Ein anarchistischer Held

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ARTE hat seine eigene Fanbase, die ich nicht noch unterstützen muss. Aber, da ich mir vorgenommen habe, meiner Nerdigkeit stärker nachzugehen, beginne ich mit folgendem Satz: „Neulich habe ich diese Arte-Doku gesehen, die musst du dir unbedingt reinziehen!“. Genauer genommen wurde die Reportage Spiderman – Hero of Resistance bereits vor einem Jahr im Mai vom britischen Guardian ausgestrahlt.

Nach einer 30jährigen Diktatur kam es seit Dezember 2018 Revolution im Sudan, welche im Oktober 2021 durch einen Putsch niedergeschlagen wurde, um eine Militärdiktatur zu errichten. Anfang 2022 äußerten sich auch Sudanesische Anarchist*innen zu den Auseinandersetzungen. Nach wie vor halten die Proteste an, werden protestierende Menschen inhaftiert, verwundet und getötet. In der Hauptstadt Khartoum tritt dabei jener Aktivist in Erscheinung, um den sich die Reportage dreht: Ein junger sudanesischer Mann, der in einem sportlichen Spiderman-Kostüm in die Öffentlichkeit geht. Es handelte sich um eine beeindruckende Person, die konsequent eine Politik der ersten Person und die direkte Aktion vertritt.

Spiderman ist offenbar bei allen größeren Demonstrationen zugegen. Freudig und trotzdem völlig selbstverständlich wird er von Protestierenden begrüßt, die ab und an ein Selfie mit ihm schießen, aber ihn ansonsten nicht glorifizieren. Er heizt mit enthusiastischen, siegesgewissen Parolen die Stimmung an. Er sucht nach Wegen, wo man Polizeisperren umgehen kann. Er steht in der ersten Reihe und wirft Steine. Schließlich wird er wie viele andere von einem Hartgummigeschoss getroffen, verwundet und zieht sich zurück.

Nicht weniger als dieses Engagement in den Straßenkämpfen beeindruckt aber seine alltägliche widerständige Beschäftigung: Er bringt einer Gruppe von sieben Waisenkindern bei, im Leben zu bestehen. Er zeigt ihnen Kampfsportelemente, damit sie sich verteidigen können, baut mit ihnen gemeinsam einen eigenen Roboter, bringt ihnen offenbar auch sonstige schulische Grundbildung bei. In der vorletzten Szene machen sie eine Exkursion zu antiken Kultstätten des vergangenen nubischen Königreichs Kush, dass seit 800 v.u.Z bestand. Nachdem er den Kindern hilft, die Dünen zu erklimmen, ist seine Botschaft an sie: „Wenn ihr mutig seid, könnt ihr alle Königinnen und Könige“ sein. Offensichtlich unterstützt er dabei Mädchen und Jungen gleichermaßen. Die Aussage bedeutet eben nicht die idiotische Behauptung „Jeder ist seines Glückes Schmied“, sondern: „Wir können miteinander kämpfen und leben, frei und gleich, wenn ihr alle eure Würde bewahrt.“

Revolutionäre Situationen bringen sicherlich immer auch verschiedene Einzelkämpfer*innen hervor, die beispielsweise davon erschüttert sind, dass ihr bester Freund während der Proteste ermordet wurde. Traumatische Erfahrungen können zur Verbitterung führen und grausame Rächer*innen hervorbringen, welche selbst z.B. Folter anwenden. Sie können aber auch Held*innen hervorbringen, wie diesen Protagonisten der anhaltenden Sudanesischen Revolution. Dabei handelt er nur konsequent, wenn er beschließt, diese Rolle anzunehmen und zu spielen, indem er als Spiderman auftritt.

Sein Handeln ist als anarchistisch zu interpretieren, weil seine Praktiken und seine Motivation offensichtlich ermächtigend auf seine Mitmenschen wirkt. So formuliert er eindeutig, dass es ihm um die Ermutigung seiner Mitmenschen geht, wie er sich selbst auch ermutigen will im Kampf gegen ein autokratisches Regime. Sein Aktivitäten sind nicht in eine politische und eine private Sphäre getrennt, sondern umfassen das alltägliche Leben, genauso wie die Ausnahmesituation des Protests.

Gleichwohl ist sein individuelles Handeln – dessen Stärke auch aus seiner Religiosität hervorgeht – kollektiv orientiert. Im Widerstandskomitee wird er als Gleicher unter anderen Akteur*innen akzeptiert und verständigt sich mit ihnen, anstatt bloß zu tun, was ihm einfällt. Weil er auch in seinen Positionen nichts Besonderes sein will trägt er auch die Sudanesische Flagge, als Zeichen einer demokratischen Revolution. Dennoch geht mit der Art seiner Aktivitäten über diese hinaus, kämpft nicht für eine andere Regierung, sondern für eine umfassende Emanzipation.

Auffällig ist die Selbstverständlichkeit, mit welcher Spiderman auf der Straße begrüßt und gefeiert wird, ohne das er ungeheuer überhöht werden würde. Dementsprechend betont er auch, dass er mit der Verkleidung seinen persönlichen Ausdruck für einen militanten Aktivismus gefunden hat, wie auch andere ihren finden sollen. Damit gerät er verständlicherweise auch in den Fokus der Sicherheitsbehörden, denen solch populäre und überzeugte Militante ein Dorn im Auge sind.