
Anarchistische Theorie
Für viele scheint eine theoretische Beschäftigung mit dem Anarchismus oder eine anarchistische Beschäftigung mit Theorie ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich, zu sein.
Im akademischen Bereich gilt Anarchismus oftmals als unseriös und Kenntnisse über ihn sind wenig verbreitet. Dies steht in einem merkwürdigen Gegensatz dazu, dass der intellektuelle Rahmen ja tatsächlich eine freiere Beschäftigung mit Dingen ermöglicht, als die meisten anderen gesellschaftlichen Bereiche.
In der anarchistischen, bzw. genauer in der autonomen Szene, wird der intellektuellen Beschäftigung mit Anarchismus oftmals mit Skepsis begegnet und angenommen, sie ziele auf eine Vereinnahmung und Erklärung ungebundener, undogmatischer und fluider Lebens- und Politikstile ab. Und das nicht ganz zu unrecht: Theorie versucht greifbar zu machen und zu beschreiben, was kompliziert, uneindeutig und verdeckt ist. Doch theoretisches Denken durchzieht unser Leben und ist ein wesentlicher Faktor, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen, wie auch eine selbst-bewusste soziale Bewegung zu bilden.
Schließlich wird Anarchist*innen unterstellt, sie seien für „die“ Praxis zuständig. Politische Intellektuelle und dogmatische Kader, vornehmlich marxistischer Prägung, maßen sich an, anarchistisches Handeln und Sein zu interpretieren und zu beurteilen. Dies gelang oftmals, weil es tatsächlich wenig eigenständige explizit anarchistische Theorien gab.
Anarchistische Theorie ist selbstverständlich nicht per se „besser“ oder „richtiger“ als jegliche andere Formen kritischer Theorien, bspw. feministischer, postkolonialer, marxistischer, poststrukturalistischer oder „der“ Kritischen Theorie. In der Regel sind diese Strömungen miteinander eng verbunden.
Dennoch stellt etwas eigenes dar. Ihre Formen, Inhalte und Kennzeichen wurden jedoch selten und nicht umfassend beschrieben. Dies ist bedauerlich, denn aus diesem Grund werden Gedanken und Ansätze, die in anarchistischen Szenen und antiautoritären, selbstorganisierten sozialen Bewegungen entwickelt wurden, von ihrem Ursprung abgeschnitten und somit auch graduell entpolitisiert.
Die große Dimension
Anarchistische Theorie kann potenziell eine große Bedeutung für die Formierung politischer Subjekte und ihrer Orientierung auf ein gemeinsames Projekt der radikalen Gesellschaftstransformation haben.
Eine bedeutende theoretische Grundannahme dafür bildet die Vorstellung, dass stets verschiedene gesellschaftliche Verhältnisse parallel zueinander bestehen (es also parallel zum Kapitalismus immer auch ein sozialistisches ökonomisches Verhältnis gibt, es parallel zum Staat ebenfalls Ansätze dezentraler, autonomer und kommunaler Selbstorganisation gibt, neben dem Patriarchat auch eine egalitäre Beziehung aller Geschlechter und neben der Naturbeherrschung eine Koexistenz mit der nicht-menschlichen Lebenswelt).
Demnach ist es möglich, immanent, ausgehend von dem, was wir vorfinden, zu handeln – ohne deswegen bloß reformerisch zu werden.
Dies ist der Ausgangspunkt für das anarchistische Verständnis von Gesellschaftsveränderung im Modus der Sozialen Revolution. Mit ihr wird eine umfassende, tiefgreifende und prozesshafte Transformation gesellschaftlicher Beziehungen und Institutionen auf verschiedenen Ebenen (der Ökonomie, des sozialen und kulturellen Lebens miteinander, dem Natur- und Geschlechterverhältnis, der politischen Organisierung etc.) bezeichnet.
Meiner Ansicht nach sollten sich emanzipatorische soziale Bewegungen, die sich auf sozialistische Werte und Geschichten beziehen, am anarchistischen Konzept der sozialen Revolution orientieren, um den Anspruch zu erneuern, die bestehende Gesellschaft tatsächlich grundlegend verändern zu wollen. Dies ist ein kontinuierlicher Suchprozess, zu welchem Intellektuelle in Texte, Reden, mit bildenden und organisierenden Tätigkeiten vieles beitragen können, der aber nicht von ihnen ausgehen kann.
