Blumen über den Winter retten

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Einer, bei dem die antideutsche Regression ebenfalls um sich griff, fragte mich, wozu ich vor habe zu sprechen bei dem Kongress, antwortete ich: Zu sozialer Revolution und Anarchismus, das Übliche eben. Darauf hin meinte er zu mir: „Blumen über den Winter retten“. Ich sagte, mit Blumen hätte ich eigentlich überhaupt nichts am Hut, aber falls ich mal wieder nach Holland fahren sollte, würde ich mich damit vielleicht doch mal beschäftigen. Damit hatte sich das Gespräch erledigt.

Später ging mir allerdings auf, was ich da von meiner Großmutter geerbt haben könnte. Als sie im hohen Alter die ersten Mal in ihrem Leben vor einem Computer saß und sich diese Teufelsmaschine nach vielen Jahren hartnäckiger Technikverweigerung dann doch erklären ließ, um die jüngeren Generationen etwas besser verstehen zu können, tat sie Folgendes: Sie gab in Suchmaschine Begriffe ein, die zu Blumenbildern führten und fand kitschige elektronische Postkarten, die sie an ihre Verwandten und Bekannten verschickte. Da verstand ich zweierlei: Einerseits, dass die Suchanfragen im Internet einerseits sehr gut das Bewusstsein und die Interessen von Personen widerspiegeln. Andererseits, dass die Blumen meiner Oma wirklich wichtig waren. Sie halfen ihr, die in der Nachkriegszeit als Kind gehungert hatte, über all das Elend hinweg zu kommen, was sie gesehen und erlebt hatte. Darin allerdings war sie keine Biedermeierin. Meine Oma hatte nie an einer Revolution teilgenommen. Aber wenn sie es getan hätte, hätte ihr dies gut getan.

Denn die Biedermeier waren gescheiterte progressive Bürgerliche, die sich von der Französischen Revolution hatten begeistern lassen und die revolutionäre Stimmung in den deutschen Ländern verbreiten wollten. Doch ihnen schlug der harte Gegenwind der herrschenden Klassen entgegen und sie fanden sich wieder, eingesperrt im finsteren Kerker, wo alles sind rein vergebliche Werke. Als sie wieder rauskamen, kultivierten sie ihren gebrochenen Veränderungswillen im konformistischen Rückzug ins Private. Die einen dienten sich so der Obrigkeit wieder an, die anderen mögen zumindest eine kritische Grundhaltung aufrecht erhalten haben. Jedenfalls malten sie dann spießige Landschaftsbilder und begannen Blumen zu züchten.

Die Blumenzucht war auch eine der Leidenschaften des Frühsozialisten Charles Fourier, dem megalomanischen Theoretiker der Leidenschaften. Als er 1837 in seiner Pariser Wohnung starb, fand man die Wohnung voller Pflanzen und Blumen in ein einziges, wohl geordnetes Gewächshaus verwandelt. Auch in seinen Texten bringt er Beispiele für die richtige Anordnung der verschiedenen Blumenzüchter, damit sich alle genau um jene Blumen kümmern konnten, die ihnen entsprachen. Fourier hatte wie so viele Leute seine Probleme mit der Welt. Im Unterschied zu vielen anderen beschäftigte er sich deswegen aber sehr eingehend mit Überlegungen zu den Ursachen der Probleme in der Welt – und ihrer Verbesserung. Eines der ganz grundlegenden Probleme schien ihm dabei das Chaos in der Welt zu sein, die schlechte Ordnung der Herrschenden, die blödsinnige, willkürliche Anordnung der Dinge, die auf diese Weise ja gar nicht in harmonischen Austausch und Übereinstimmung gebracht werden konnten. Daher also Fouriers Leidenschaft für die Blumenzucht: In ihr konnte der aufgewühlte Fourier Ruhe im Schaffensprozess finden und zusehen, wie alles seine Ordnung hatte, wo ihn keine grobschlächtigen Gewalttäter störten.

