Genug Rezensionen wurden schon darüber geschrieben und in Radiosendungen besprochen, was Didier Eribon mit seinem 2016 auf deutsch erschienen Buch angestoßen hat. Daher wäre es Quatsch, wenn ich hier inhaltlich etwas ergänzen würde. Ich kann mich nur daran erinnern, dass das Buch als herauskam, einige linke Intellektuelle mit denen ich peripher zu tun hatte, ziemlich begeisterte. Denn Eribons Biographie bildet die seltene Gelegenheit ab, nach denen ein Angehöriger der Unterschicht es schließlich bis zum Soziologie-Professor bringt. Sein Aufstieg durch Bildung bedeutete nicht allein, die Zeit, die Fähigkeit und die Manie, sich Wissen anzueignen, sondern ebenso, sich einen entsprechenden Habitus zuzulegen, mit welchem er in intellektuellen Kreisen anerkannt wurde. Eribon beschäftigte sich aufgrund seiner Homosexualität ausgiebig mit der sexuellen Scham. Mit seiner Rückkehr nach Reims und der Konfrontation mit der von ihm abgespaltenen eigenen Geschichte, wird ihm jedoch bewusst, dass seine Unsicherheiten und sein Doppelleben viel stärker noch mit der sozialen Scham über seine Herkunft verbunden sind – welcher er fast vollkommen entfliehen musste, um in einer völlig anderen Welt der Pariser Intellektuellen existieren zu können.
Ein weiterer Erzählstrang betrifft die Feststellung, dass das selbe Arbeitermilieu, welches vor vier bis fünf Jahrzehnten ganz selbstverständlich und fest der Kommunistischen Partei verbunden war, heute mehrheitlich rechte bis rechtsextreme Parteien wählt und sich auch offen rassistisch zeigt. Eribon macht hierbei die neoliberale Politik sozialdemokratischer Parteien und die verkürzte Annahmen bzw. die Verkrustung der Kommunist*innen verantwortlich, weswegen den Angehörigen der Arbeiter*innenklasse die ideologischen und organisatorischen Bezugspunkte fehlten, welche von dem Front National besetzt werden konnten. Zudem stellt er in Frage, inwiefern die Vorstellung, Arbeiter*innen müssten im Sinne ihrer (von außen / durch eine Partei bestimmbaren) Interessen wählen, eine ziemlich falsche Herangehensweise ist. Dies sollten all jene nicht überlesen, welche in hochtrabenden Tönen nach der Lektüre in linkes Wehklagen verfallen, mit dem altbekannten Gejammer darüber „die Linke“ hätte „die Arbeiterklasse“ verloren, würde sie nicht mehr adressieren oder sich nicht mehr aus ihr rekrutieren. Genau mit diesem Gemecker wird ja der sich bereits vollzogene Status offensichtlich, den die Bildungsaufsteiger vollzogen haben. Dass sie damit keineswegs Aussichten auf abgesicherte Jobs haben, sondern ebenfalls äußerst prekär leben – vielleicht in der BRD prekärer als manche Arbeiterin – stimmt zwar auch, ändert jedoch nichts an der empfundenen Veränderung des Weltbildes, die allerdings mit der Aneignung von sozialem, kulturellem und symbolischem Kapital einhergeht.

Ein syndikalistischer Genosse, der ebenfalls einen Masterabschluss machte, sprach ganz deutlich aus, dass er aufgrund seiner Herkunft nie als Akademiker wird arbeiten können. Das er dies auch gar nicht will, spricht für Eribons These, einer verinnerlichten Abwehrhalltung gegenüber Milieus, denen man sich nicht zugehörig fühlt. Während andere, die beispielsweise aus großbürgerlichen Elternhäusern kommen, sich ganz selbstverständlich und selbstbewusst durch’s Studium bewegen und in einem Milieu zu Hause sind, welches den Arbeiterkindern verstellt ist. Eine zweit- oder drittklassige Uni ist dennoch ein Ort, wo sich potenziell Menschen mit verschiedenen Hintergründen begegnen können, was zu einigen Irritationen führen kann. Mit den Überlegungen von Eribon im Hintergrund, kann festgestellt werden, dass die eigene Verortung in der sozialen Konstellation enorm mit dem eigenen Klassenhintergrund korreliert – Und ebenso, dass dies den Beteiligten in der Regel nur selten bewusst wird.