Poststrukturalistische Theorien gehen von einer Auflösung der Möglichkeiten makropolitischer Vorstellungen aus. Das proklamierte vermeintliche „Ende der Geschichte“ nach den 1990ern spiegelte eine enorme Desorientierung und Desorganisierung des selbstorganisierten sozialistischen Lagers wider. Zugleich entstanden in diesen Jahrzehnten eine unglaubliche Vielzahl an neuen Formen des sozialen Kampfes, der Organisierung und politisierter Lebensstile, welche das Leben in den liberalen, kapitalistischen Demokratien und (post)sozialistischen Nationalstaaten tatsächlich mit prägten und veränderten. Die Friedens- und Ökologiebewegungen, Antifa, Feminismus, auch Arbeitskämpfe und die Auseinandersetzungen um die Rechte von Lesben-, Schwulen, Trans- und Interpersonen oder jenen von indigenen Minderheiten, haben maßgeblich dazu beigetragen, emanzipatorische soziale Fortschritte zu erzielen.
In einer bestimmten Epoche waren die damit verbundenen Organisationsformen und Strategien richtig und sinnvoll, um gesellschaftliche Evolution zu ermöglichen. Ich glaube jedoch, dass sich die Bedingungen aus verschiedenen Gründen inzwischen wesentlich geändert haben. Beispielsweise gibt es heutzutage ein rechts-autoritäres Hegemonieprojekt, dessen Verfechter durchaus etwas anderes möchten, als die neoliberale Technokratie. Homogene Gesellschaften und autoritäre politische System wie in Russland, der Türkei, Ungarn oder Polen (um nur einige zu nennen), bilden für die nationalkonservativen Bestrebungen in den westlich-„liberalen“ Gesellschaften das Vorbild. Ihr Antifeminismus, ihre Klimawandel-Relativierung, ihr Militarismus und ihre Arbeitnehmer*innen-Feindlichkeit (etc.) zielt darauf ab, emanzipatorische soziale Errungenschaften zu Nichte zu machen, dabei die Klassenverhältnisse aufrecht zu erhalten und in vielerlei Hinsicht eine neue „Ordnung“ einzurichten.
Zudem glaube ich, dass „der“ Menschheit tatsächlich die Zeit für grundlegende Gesellschaftsveränderungen weg läuft, um eine Welt zu schaffen, in der alle Menschen solidarisch, egalitär, würdevoll, selbstbestimmt, vernünftig und ökologisch verträglich leben können. Mir ist bewusst, dass diese Ansicht ein Gefühl des In-die-Welt-Geworfen-Seins zu Grunde liegt, welches keine existentielle Grundbedingung menschlichen Lebens ist, sondern in einen spezifisch-historischen Kontext gesellschaftlich erzeugt wird. Anarchist*innen haben wahrscheinlich schon immer gesagt, dass der Uhrzeiger auf fünf vor zwölf steht, wie aber genau hier und jetzt die Möglichkeit haben, die Dinge selbstbestimmt zu verändern. Diese Einstellung kann ich an dieser Stelle nicht reflektieren, bekenne mich aber dazu, sie zu teilen. Doch dies muss mich nicht (mehr) zu wilder Panikmache und kopflosem Handeln verleiten. Umgekehrt finde ich es völlig irre, wenn Menschen der Ansicht sind – das heißt ebenfalls: in dem Gefühl leben -, das die objektiv benennbaren massiven Probleme dieser Gesellschaft entweder gar keine wären, oder, dass es dafür innerhalb des staatlichen Kapitalismus eine wirkliche Lösung geben könnte.
