
Vor einer Weile erhielt ich einen wütenden Text, welcher sich gegen mich richtete und mit welchem ich vermeintlich polemisch angegriffen wurde. Da diese Diffamierung gegen mich vermutlich ohnehin irgendwo in Textform zirkulieren wird, habe ich mich entschieden, ihr zumindest an dieser Stelle entgegenzutreten. Da meine Antwort leider wieder mal sehr lang ausgefallen ist, werde ich diese ungefähr wöchentlich nach und nach in sieben Teilen veröffentlichen. Meine Kritik geht dabei über den Ursprungstext Ein Psychogramm des post-bürgerlichen Individuums und seiner alter egos weit hinaus, um auf dahinter liegende Themen zu sprechen zu kommen.
Ansonsten ist mir schon klar, dass derartige Auseinandersetzungen letztendlich nur eine handvoll Personen interessieren. Die Zeit und Nerven wären bei vielen Tätigkeiten weit sinnvoller eingesetzt. Insofern sind meine Entgegnungen als unabgeschlossene Selbstreflexionen zu verstehen, nach denen ich mich wieder Wichtigerem zuwende. Auf Vorschlag meines Kontrahenten nenne ich diesen „Frankensteins Monster“, kurz „Framo“.
Die Vorwürfe von Framo wiegen schwer. Ich würde mich dem Staat anbiedern, ihm Wissen von und über Anarchist*innen zur Verfügung stellen und Geld von ihm beziehen. Entweder täte ich das wissentlich – und würde damit „den“ Anarchismus verraten – oder mir wäre das nicht bewusst – dann wäre ich ein dummer Lakai.
Fangen wir mit meiner Besoldung an: Ich hatte bisher nie eine Stelle an einer Universität, sondern seit 2019 lediglich Lehraufträge gehabt. Für ein Seminar erhalte ich das gesamte Semester 870€. Das sind 30 Stunden à 29€. Mindestens genauso viel Zeit muss ich die Texte selbst (noch mal) lesen. Dazu kommen regelmäßiger Emailaustausch, die Zusammenstellung des Seminarplans und die Begutachtung von Hausarbeiten. Alles in allem würde ich sagen, dass der Zeitaufwand viermal so hoch ist wie die bezahlten Stunden. Vor allem, weil ich mir auch Mühe damit gebe. Damit käme ich bei einem Stundenlohn von ca. 7,25€ heraus. Das ist nun wirklich nicht viel. Hinzu kommt aber noch, dass ich seit Oktober 2022 HartzIV beziehe. Vom „Gehalt“ kann ich also auch nur ca. 100€ pro Monat dazu verdienen. Zuvor habe ich anderthalb Jahre einen Bundesfreiwilligendienst gemacht. Und davor habe ich von der Rosa-Luxemburg-Stiftung drei Jahre lang ein Promotionsstipendium bezogen, weil ich ein innovatives Thema hatte, keinen besonders privilegierten Hintergrund, strebsam war und uneigennützig jahrelang „aktivistischen“ Tätigkeiten nachgegangen bin. Dafür an dieser Stelle noch einmal vielen Dank! Bis dahin habe ich im Wesentlichen immer unter der Armutsgrenze gelebt und mich daran gewöhnt. Mein Reichtum war nicht materieller Art, sondern bestand in Bildungszugängen, sozialen Kontakten und vor allem der freien Verfügung über einen großen Teil meiner Lebenszeit.
Übrigens musste und muss ich diese Seminare gar nicht machen, sondern tue das freiwillig. Wenn sich jemand dermaßen von einer staatlichen Institution ausbeuten lässt, muss sie oder er dafür bestimmte Gründe haben. Es könnte die Spekulation auf eine Karriere sein – doch die habe ich mir vermutlich verbaut. Es könnte ein altruistisches Bedürfnis sein, der Gesellschaft etwas zurückgeben zu wollen – davon bin ich immer noch nicht ganz losgekommen. Oder es handelt sich um die Überzeugung davon, mit dieser Tätigkeit etwas Sinnvolles zu tun. Und ja, dieser Meinung bin ich. In einem sehr begrenzten Rahmen gestalte ich einen Raum an einer Uni, wo wir uns andere Inhalte auf andere Weise erschließen, als es in diesem Betrieb üblich ist. Wenn mir genau dafür jemand so viel Geld geben würde, dass ich davon leben kann, würde ich es nehmen. Aber es hat bestimmte Gründe, dass es dafür nur ein paar Nüsse gibt und ich mich von der Freude an der eigenen intellektuellen Arbeit mit (bestimmten) Studierenden ernähren muss.