Nur weil biographisches Schreiben ein gewisser Trend war und ist, spricht das für mich nicht dagegen, von den persönlichen Erfahrungen auszugehen und sie abzubilden. Sie können andere inspirieren, sich Gedanken über ihre eigenen Wege zu machen. Immerhin kommt es auf die Art der Darstellung an – Geht es mit ihr darum, den übernommenen oder erarbeiteten sozialen Status zu verdeutlichen und soll es sich um einen Nachweis über das eigene kulturelle Kapital handeln? Oder wird mit der biographischen Überlegung tatsächlich ein Stück Zeitgeschichte aus subjektiver Perspektive beschrieben, wodurch die anderen Aktivitäten der Autor*innen transparent und erklärbar gemacht werden? Letztendlich bleibt es den Lesenden überlassen, was sie als „authentisch“ oder „selbstdarstellerisch“, was sie als „aggressiv“ und was als „schleimig“ ansehen – und wie sie es bewerten.
Es sollte für mittelmäßig privilegierte, vor allem weiße Männer mit einem Universitätsabschluss, nicht darum gehen, mit Eribon ihre eigene Unterprivilegiertheit zu entdecken und darüber ihr Leid zu klagen. Wer die Welt einfacher Leute nicht kennt, sollte darüber schweigen. Wer sie nicht kennt, kann sie schlecht in der Öffentlichkeit artikulieren – und wüsste auch nicht, wieso er dies tun sollte. Vor solchen Herausforderungen sind also jene gestellt, welche einen Milieu-Wechsel vollzogen haben. In meinem Fall sind meine Eltern beide kleinbürgerliche und praktisch orientierte Intellektuelle. Sie hatten ein Studium, aber kein „richtiges“ Universitätsstudium. Als Pastoren befanden sie sich in der DDR in Opposition zum „sozialistischen“ Staat.
Im christlichen Milieu, dem auch meine Großeltern angehörten, mischten sich konservative und „alternative“ Elemente. Letztere waren verbunden mit der Friedens-, Umwelt- und Frauenbewegung. Meine Großeltern beziehungsweise deren Eltern waren vom Land in die Stadt gezogen. Die einen in eine Industriestadt im Erzgebirge, die anderen an den Rand der Hauptstadt. Damit verbunden war der Versuch, sich dort einen sozialen Status zu erarbeiten. Diese Versuche scheiterten beziehungsweise stagnierten, denn sie waren auf die Berufe von kleinen Bürokraten und Industriearbeiter festgelegt. Ich weiß, dass diese Unzufriedenheit über den eigenen Sozialstatus beziehungsweise die damit einhergehende Verunsicherung zumindest bei den einen eine große Rolle gespielt haben muss. Daher war das Abgrenzungsbedürfnis zu Türken und „Fidschis“, Faulpelzen, Kommunisten und Öko-Bourgeoisie stark und teilweise durchaus mit deftigen Ressentiments aufgeladen. In die Ausbildung ihrer Kinder investierten sie aber alle.
Die feste Verbundenheit mit Kirche und christlicher Weltanschauung bot die notwendige Stabilität um der nächsten Generation einen relativen sozialen Aufstieg zu ermöglichen – und war nicht zu Letzt der Kontext, in welchem sich meine Eltern begegneten und wie die allermeisten ihrer Kolleg*innen in jungen Jahren drei Kinder bekamen. Geld war – entgegen so mancher Vorurteile, bzw. in der Freikirche auch im Unterschied zur Staatskirche – „nur“ so viel da, dass es für den Familienurlaub im Sommer und Musikunterricht reichte. Mehr aber auch nicht. Man war gewohnt, gesamtgesellschaftlich eine Sonderstellung einzunehmen, sich mit den eigenen Leuten stark verbunden zu fühlen, aber gelegentlich auch offen für Anderes und Neues zu sein.