Vor einigen Jahren fand ich mit einem ähnlich sensiblem Freund ein Buch auf der Straße. Es war in der Zeit von Nazi-Deutschland herausgegeben und behandelte die Flora und Fauna. Womöglich war es ein Schulbuch, wahrscheinlich dann: „Heimatkunde“, wie es auch in meiner Grundschulzeit noch hieß. Aber daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Was sich bei aber eingeprägt hat, war, wie den ordnungsliebenden Freund*innen einheimischer Blumen und Kräuter, eindringlich die Bedrohung durch ausländische parasitäre Unkräuter, eingehämmert wurde. Den Zeilen deutlich zu vernehmen war, dass das blumige Glück stets auf Messers Scheide stand und der vermeintlich ursprüngliche organische Heimatkreislauf bereits durch und durch unterwandert war. Hier sollte also Ordnung geschaffen werden, die auf imaginierter Ursprünglichkeit beruhte. Zweifellos sollte dies nicht durch die zärtliche Hand eines an seiner Welt verrückt gewordenen, hochgradig sensiblen, fourieristischen Gärtners geschehen, der die Einzigartigkeit einer jede Existenz feierte, weil er erkannt hatte, dass sie im kosmologischen Zusammenhang alle ihren Sinn und Platz hatten. Vielmehr lautet der Appell an den gewalttätigen Gärtner, der Blumen von Unkraut scheidet, erstere auf Linie bringt und letzteres auf dem Reisighaufen verbrennt.

Wenn ich darüber nachdenke, kann ich von mir keineswegs behaupten, ein Blumenretter zu sein. Wenngleich ich einige Jahre als abgerissener Halunke herumlief und mich in meinem Dasein als unverstandener rudeboy eingerichtet hatte, war ich auch nie ein Blumenkind. Das zeigte sich auch, als ich diese Blume von meiner ersten Freundin hatte. Es war eine Orchidee oder so etwas. Nachdem wir uns getrennt hatten, kümmerte ich mich nicht mehr um sie. Wie es kommen musste, starb sie also so langsam vor sich hin. Wassermangel war dabei nur ein Faktor. Ich hätte sie mal ins Licht stellen oder ihre Boden auflockern müssen und dergleichen. Unbestritten ist dies auch traurig und war nicht schön meinerseits. Aber irgendwie brauchte ich das vermutlich – Doch mein Daumen wurde bis heute nicht grün. Es ist schon traurig, aber ich stelle fest: In meinem derzeitigen Zimmer gibt es gar keine Pflanze.

Wenn ich das in Abgleich sehe: Ich musste nicht die Widrigkeiten ertragen wie meine Oma, bin noch kein gescheiterter Spießbürger, habe mein Ordnungsbedürfnis reflektiert und muss es nicht mehr zwanghaft pflegen, bin resistent gegen Heimatkraut und offen für die Vielfalt.

Als mir der Genosse in spe mir also unterstellte, ich würde mit meinen Themen, also mit meinen Aktivitäten insgesamt, „Blumen über den Winter retten“ wollen, hatte er sich gewaltig geirrt. Im Unterschied zu ihm bewahre ich mir meine Sensibilität und meine Würde, indem ich kämpfe und etwas will. Statt mich selbst in meinem Opferstatus einzurichten und mir dabei vorzumachen, ich sei der unverfügbaren Welt gegenüber erhaben. Ja, ich gebe es zu: Statt meine Zeit damit zu verschwenden, mir sonst wie bescheuert-klug zu beweisen, dass alles sinnlos und hoffnungslos sei, um weiterhin ignorieren zu können, dass die Sinnlosigkeit und Hoffnungslosigkeit ein Produkt der Gesellschaftsform ist, in der wir leben, möchte ich lieber etwas daran verändern. Das ist eine Grundhaltung, die man teilen kann oder nicht. Und dennoch ist die eigene Haltung nichts, was vom Himmel fällt, sondern etwas, dass wir erkämpfen und erfahren, wofür wir uns trotz allen Bedingtheiten entscheiden können.

Idiotisch ist, wer jegliche Vergemeinschaftung per se ablehnt, hinter jedem Weltbild an sich „Ideologie“ wittert und die Erzeugung von Sinn und Hoffnung als instrumentell brandmarkt. Er will nichts, kann nichts und will nichts können wollen. Dazu nämlich müsste er an seinen eigenen Dogmen rütteln. – Als ich dies verstanden habe, verstand ich auch: Er ist der eigentliche Blumenretter. Trotz allem zur Schau getragenen Zynismus, ist er im Grunde genommen der verkappte Hippie, dessen romantisches Blumenzucht-Hobby gerettet werden soll. In seinem schönen Garten möchte er der Welt entfliehen und tut es womöglich bisweilen, um überhaupt noch Mensch zu bleiben. Doch es handelt sich um ein Glashaus, dass einstürzen muss, wie es schon so oft eingestürzt ist. Es ist zwar langweilig und grob, doch statt Blumenzucht widme ich mich da lieber der Feldarbeit. Nicht gegen die zarten Pflanzen, aber ebenso wenig in ihrer Verklärung und damit auch Abwertung aller anderen.