Ich denke, die konsequente und logische Antwort auf diese politischen Verschiebungen, wie auch die massiven Probleme, welche die bestehende Herrschaftsordnung täglich verursacht, ist die Soziale Revolution im besten anarchistischen Sinne. Eine umfassende Transformation wird von vielen verschiedenen sozialen Milieus und Klassen getragen und verfolgt verschiedene Themen, die sie aufeinander bezieht. Der Orientierungsrahmen, in welchem sich emanzipatorische soziale Bewegungen ausrichten können, ist mit der Chiffre „libertärer Sozialismus“ zu benennen. Diese konkrete Utopie ist keineswegs am Reißbrett zu entwerfen und bunt auszumalen. Sie entsteht im dialogischen Prozess innerhalb emanzipatorischer sozialer Bewegungen selbst. Der libertäre Sozialismus ist kein fiktives Konzept, sondern eine existierende Form, wie sich emanzipatorische soziale Bewegungen weltweit organisieren: dezentral, autonom, föderalistisch, freiwillig und horizontal. Gleichzeitig beschreibt er ein Set an spezifischen, miteinander verbundenen, Werten, wie maßgeblich ökonomische, politische und dignitive Gleichheit soziale Freiheit, Solidarität, Vielfalt und Individualität.
Einen libertären Sozialismus im 21. Jahrhundert zu skizzieren, greifbar zu machen, zu organisieren, sowie sozial-revolutionäre Perspektiven aufzuzeigen – dazu kann anarchistische Theorie einen bedeutenden Beitrag leisten.
Überall Paradoxien
Dieser Blog hat seinen Namen nicht ohne Grund. Mit der These, dass anarchistisches Denken und Handeln paradox ist, möchte ich es mit einer bestimmten Haltung und aus einer bestimmten Perspektive betrachten. Wir leben in einer Gesellschaft, die durch Herrschaft grundlegend antagonistisch und hierarchisch strukturiert ist. Die wesentlichen Herrschaftsverhältnisse sind der Staat (Regierende/Regierte), der Kapitalismus (Kapital/Lohnarbeit), das Patriarchat (Hetero-Cis-Männer/alle anderen Geschlechter), die weiße Vorherrschaft (Weißsein als soziale Kategorie/alle anderen) und der Mitweltunterwerfung (Menschen/nicht-menschliches Leben). Anarchistisches Anliegen ist die Überwindung dieser Antagonismen. Dies bedeutet nicht, dass es in der Anarchie (die nicht eingeführt, sondern nur prozesshaft verwirklicht werden kann), keinerlei Konflikte oder Probleme gibt. Doch die Grundbedingungen Konflikte und Probleme zu lösen, sind in ihr qualitativ andere.
Vom gegebenen Standpunkt ausgehend und mit den Menschen und politischen Subjekten, die wir vorfinden, kann ein Kampf gegen die bestehende Herrschaftsordnung und Herrschaftsverhältnisse insgesamt, sowie die Verwirklichung von egalitären, freiwilligen und solidarischen Beziehungen und Institutionen, nur widersprüchlich aussehen.
Selbstverständlich gibt es Wahrheiten: Wir leben in einer Klassengesellschaft. Das Patriarchat und die weiße Vorherrschaft sind nach wie vor wirksame strukturelle Herrschaftsverhältnis. Menschen können prinzipiell in die Lage versetzt werden, friedlich zu kooperieren, sich solidarisch aufeinander zu beziehen und sich an Formen kommunaler Selbstorganisation zu beteiligen. Vor den vermeintlich klaren Antworten, richtigen Analysen und Strategien habe ich persönlich jedoch jeglichen Respekt verloren. Dogmatismus und die Vorstellungen von reinen Lehren, entsprechen lediglich einem schlechten Versuch die eigenen Ohnmachtsgefühle zu kaschieren, führen zu Sektierertum, aber niemals zu einer sozial-revolutionären Orientierung von Einzelnen und Gruppen.
Daher habe ich schon vor langer Zeit einen anderen, komplizierteren Weg eingeschlagen, der mir als notorischer Skeptiker und leidenschaftlicher Kämpfer eher entspricht. Das Denken in Paradoxien ist ein Denken und Vermitteln in Spannungen, das Begreifen von Gleichzeitigkeiten und dem Ineinandergreifen verschiedener Aspekte. Entgegen mancher Unterstellungen zielt das Denken in Paradoxien keineswegs darauf ab, Widersprüche abzufeiern und somit als unlösbar stehen zu lassen. Paradoxien fordern uns durchaus heraus, eine Lösung für sie zu finden und treiben uns an, immer weiter zu suchen, wie wir sie knacken können. Eine positive und freudvolle Bezugnahme auf Paradoxien ermöglicht uns meiner Meinung und Erfahrung nach, die Dinge in ihrer Komplexität, ihrer Kontingenz und aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Auf diese Weise können wir uns dem Ganzen annähern, ob im alltäglichen Leben oder bei der hochtrabenden Rede von Sozialer Revolution. Im besten Sinne „radikale“ Antworten und direkte Aktionen, sind keine Ergebnisse eines vermeintlich sachlich abgewogenen „goldenen Mittelweges“. Aber: Sie sind danach auf der Suche nach dem, „was Dazwischen ist“, was mehr als die Summe seiner Teile ist.