Zugleich sah ich bei meinen Eltern eine anhaltende Unsicherheit über ihren eigenen sozialen Status, den sie – wie so viele Leute – durch Konsum symbolisieren musste. Gerade dies zeugt davon, relativen Wohlstand eben nicht als Selbstverständlichkeit anzusehen. Meine erzgebirgische Oma war mit all ihren Ressentiments meiner Ansicht erfüllt von Klassenhass – und zugleich antikommunistisch. Ihr Mann, mein Großvater, sagte einmal auf einem Spaziergang zu mir (von sich aus), im Grunde genommen fände er auch, dass der Kapitalismus ein menschenverachtendes System sei und das er als Arbeiter ja eigentlich die Sozialdemokraten wählen müsste. Aber, fügte er voller Überzeugung hinzu, er sei nun einmal konservativ. Interessanterweise führte dieser Konservatismus und das damit verbundene Wertesystem bei ihnen dazu, dass sie sich nicht nach rechts-rechts orientierten. Und zwar im Unterschied zu fundamentalistisch geprägten Anhänger*innen von Freikirchen, die in der Regel allerdings wohlhabender sind. Tugenden wurden da gepflegt: Ordnung, Sauberkeit, Sparsamkeit. Bei meinem Opa aus Berlin kam noch ein gewisser Preußenfimmel hinzu. Der merkwürdige Glaube an den gutmütigen König, welcher entgegen der Tristesse der Zeit etwas Erhabenes repräsentiert.
Wie auch immer, die Wende, die Umbrüche, die (Reise-)Freiheit, die Selbstoptimierung, der Konsumwahnsinn – all dies musste aus Sicht von Erwachsenen sehr verwirrend gewesen sein. Ich als kleines Kind bekam davon zwar nur indirekt mit und dennoch prägte es meine gesamte Geschichte. Im Gegensatz zu meinen Großeltern und Eltern lehnte ich das „System“ jedoch seit ich ungefähr vierzehn war, aus dem Bauchgefühl heraus ab. Wie konnte man eine Gesellschaft gut heißen, in welcher Umweltzerstörung, globale Ausbeutung, Rassismus und Krieg an der Tagesordnung waren? Nicht als schlechte Nebenfolgen der westlich-kapitalistischen Gesellschaftsform, sondern als ihre Grundlage?
So mündeten die Rudimente der sozialen Bewegungen der achtziger und neunziger Jahre bei mit in die Identifikation mit der aufkommenden globalisierungskritischen Bewegung, mit Antimilitarismus, Umweltschutz, globaler Gerechtigkeit, Befreiungstheologie und Antifaschismus. Protest, Kritik, Agitation, ziviler Ungehorsam und direkte Aktionen interessierten mich; kaum Parteipolitik oder irgendwelche bürokratischen Organisationen. Instinktiv wollte ich Revolution und eine andere Welt, keine langweiligen Reformprojekte und seriösen Veränderungen. Dies hatte natürlich auch mit persönlichen Erfahrungen zu tun, die ich unter anderem damit machte, zu keinem soziales Milieu richtig zugehörig zu sein. Und die Funktion meiner Eltern bestand zwar darin, ein gewisses Milieu zu integrieren, zu repräsentieren und zu spiegeln, verlangte jedoch zugleich, zu diesem gewisse Distanz zu wahren, um sie erfüllen zu können.
Diese Dinge, verbunden mit einigen Erfahrungen und Begegnungen, führten dazu, dass ich mich eines Tages ganz naheliegenderweise als Anarchist verstand. Ich wollte eine Revolution und mit dieser nicht auf irgendwelche „reifen Bedingungen“ warten, sondern die Dinge in die eigenen Hände nehmen, als auch eine Veränderung des persönlichen Lebens. Doch der Staatssozialismus war grundlegend diskreditiert. Kommunist*innen waren mir zunächst vollkommen suspekt. Ich glaube vor allem fehlten mir bei ihnen auch ethische Debatten und Überlegungen. Der Wille, etwas emanzipatorisch verändern zu wollen, war mein Kriterium, mich mit Menschen auf abstrakte oder direkte Weise zu assoziieren, keine Klassenposition und kein dogmatisch festgelegtes Weltbild. Zumindest dachte ich das. Unterordnen konnte ich mich vermutlich auch deswegen nicht, weil ich mich keiner politischen Führung, keiner Partei (mehr) verbunden fühlte. Sie repräsentierten meinen unklaren Klassenstatus und mein spezifisches Weltbild nicht. Wohl aber empfand ich eine Verpflichtung den Menschen um mich herum gegenüber als auch den Drang, die Gesellschaft insgesamt ändern zu wollen.