Framo prangert weiterhin an, dass ich „dem“ Staat durch meine Literatursammlungen, Veröffentlichung und Blogbeiträge Wissen zur Verfügung stellen würde, auf welcher jener sonst nicht zugreifen könnte. Dies zeigt die Unfähigkeit meines Konkurrenten in gesellschaftlichen Kategorien zu denken. Denn primär stelle ich das Wissen all jenen zur Verfügung, welche sich dafür interessieren. Und da ich anarchistisches Denken und Handeln stärken möchte, mache ich das öffentlich und allgemein. Die Repressionsapparate des Staates interessiert Wissen und Denken unserer Strömung nur insofern, wenn sie damit eventuelle Textproduktionen zuordnen und Menschen kriminalisieren können.
Gegnerische Intellektuelle interessiert es vor allem dann, wenn sie Anarchist*innen in der Öffentlichkeit damit stigmatisieren, infantilisieren und dämonisieren können, wenn sie unsere Argumente verdrehen und unsere Sichtweisen verzerren. Umso mehr braucht es meines Erachtens nach Aufklärung darüber, worum es in den verschiedenen Ausprägungen des Anarchismus geht. Hierzu bediene ich mich teilweise auch der „grauen Literatur“, also Texten, welche nur in speziellen Kreisen und an bestimmten Orten zugänglich sind. Dies tue ich, weil ich es wichtig finde, Menschen zu zeigen, dass nicht ich oder andere in meiner Position ihre Gedanken aus sich selbst heraus entwickeln, sondern, dass es ausgiebige und umfassende Debatten in anarchistischen Szenen gibt. Dass interessierte Personen also selbst mal ihren Arsch hoch kriegen und beispielsweise in einen Infoladen gehen sollen, wenn sie tiefer in diese Debatten eintauchen wollen. Ich werde allerdings in Zukunft darauf achten, dass ich kein Texte kommentiere oder wiedergeben, die nur als Printform gedacht und nicht für das Internet gedacht sind. Insgesamt sind meine Quellen aber allgemein zugängliches Wissen aus Bibliotheken, linken Verlagen oder Internetseiten.
Am ehesten habe ich Sorge, dass Faschisten meine theoretischen Entwicklungen verfolgen. Da ihre Theorie selbst nur ein jämmerlicher Abglanz wirklichen Denkens ist – egal, wie sehr irgendwelche Identitären, Burschis und sonstigen Vertreter der sogenannten Neuen Rechten sich irrigerweise auch für eine geistige Elite halten – sie studieren und adaptieren sie die Innovationen ihrer Feind*innen. So wurde George Sorel aufgegriffen und die Theorie Antonio Gramscis; so haben blöde Arschlöcher wie Murray Rothbart und Stefan Blankertz den sogenannten „Anarcho-Kapitalismus“ verbreitet und fälschlicherweise als Variante des Anarchismus ausgegeben. Auch dagegen gilt es meiner Ansicht nach am besten vorzugehen, indem unter anderem die politische Theorie und Ideengeschichte des Anarchismus breiter bekannt gemacht wird.
Drittens, was versteht Framo überhaupt unter „dem“ Staat. Was meint es mit der vermeintlich investigativ wähnenden Internetrecherche darüber, welche Geldgeber Universitäten finanzieren? Seine Aufzählung ist dahingehend lächerlich, als dass in ihr bereits erkenntlich wird, dass Staat eine Institutionenansammlung ist, welche u.a. aus Ministerien, Fonds, Stiftungen, Kommunalverwaltungen, staatlichen Betrieben, Sozialstaat und Repressionsstaat besteht. Ihr gemeinsamer Nenner besteht vor allem darin, dass diese Institutionen von erhobenen Steuern finanziert werden, diese verteilen und investieren und dass in ihnen eine bürokratische Logik wirkt. In dieser Hinsicht sind sie dem Gesamtzusammenhang staatlicher Herrschaft zugeordnet, die sich auf verschiedene Ebenen und Bereiche erstreckt. Um Staatlichkeit als Herrschaftsverhältnis begreifen zu können, müsste ebenso seine ideologisch-imaginäre Dimension einbezogen werden. Für Framo ist „der“ Staat eine moralisch aufgeladene äußerliche Instanz, welche sich als eine einzige fassbare Entität einfach so angreifen und zerstören ließe. Hierbei handelt es sich um ein extrem verkürztes Verständnis davon, wie Staatlichkeit als politisches Herrschaftsverhältnis hervorgebracht wird, sich aufrecht erhält und funktioniert. Mit einem adäquaten Staatsverständnis muss die Kritik an der Universität in diesem Zusammenhang nicht lauten, dass sie staatlich finanziert ist, sondern, dass sie selbst eine staatliche Institution ist – egal, wie das Kompetenzgerangel und das Selbsterhaltungsinteresse zwischen diesen aussehen mag. Der Staat „verbirgt“ sich nicht hinter den Institutionen, welche Framo bei seiner Internetrecherche schnell ausfindig macht, sondern ist die erwähnten Institutionen. Dennoch gibt es innerhalb dieser Unterschiede.
