Schon vor einer Weile erschien die Sonderausgabe der Gai Dao zum „Pandemischen Ausnahmezustand. Statt dies weiter zu kommentieren, spiegele ich unten einfach den Einleitungstext. Downgeloaded werden kann sie hier.

Übrigens haben gewisse Leute, die sich selbst als „Insurrektionalist*innen“ bezeichnen, ein Fakesimile dieser Gai Dao-Sonderausgabe erstellt. Vermutlich, um den Austausch über verschiedene Positionen und Stile anzuregen. So inspirierend manche Gedankengänge aus diesem Spektrum immer wieder sind, beruhen sie jedoch meiner Ansicht nach weitgehend auf problematischen Grundannahmen. Die Autor*innen wissen dies natürlich und so bleibt ihnen zur Rechtfertigung ihrer Positionen lediglich der Verweis auf die vermeintliche „Gesamtscheiße“ und die romantische Verklärung von liberaler Freiheit und des bürgerlichen Individuums. Weil sie es nicht aushalten, mit ihren eigenen Widersprüchen umzugehen und weil ihnen eigentlich kaum wer zuhört, bauen sie sich im konstruktiven Anarchismus einen Strohmann auf, den sie vollpöbeln können. Die Abwertung anderer um die eigene Kränkung zu überwinden, die reflexhafte Abwehr von Kritik und die Ausflucht in die idealistische Traumwelt eines post-zivilisatorischen „puren“ Lebens, lässt sich mustergültig als unbearbeiteter Narzissmus interpretieren. Er birgt die Gefahr, ins Autoritäre umzukippen. Doch wird er mit der individualistischen Leistungs- und Selbstdarstellungsgesellschaft untergehen, die ihn hervorgebracht hat. In dieser Hinsicht erscheint die reine Negation durchaus als erstrebenswert. Wie auch immer, wen das interessiert, findet es hier.
Editorial
Zur Sonderausgabe „Pandemischer Ausnahmezustand“
Corona, Seuche, Ausnahmezustände – wir können es kaum mehr hören und das ist verständlich. Immerhin wurde und wird nach wie vor über die Pandemie und ihre verschiedenen Auswirkungen geschrieben. Diese, wie etwa die Zunahme von Arbeitslosigkeit, drastische Grundrechtseingriffe und erfahrene Angstzustände, sind ja mittlerweile auch nicht einfach vorbei, sondern halten an und wirken weiter. Obwohl wir wissen, das der Normalbetrieb der Herrschaftsordnung die eigentliche Krise ist, scheint es aus psychischer Sicht dennoch
erforderlich, dass wir uns wieder anderen Themen widmen. Und nicht nur aus dieser: Auch die im letzten Jahr starken sozialen, ökologischen, feministischen Kämpfe werden hoffentlich nach der zwangsverordneten Ruhepause wieder an Fahrt aufnehmen. Das Virus ist echt, die Verschwörungstheoretiker liegen falsch und daher grenzen wir uns entschieden von ihnen ab. Dennoch steckt eine links-emanzipatorische oder gar dezidiert anarchistische Antwort auf die Pandemie – über solidarische Bezugnahmen, einige Initiativen und kleinere Aktionen hinaus – noch in den Kinderschuhen. Kritik an den autoritären Maßnahmen der Regierung gab es von unserer Seite durchaus, nahm jedoch vor allem die üblichen Übel aufs Korn.
Als Anarchist*innen sind wir überzeugt, dass es möglich ist, auch eine derartig umfassende, globale und unsichtbare Bedrohung wie die Pandemie und ihre komplexen gesellschaftlichen Folgen zu bewältigen, ohne dafür an den Staat als Oberarzt zu appellieren oder sich seinen Verordnung unkritisch zu unterwerfen. Dafür braucht es globale Kooperation, solidarische Verhaltensweisen und immer wieder Kritik an den Verwertungsinteressen des Kapitals, welcher die Gesundheit von Menschen prinzipiell egal sind.
Dahingehend spiegelt die vorliegende Sonderausgabe einen Verarbeitungsprozess dar, um mit den rasenden Entwicklungen in diesem verdichteten Zeitraum, zum Teil mit unseren Ängsten vor dem Ausbau des Autoritarismus, wie auch unserer Sorge um diejenigen, welche besonders unter Krankheiten und den Folgen der Verordnungen leiden bzw. leiden werden, Antworten zu finden. Aus Extremsituationen kann es uns ebenfalls gelingen, wichtige Einsichten zu gewinnen – jedoch nur, wenn wir über diese ausgiebig reflektieren.
In diesem Zusammenhang haben wir wahrgenommen, dass es in unserem eigenen Umfeld und der anarchistischen Szene unterschiedliche Einschätzungen darüber gibt, worin die Krise besteht und was wie bewirkt. Daraus entstanden auch verschiedene Ansichten darüber, was wir als angemessenes Handeln und Verhalten im Zuge der Pandemie und ihrer staatlichen Regulierung, ansehen.
Deswegen stellt die vorliegende Sonderausgabe einen Querschnitt von Artikeln dar, mit denen auf unseren Call for Papers geantwortet wird. Der Meinungsbildungsprozess muss weitergehen, aber immerhin haben wir schon einmal zum Austausch darüber angeregt und wollen damit weiter kommen.
In gewohnt selbstironischem Optimismus rufen wir dazu auf:
Lasst uns die zweite Welle ohne den Staat überstehen!