menschen, die einen ähnlichen Konflikt in sich tragen und Antworten für sich gefunden haben, vor allem aber wissen, wie sie den Rahmen einrichten, um ihren eigenen Film des Lebens auf eine gute Weise fahren zu können. Doch wer dahingehend von sich – vor der Zeit – behauptet, vollständig im reinen zu sein, nicht mehr auf der Suche zu sein, vollkommen in sich und außer sich sein zu können, der glaube und traue ich nicht.

Da kenne ich eine Person, die kommt nie aus ihrer Kleinstadt raus und zwei, die am liebsten in ihren Wohnungen bleiben. Ich kenne jemanden, die ist in ihrer Umgebung ganz oft unter Leuten und wäre dennoch ohne ihre romantische Nahbeziehung vollkommen verloren. – Das sind Lebensformen, die ich nicht nachvollziehen kann. Dann kenne ich Menschen, die sich von einem zum nächsten stürzen, dabei meistens dreivierfünf Dinge gleichzeitig verfolgen, mal hier mal dort sind – und das auf eine extreme Weise. Sie lassen sich nicht greifen – laufen zum Teil sicherlich aber auch vor sich selbst davon, vor der Vorstellung geerdet und verortet zu sein, weil Stillstand für sie Tod bedeutet.

Sich mit anderen zu vergleichen und sich danach zu bewerten, bringt nie etwas. Abgesehen davon, dass wir dazu angehalten werden, weil wir uns in gesellschaftlichen Hierarchien bewegen (sei es in Konkurrenz um Lohnarbeit, Bestätigung oder Sexualkontakten) und das wir als soziale Wesen immer einen Blick darauf haben müssen (und sollten), was die anderen so treiben und bewegen – was sie antreibt und bewegt – geht es am Ende immer darum, bei sich einzukehren und von sich selbst aus offen zu bleiben und rausgehen zu können. Auch das macht sich nicht zwangsläufig an Orten und Räumen fest, sondern ist eine geformte, subjektive Eigenschaft. Ja, vielleicht meine ich auch zum Teil dieses ausgelutschte Wort der Selbstfindung – und merke daran, wie das bürgerliche Subjekt wieder mal um sich selbst kreist.

Es bleibt schwierig einen Platz im Kosmos zu finden und ihn im eigenen Bezugssystem sinnhaft zu deuten, wenn man zugleich religiösen und philosophischen Deutungsmustern zurecht gegenüber skeptisch ist. Weil es sich eben um externe Sinn-Systeme handelt – und damit immer die Frage verbunden ist, wer einen wohin zieht in welches Weltbild. Den eigenen Sinn zu finden, sich selbst Sinn zu geben, ist eine menschliche Fähigkeit, deren Voraussetzungen alle Menschen haben sollten (was heute längst nicht so ist). In einer liebrtär-sozialistischen Gesellschaftsform würde sich dies wiederum nicht als das Kreisen des bürgerlichen Subjekts um sich selbst konstituieren, sondern als ein gemeinsamer Prozess um die eigene und bewusste Schaffung symbolisch-imaginärer Strukturen in unserem kollektiven Bewusstsein.

Und das führt dann wieder zum Problem zurück, dass unsere individuelle und die menschliche Existenz generell begrenzt ist und wir deswegen auf externe Deutungsmuster angewiesen sind, ja unsere eigene Existenz ohne diese gar nicht denkbar wäre. Letztendlich sind alles soziale Beziehungen und geht es darum, wie wir das was zwischen uns ist, darstellen, beschreiben und vor allem gestalten. Ebenso wie sich ökonomische, politische und juristische Formen und Institutionen in Selbstverwaltung überführen lassen, können Menschen kollektiv, bewusst und in prozesshafter Aushandlung, die für sie geltende bzw. von ihnen geteilte Ethik und Spiritualität einrichten und gestalten. Die Frage: Wie wollen wir leben und sein?, wird damit zur sozial-revolutionären Perspektive.

Jetzt aber in diesem Zustand ans Werk! Chaos und Ordnung, ihr beiden, zeigt mir noch einmal, wie euer Konflikt Früchte trägt! Ich bin gespannt wie ein Flitzebogen 😉