Der moderne Staat wurde systematisch ausgeweitet und reguliert nahezu alle gesellschaftlichen Sphären. Dies ist zu kritisieren, auch wenn der demokratische Staat Partizipation ermöglicht, die Privatsphäre der Bürger*innen und die Eigendynamik von sozialen und wirtschaftlichen Prozessen ermöglicht, wo sie ihm nicht gefährlich werden. Die Logik von Staatlichkeit ist dennoch totalitär insofern sie auf die Regulierung und politische Beherrschung der gesamten im unterworfenen Bevölkerung abzielt. Gerade aufgrund der Größe dieses Herrschaftszusammenhangs, sind seine Institutionen und Personen diesem zu sehr unterschiedlichem Grad zugeordnet. Mit anderen Worten macht es einen riesigen Unterschied, wie Lehrer*innen ihren Unterricht, Sozialarbeiter*innen ihre Unterstützung, Pfleger*innen ihre medizinische und Sorgearbeit usw. gestalten. Sie alle stoßen an die Grenzen des staatlichen Kapitalismus, welcher diese gesellschaftlich notwendigen Funktionen den Zwecken der Verwertung und Beherrschung unterordnet.
Und so stoße auch ich an die Rahmenbedingungen unter denen ich einen Job in einer akademischen Institutionen ausüben könnte oder eben mein Seminar gebe. Dies ist ein Themenfeld, mit welchem ich mich fortlaufend auseinandersetze, um meine Handlungsmöglichkeiten so zu gestalten, dass ich – im begrenzten Rahmen – ein Bildungsformat ermöglichen kann, dass es sonst gar nicht geben würde. Natürlich zeigt das Institut für Politikwissenschaften damit, wie vermeintlich liberal, tolerant oder progressiv es ist, um im selben Zuge genauso langweilige und herrschaftssichernde Inhalte, Formen, Ideologien, Denk- und Verhaltensweisen vermitteln zu können. Dies ist ein grundsätzliches Problem, mit dem ich so umgehe, dass ich an diesem Ort einen Unterschied mache und also verdeutliche, dass Formen und Inhalte gestaltbar sind. Ich denke auch, dass ich damit schon einigen Personen wirklich helfen konnte. Dass ich damit wo ganz anders hin möchte, ist ebenfalls klar. Deswegen bin ich auch nur sehr sporadisch an der Uni tätig, sondern suche mir lieber andere Formate, abseits davon.
Um es kurz zu machen: Framo hat eigentlich keinen Schimmer wovon es spricht, wenn es von „dem“ Staat schreibt. Stattdessen gibt es Personen, die sich damit auseinandersetzen, was dieser ist und sich teilweise in Widersprüche verstricken, wenn sie in staatlichen Rahmen handeln. Dem steht nicht per se entgegen, sich als Anarchist*in zu verstehen und Staatlichkeit als Herrschaftsverhältnis überwinden zu wollen. Nur geht es hierbei um ein differenziertes Verständnis eines umfassenden Gesamtzusammenhangs, den es abzuschaffen und durch Föderationen dezentraler autonomer Kommunen graduell zu ersetzen gilt. Wie das geschieht, was dazu beiträgt, dafür gibt es sehr verschiedene Wege und Mittel und meiner Ansicht nach keine pauschalen Antworten, sondern muss am jeweiligen Fall diskutiert werden.