Ich habe den Eindruck gewonnen, im anarchistischen Denken gibt es eine Vielzahl von widerstreitenden Positionen, die Außenstehenden lediglich als schlecht vermittelte Widersprüche erscheinen können. Dagegen meine ich, wir sollten die unterschiedlichen Positionen im Anarchismus als Paradoxien betrachten, die keine einfache Auflösung finden können. Der Anarchismus erscheint in vielerlei Hinsicht als paradox, weil er sich in gesellschaftlichen Widersprüchen bewegt.
In einigen anarchistischen Kernbegriffen kommt ein paradoxes Verständnis zum Ausdruck, so zum Beispiel bei direkte Aktion, präfigurative Politik, konkrete Utopie, soziale Revolution, Handeln im Hier&Jetzt. Anarchist*innen beziehen sich auf unterschiedliche Gruppen, Projekte und Milieus, wodurch ihre Pluralität ebenso genährt wird, wie dadurch, dass sie sich auf ganz verschiedene Theoriegebäude beziehen, um ihre Lebenswelt und ihr praktisches Handeln darin zu verstehen und weiter zu entwickeln.
Eine anarchistische Kernproblematik bildet dabei zweifellos den Anspruch, Herrschaft insgesamt überwinden zu wollen, wobei auf der Hand liegt, dass es dafür eine wie auch immer geartete Aneignung von Macht braucht. Macht wird eben nicht gleich zu Herrschaft, sondern dann, wenn sie zentralisiert und verfestigt wird. Auch emanzipatorische soziale Bewegungen haben Macht und sollten sie ausbauen. Die soziale Revolution ist keine Frage der bloßen ethischen Einstellung, sondern eine der unangenehmen Auseinandersetzung in Machtverhältnissen.
Doch auch weitere Themen scheinen im Anarchismus hochgradig widersprüchlich. Dies betrifft das Spannungsverhältnis von Individualismus und Kollektivismus, die Frage nach der Legitimität von Gewaltanwendung oder jener, was Technik und Zivilisation sind. Bei diesen Themen gibt es innerhalb des Anarchismus äußerst verschiedene Positionierungen.
Mit dieser Beschreibung trete ich für einen „synthetischen Anarchismus“ oder einen „Anarchismus ohne Adjektive“ ein. Dies heißt, anarchistische Strömungen, Ansätze und Gruppen in ihrer Unterschiedlichkeit und Pluralität zu sehen und anzuerkennen, gleichzeitig aber etwas ihnen Gemeinsames zu unterstellen. Dieses Gemeinsame kann allerdings nicht abstrakt und vorab bestimmt werden, sondern ergibt sich aus den Auseinandersetzungen und der wechselseitigen Bezugnahme der Aktiven innerhalb der verschiedenen anarchistischen (und anderen libertär-sozialistischen) Strömungen. Würden sie in diesem Prozess der Auseinandersetzung ihr Selbst-Bewusstsein stärken, erkennbare Positionen einnehmen und sich aufeinander beziehen, könnten sie ein wichtiger Faktor werden, um das libertär-sozialistische Lager zu inspirieren und zu organisieren. Was ich hier beschreibe ist in erster Hinsicht eine Frage der Herangehensweise und erst in zweiter eine der konkreten Machtverhältnisse, die es zu verändern gilt.
Pflege und Erneuerung anarchistischen Denkens
Mit diesem Blog möchte ich also anarchistisches Denken pflegen und erneuern. Das klingt erst mal komisch, so als wenn jemand krank wäre, um den ich mich kümmern müsste. Handelt es sich dabei nicht um einen bestimmten Menschen, sondern so etwas Abstraktes wie „den“ Anarchismus, wäre allerdings zurecht danach zu fragen, ob es mir selbst vielleicht nicht wirklich gut geht. Was übrigens auch der Fall ist, denn in der gewaltsamen Welt, die ich vorfinde, fühle ich mich durchaus gestört. Die Sorge um den Anarchismus ist daher mein Versuch, mit dieser Gestörtheit umzugehen, ihr einen Ausdruck zu verleihen, sie produktiv und verändernd werden zu lassen.
