In diesem Jahr fanden drei größere anarchistische Demonstrationen in der BRD statt und zwar in Dortmund mit etwa 1000 und in Hamburg und Leipzig mit je über 600 Teilnehmenden. Während es in Dortmund seit 2015 eine Demo zum ersten Mai gibt, wurde an diese Tradition in Hamburg erst vor vier Jahren und in diesem Jahr in Leipzig zum ersten Mal angeknüpft. Darüber hinaus wurden weitere Zusammenkünfte in anderen Städten wiederholt wie die anarchistische Kundgebung zum ersten Mai in Dresden oder der autonome erste Mai in Wuppertal. Auch in Münster oder Stuttgart versammelten sich Anarchist*innen, um ihre Anliegen auf die Straße zu tragen. Während diese stark von Mitgliedern der FAU getragen wurden, beteiligte sich das Leipziger Syndikat explizit nicht an den anarchistischen Tagen oder offiziell an der Demo. Auch der „autonome“ Charakter der Demo in Hamburg unterschied sich von dem einer Jugendbewegung in Dortmund. Den Preis für das kreativste Motto gewann sicherlich Hamburg mit dem Slogan „Verboten gut – Anarchismus in die Offensive“. Was Leipzig angeht war das Motto „Heraus zum anarchistischen ersten Mai“ sicherlich ein gutes Kick-off. Und „Für ein Zukunft ohne Krisen“ ist sicherlich ein guter, umfassender Anspruch, der in Dortmund formuliert wurde.

Der Zuspruch, den die Versammlungen erfahren haben verdeutlicht, dass sowohl das Interesse als auch das Potenzial besteht, eigenständige anarchistische Veranstaltungen zum ersten Mai durchzuführen. Statt langweiliger Traditionspflege sollten diese auf die eine oder andere Weise eine kämpferische Haltung zum Ausdruck bringen, nach außen tragen, wofür Anarchist*innen stehen und auch Diskussionsprozesse in der Szene selbst voranbringen. Dies ist meines Erachtens nach weit mehr wert als die Beteiligung an sonst wie gearteten „revolutionären“ ersten Mai-Demos, die den Riot-Tourist*innen gefallen mögen, aber letztendlich keine Inhalte transportieren.
Selbstverständlich gibt es sehr unterschiedliche Ansichten darüber, wozu eine Demo dient und was als adäquater Ausdruck für eine kämpferische Haltung gegen die bestehende Herrschaftsordnung angesehen wird. Dass die Teilnehmenden sich nicht von der Polizei gängeln, schickanieren und vorab kriminalisieren lassen wollen und sich dagegen wehren, versteht sich denke ich von selbst. Wenn beispielsweise in Leipzig 500 Cops vor Ort eingesetzt werden und dies als Höhepunkt an ihrer Präsenz an diesem Tag in Sachsen verstanden wird, zeigt dies vor allem eines: Dass sich hier schon die richtigen Leute versammeln. In dem Sinne, dass sie eben ganz im Unterschied zu den autoritär-kommunistischen Bündnissen aller kruden Splittergruppierungen – mit ihrer Arbeiter*innenfolklore, ihrem Geschichtsrevisionismus und ihrer hierarchischen Führung – die Herrschaftsordnung als Ganzes überwinden wollen.