Studium und Studentenleben veränderten mich. Vor allem, die Zeit, welche ich frei gestalten konnte, die Menschen, denen ich begegnete und die Möglichkeiten, mich hier und da einzubringen. In der linken Szene dieser Unistadt flossen verschiedene Hintergründe und Geschichten zusammen und erweiterten meine Perspektive ungemein. Ich hatte das Milieu meiner Eltern (aus verschiedenen Gründen) verlassen, reproduzierte jedoch ihren unklaren Sozialstatus. Phasenweise war mein Klassenhass gegenüber Yuppies, Bonzen und Spießern ziemlich stark ausgeprägt. Doch handelte es sich bei meinem Hass den ich beispielsweise in Kaufhäusern empfand und meine Ablehnung der Konsumgesellschaft möglicherweise um Neid? Andererseits hatte vor allem die Ausgeschlossenen und Ausgebeuteten vor Augen, die jenen leeren Reichtum produzierten und deren Lebensgrundlagen zugleich täglich in Frage stehen – was auf meine eigene Situation ja zweifellos nicht zutraf.
Mit der proletarischen Welt, die Eribon beschreibt und aus der meine Großeltern ebenfalls stammen, konnte ich mich jedoch ebenfalls nicht identifizieren. Die Intoleranz, Vorurteile, Verhaltensweisen und Gesprächsthemen dieser Umgebung, die ich in meiner Kindheit und Jugend erlebt habe, stießen mich als sensiblen Menschen ab. Darin bildeten meine biologischen Vorfahren bereits einen Gegenpol. Zumal ich immer wieder Kommentare dafür abbekam, dass ich wie ein abgeranzter Hippie oder wie eine Schwuchtel herumlief. Noch irritierender als mein Aussehen, wurden allerdings meine „linksradikalen“ Ansichten bewertet, die oftmals als Provokation aufgefasst wurden, einfach, weil ich sie vertrat und persönlich leben wollte. Gleichzeitig verbündeten sich auch Leute mit mir, vermutlich, weil ich Meinungen hatte und diese vorbrachte.
Mein Wechsel von einem christlichen Weltbild hin zum anarchistischen Sozialismus war ein langwieriger und teilweise schmerzlicher Entwicklungsprozess. Ich will ihn nicht missen, weil das, was ich als junger Erwachsener gefunden und mir aufgebaut habe, mir deutlich stärker entspricht, als mein Herkunftsmilieu. Abgesehen davon eröffnet jeder erfahrene Perspektivwechsel, die Möglichkeit, die Welt in ihrer Komplexität zu verstehen und dadurch die eigene Persönlichkeit weiter zu entwickeln. Dennoch reproduziere ich die soziale Position meiner Eltern (merkwürdigerweise) unter anderen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Ich hatte eine „Mission“, eine fiktive „Gemeinde“, eine „Botschaft“, ein ethisches Wertesystem und eine undogmatische Haltung, mit denen ich mich in Opposition zum Bestehenden befand – während die Arbeiter*innenklasse kein wesentlicher Bezugspunkt für mich war. Da war auch nicht „das Volk“. Aber da waren „Leute“. Ich habe den Weg des „Abstiegs durch Bildung“ vermutlich gewählt (oder ihnen wählen müssen?), weil ich viele Dinge lernen und Freiräume für meine selbstbestimmten Tätigkeiten haben wollte. Außerdem, weil ich der Lohnarbeit entgehen wollte, solange es ging. Weil ich wusste, dass sie mich fertigmachen würde. Weil ich einfach keine Zeit für Lohnarbeit hatte. Weil ich für meine Tätigkeiten, die kein Feierabendaktivismus waren, per se kein Geld erhalten wollte.