Anarchismus stellt für mich ein Lebensweise, eine politische Theorie und eine soziale Bewegung dar. Er hat eine eigene Geschichte, ungefähr ab der Mitte des 19. Jahrhunderts war und dabei immer (mal in kritischer Abgrenzung, mal in wohlwollender Bezugnahme) mit anderen sozialistischen Strömungen verbunden. Ich begreife den Anarchismus mit der Analogie einer Freikirche innerhalb des Sozialismus. Damit mache ich deutlich, dass Anarchismus für mich weit mehr als eine Theorie oder empirische soziale Bewegung ist. Er hat vielmehr ganz eng mit meinem eigenen Leben zu tun. Auch wenn der Begriff nicht unproblematisch ist, stellt Anarchie für mich eine „Weltanschauung“ dar, einen Blickwinkel und Gedankengebäude, mit dem ich die Welt und meine Erfahrungen darin auf bestimmte Weise interpretiere und wonach ich mich versuche auszurichten. Anarchismus ist damit auch Ideologie. Er setzt bestimmte Grundannahmen voraus, die sich in letzter Instanz nicht begründen lassen. Hierbei geht es nicht um die Affirmation des Irrationalismus wie beim mystisch-magischen Denken von Esoterikern, Verschwörungstheoretikern und Faschisten. Doch die Frage beispielsweise, ob ausnahmslos allen Menschen die gleiche Würde zukommen soll, ist keine, die sich argumentativ begründen lässt. Sie ist eine ethische Position, über die nicht sinnvollerweise gestritten werden kann. Dennoch können Menschen sich von Positionen überzeugen lassen, lernen und verlernen, sich verändern und anschließen. Meine Bezugnahme zum Anarchismus ist also eine strategische und keine „identitäre“: Ich bezeichne mich als Anarchisten und meine Ansichten werden von anderen vermutlich auch so eingeordnet. Das tue ich, um andere dazu aufzufordern, sich selbst zu positionieren, zu rebellieren, sich zu organisieren und Neues zu schaffen. Ob sie sich dabei selbst „Anarchist*innen“ nennen, ist mir eigentlich völlig egal. Umgekehrt stellt das Ⓐ-Label für mich auch kein Qualitätssiegel dar – ich beurteile Menschen und Projekte danach, ob ich sie für sympathisch, emanzipatorisch und zielführend halte.
Um zur Pflege und Erneuerung zurück zu kommen: Es entspricht vermutlich meinem Ordnungsbedürfnis, dass es mich aufregt, dass die meisten Menschen nur völlig verschrobene Begriffe von Anarchismus und Anarchie haben. Leute, die sich explizit als Anarchist*innen bezeichnen, reflektieren dagegen in der Regel viel darüber, was das allgemein und für sie persönlich bedeutet. Allerdings fehlt es hier meiner Wahrnehmung nach an Vermittlung an andere. Anarchismus ist für mich eine Perspektive für viele und auf alle gesellschaftlichen und sozialen Phänomene und Themen. Anarchie interessiert mich nur bedingt als „Szene“ – auch wenn ich irgendwie Teil von dieser bin. Ich halte es für sinnvoll und wünschenswert ganz offen mit anarchistischen Einstellungen umzugehen, wo immer das möglich ist und damit andere Menschen erreichen zu wollen. Dazu braucht es meiner Ansicht nach jedoch – als einen unter vielen Beiträgen – auch die intellektuelle Arbeit der Pflege und Erneuerung anarchistischen Denkens. Denn es ist nicht einfach „klar“, wofür er steht und was er beinhaltet. Noch weniger „klar“ ist, welche anarchistischen sozial-revolutionären Perspektiven und welche Organisationsansätze unter heutigen Bedingungen hervorgebracht werden können. Daher also meine Beschäftigung mit anarchistischer Theorie, von der ich an dieser Stelle einen großen Einblick gebe.
Soweit an dieser Stelle erst mal provisorisch.
Freiheit, Glück und Solidarität!
Leipzig, den 25.06.2020