Trotzdem nervt es mit zweireihiger Bullenbegleitung unterwegs zu sein, permanent abgefilmt zu werden, wenn medizinische Masken als Vermummungsgegenstand bewertet werden, auf dem Weg zur Demo kontrolliert zu werden etc.. Denn dadurch fühlen sich Menschen bedroht und das zurecht mit bestimmten Erfahrungen im Hintergrund. Außerdem erzeugt dies einen weit martialischeren Eindruck von den Teilnehmenden, als dies angemessen ist. In jedem Fall bestand die Taktik der Polizei in Leipzig darin, von Anfang an klar zu machen, dass sie den Aufzug unter Kontrolle bringen und bei jeglichen Unregelmäßigkeiten sofort eingreifen werden. Zugleich war ich persönlich sehr froh, dass es nur gegen Ende mal zu etwas Gerangel kam und die Demonstration insgesamt durchgeführt werden konnte. Wiederum gibt es hierbei geteilte Meinungen. Und Hamburg wurde die Demo gegen Ende massiv von der Staatsmacht angegriffen…
Wozu eine Demonstration dient, lässt sich nicht pauschal sagen. Es ist das, was die Teilnehmenden aus ihr machen und selbst dann lassen sich verschiedene Absichten zugleich mit ihr verbinden, die je nach Anlass variieren können. Die Frage müsste also präziser gestellt werden: Was ist ein sinnvoller Ausdruck für anarchistische Demonstrationen am ersten Mai? Und auch hierzu gibt es unterschiedliche Ansichten. Meine besteht darin, dass ich es für einen Wert halte, wenn sich Menschen unter dem Label des Anarchismus versammeln, bestärken, mit Inhalten beschäftigen und diese selbstbewusst auf die Straße tragen, um Präsenz zu zeigen. Dieses Potenzial lässt sich glaube ich noch deutlich ausbauen, was mir immer wieder an den bekannten, inflationär verwendeten, Demoparolen deutlich wird. Indem die Bullen als Feindbild schlechthin stilisiert und adressiert werden, wird Herrschaftskritik verkürzt und von der Kritik an Herrschaftsinstitutionen und herrschenden Verhältnissen abgelenkt.
In meinen Augen sollte der erste Mai dazu dienen, die eigenen Inhalte voranzustellen – in Redebeiträgen, aber ebenso mit Bannern, Schildern und im Ausdruck, den Beteiligte einer Demo geben. Es ist eben so viel leichter, sich in Abgrenzung zur Polizei und der verbalen Negierung von Staat, Kapitalismus und Patriarchat verbunden zu fühlen, als in der Benennung der Positionen für welche wir einstehen. Diese würde nämlich bedeuten, über unseren Horizont hinaus zu schauen und daran zu orientieren, wo wir eigentlich hin wollen und damit auch gewisse strategische Aspekte in unserem Denken und unseren Debatten zuzulassen. Immerhin wäre dies auch die Grundlage, um für zukünftige vergleichbare Events Menschen zu gewinnen, die sich explizit der Klimagerechtigkeitsbewegung, dem Antirassismus, Feminismus und Gewerkschaften zugehörig fühlen. Praktisch vermischt sich das alles ohnehin zu einem gewissen Grad. Anarchistische Akteur*innen können aber auch einen Schritt weiter gehen und zumindest versuchen, zu einem organisierenden, verbindenden und radikalisierenden Faktor für diese verschiedenen sozialen Bewegungen zu werden. Und dies führt eben wieder zur Gestaltung z.B. von Demos am ersten Mai zurück, die dann weniger „autonom“, „exklusiv“ und „ideologisch“ geprägt sein könnten, sondern weit offener, integrativer und alltagsweltlicher auftreten sollten.
Dies sind nur einige noch unabgeschlossene Gedanken von mir. Alles in allem kann ich festhalten, dass ich den diesjährigen Aktivitäten zum ersten Mai viel Positives abgewinnen kann. Dennoch gibt es ebenfalls viel Potenzial, sie zu erweitern und ein vergleichbares Event in Süddeutschland zu etablieren. Zudem wären Vorabenddemos in kleineren Städten, die dann zu einem größeren Event mobilisieren – wie z.B. in Lübeck am 30.4. – ziemlich sinvoll, um gezielt Austausch zu suchen, Schnittpunkte zu schaffen und lokale Szenen zu aktivieren. Selbstredend muss dafür nicht unbedingt der erste Mai herhalten, dessen Geschichte kein Wert für sich hat, sondern nur dann, wenn wir sie mit zeitgemäßen Inhalten und Praktiken füllen. Und trotzdem bietet sich der erste Mai nun mal an, wenn er nicht zur Folklore verkommt, sondern als ein möglicher Ausgangspunkt angesehen wird, die Vision einer libertär-sozialistischen Gesellschaft zu propagieren und gemeinsam weiter zu entwickeln.