Dies wurde mir jedoch nur möglich, weil ich relativ privilegiert war, durch meine vorherigen Bildungschancen studieren und daher auf Bafög zurückgreifen konnte, während ich zugleich sehr sparsam lebte und ohnehin wenig Interesse an kostenintensivem Konsum hatte. Wer wenig ökonomisches Kapital hat, wendet wesentlich mehr Zeit für die Pflege sozialer Beziehungen auf – wenn er über diese verfügt. Gerade dies verdeutlicht aber den unklaren, wenn auch äußerst spezifischen Klassenhintergrund. Bis ich ungefähr 24 war, dachte ich zum Beispiel, dass ich mir nie eine Fahrt im ICE leisten könnte. Das es erschwingliche Preise bei etwas früherer Buchung gab, kam mir überhaupt nicht in den Sinn. Im ICE dann setzt ich mich in den Gang, weil ich keinen Sitzplatz belegen wollte. In meinen ersten Jahren als Student, gönnte ich mir nur manchmal einen Döner oder eine Pizza, weil das mir schon teuer erschien – durchaus keine proletarische Einstellung, die mir aber ermöglichte, diesen Lebensstil zu führen. Wie die Zecken um mich herum trank ich Sternburg und Wicküler. Ich ging fast nie ins Kino oder in Kneipen. Treffen konnte ich mich auch mit Leuten auf der Straße, kulturelle Dinge der „Mainstream-Gesellschaft“ interessierten mich in vielerlei Hinsicht nicht. Aber ich ging auf „alternative“ Konzerte, wenn welche stattfanden und hing an selbstorganisierten Orten herum. Auf meinen ersten eigenen Reisen mit einer guten Freundin trampten wir. Einmal war ich auf einer linken Konferenz in einem anderen Land, wo ich volle vier Tage lang illegal in einem Hotel schlief und aß. Dass die Tagung in einem Hotel stattfand, empfand ich als absurd und daher nahm ich es als selbstverständlich an, mich dort durch zu schnorren. Mit einer bestimmten linken Studi-Gruppe konnte ich mich glaube ich vor allem deswegen nicht identifizieren, weil die sozialen Hintergründe ihrer Mitglieder viel gefestigter schienen, als mein eigener. Mit den meisten bildungsbürgerlichen Linken hatte ich nur peripher Schnittpunkte.
Deswegen bestätigte sich mein Vorurteil, dass Linke mehrheitlich aus privilegierten Klassenhintergründen kommen, meiner Erfahrung nach in meiner Umgebung nicht. Einfach deswegen, weil ich die „Spießer-Linken“, da gewöhnlicherweise nicht mit rein zählte. In diesem Zusammenhang war mir Aussehen jedoch ziemlich egal. Es ging mir um die Haltung. Da waren viele Leute, die tatsächlich als erste aus ihrer Familie studierten. Aber auch solche, die den Klassenstatus ihrer Eltern aufgaben – sei es durch ihren exzessiven „alternativen“ Lebensstil oder ihr politisches Engagement (was wiederum bestimmte Lebensstile nach sich zog). Den geteilten Nenner bildete ein irgendwie-linkes Weltbild, welches jedoch nur wenige von Haus aus mitbrachten, sondern die meisten sich aneignen und das wir zum Teil erfinden mussten.
Trotzdem verbaute ich mir mit dieser Herangehensweise und Haltung auch eine Menge. Abgesehen davon, dass ich versuchte, die verlängerte Adoleszenz so lang es ging hinauszuzögern und im Studi-Status zu verharren, wäre es vielleicht nett gewesen, mit intellektuellen Linken in der Kneipe zu sitzen. Wer weiß, vielleicht wäre so auch ein Jobangebot an der Uni herausgesprungen oder eine romantische Beziehung mit Sozialstatus. Vielleicht hätten diverse Selbstzweifel mit weniger Alkohol zugeschüttet werden müssen. Prekarität und Perspektivlosigkeit sind keine guten Voraussetzungen für ein gutes Leben. Aber auch nicht für langfristiges politisches Engagement, welches ohne ökonomisches Kapital nur auf Kosten der eigenen Gesundheit und des eigenen Lebensgenusses möglich werden kann.
All dies sind also einige Aspekte meiner persönlichen Rückkehr nach Reims. Allerdings heißt Reims in diesem Fall nicht Reims, sondern trägt die Namen von mehreren thüringischen und sächsischen Dörfern und Städten. Außerdem habe ich zwar mein Weltbild, nicht jedoch wirklich den Sozialstatus meiner Eltern gewechselt, sondern reproduziert – was in einer veränderten gesellschaftlichen Situation als anarchronistisch angesehen ist und darum wiederum ihrem nicht entspricht. Ich habe mich von ihnen entfernt, aber nie meine Herkunft verleugnet – auch dies ist ein wesentlicher Unterschied zu Eribons Geschichte. Ich empfand mich als abweichend in vielerlei Hinsicht. Seinen Wunsch homosexuell zu leben, habe ich jedoch nicht empfunden, mit dem er – in Verbindung mit seiner veränderten Klassenposition – nur in Form der Verleugnung von Reims umgehen konnte.