
Der Beitrag von Alexander Behr im Sammelband „Unbedingte Solidarität“ hat mich besonders feststellen und regelrecht berührt, muss ich sagen. Seine Schlussfolgerungen für eine Art radikale Realpolitik angesichts der globalen Klimakrise und postkolonialer Abhängigkeiten würde ich nicht teilen. Zumal mir unklar ist, was er unter „Militanz“ versteht, dass er in ihr kein Potenzial sieht. Dennoch überzeugte mich seine Argumentation, die zutiefst vom Glauben an die Möglichkeit von grundlegender Gesellschaftstransformation geprägt ist. Dieser ist aber keine romantische Projektion, sondern speist sich aus dem Engagement unter anderem im Netzwerk Afrique Europe Interact und der Begegnung mit diversen Personen, an deren Lebensgeschichte die postkoloniale Ausbeutung besonders deutlich wird. Sehr beeindruckend, wie ich finde. Hier ein kleiner Auszug.
Alexander Behr, Revolutionäre Dringlichkeit. Thesen zu den Voraussetzungen und Umsetzungsstrategien für globale Solidarität, in: Lea Susemichel / Jens Kasnter (Hrsg.), Unbedingte Solidarität, Münster 2021.
„Solidarität ist ein alter Begriff: Viele Generationen haben sich unter der Erbringung hoher Opfer für Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit, also Solidarität eingesetzt. Die praktischen Gehversuche, die aus den drei großen gesellschaftliche-emanzipatorischen Entwürfen des 19. und 20. Jahrhunderts entstanden sind und die mit dem Begriff der Solidarität verknüpft sind, also Sozialdemokratie, Anarchismus und Kommunismus, sind, gemessen an ihren Ansprüchen gescheitert: Die Sozialdemokratie wurde vom kapitalistischen System kooptiert. Der Anarchismus hat stets verweigert, die Machtfrage zu stellen und blieb deshalb (mit Ausnahme der Spanischen Republik in den 1930er-JAhren) meist auf sehr eingegrenzte Milieus und geografische Räum beschränkt. Kommunistische Ansätze glitten in autoritäre und mörderische Regime ab. Um die Bedingungen für unser Handel zu diskutieren, müssen wir uns also mit der Geschichte der Solidaritätsbewegungen auseinandersetzen.
Wir müssen sie kritisch prüfen und ausloten, welche Stränge und Traditionen wir aufgreifen können. Denn nicht alle Bewegungen und Ansätze, die der herrschenden Ordnung entgegenstehen, sind den Prinzipien der globalen Freiheit, Gleichheit und Solidarität verbunden. Oft meinen wir jedoch, im Feind unseres Feindes unseren Freund zu erkennen. Im Glauben, einen wie auch immer gearteten Hauptwiderspruch zu bekämpfen, lassen wir uns dazu verleiten, zu autoritären Mitteln zu greifen, die einem sogenannten höheren historischen Zweck dienen sollen. Dieses Denken ist fatal und kann in mörderische Sackgassen führen, wie die Geschichte der Linken im 20. Jahrhundert vielfach gezeigt hat. Wir stehen vor der gewaltigen Herausforderung, uns über längere Zeit auf tatsächlich breite, inklusive und offene Prozesse einzulassen, die den Nachteil haben, oftmals mühsam und langwierig sein zu können.
Damit diese Prozesse gelingen können, kann es hilfreich sein, Traditionslinien aufzugreifen, die vom autoritären Kommunismus verschüttet wurden – für diese Traditionslinien stehen neben vielen anderen Alexnaer Berkman, Emma Goldman oder Victor Serge. Ihnen gelang es, ökonomische Gerechtigkeit und individuelle Freiheit zusammenzudenken und nicht gegeneinander auszuspielen. Sie organisierten sich in den Grauzonen zwischen Unterstützung der Bolschewiki und anarchistischer Dissidenz und wandten sich oftmals enttäuscht und angewidert vom Bolschewismus ab – viele ihrer Genoss*innen wurden ermordet. […]
Was die historische Sozialdemokratie betrifft, so hat sie zwar einen riesigen, kaum zu unterschätzenden Beitrag dazu geleistet, nach entbehrungsreichen Kämpfen die Interessen der europäischen Arbeiterinnen und Arbeiter in das westliche Fortschrittsmodell einzubinden. Solidarität ist von jeher einer ihrer zentralen Grundpfeiler. Doch die Sozialdemokrat*innen verzichteten beim Übergang zum 20. Jahrhundert Stück für Stück darauf, ein trans- oder besser: antinationalistisches Bewusstsein von Solidarität zu fördern und zu entwickeln. Die Zustimmung zu den Kriegskrediten in Deutschland zu Beginn des Ersten Weltkrieges markiert ihren Sündenfall. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts trug die Sozialdemokratie oder zumindest ihre hegemonialen Strömungen den fordistischen Klassenkompromiss mit. Sie verstärkten die Idee des Nationalstaates und seine identitäre Bindung. Sie halfen dabei, ein exklusives Wohlstandsmodell aufzubauen.
So fehlt in den Gesellschaften des Westens heute weitgehend ein internationalistisches, ja globales Bewusstsein. Ganz im Gegenteil: Für die Aufrechterhaltung der Konsumgesellschaft in den westlichen Ländern ist die neokoloniale Zurichtung unzähliger Länder des Südens, die Ausbeutung der Ressourcen und die Zerstörung des Klimas weiterhin eine notwendige Voraussetzung. Als logisches Resultat wurde die Herausbildung eines globalen Klasseninteresses blockiert.
[…]
Die traditionellen Strömungen der Linken im 19. und 20. Jahrhundert bieten unzählige positive Anknüpfungspunkte – nicht zuletzt was das Thema Antifaschismus anbelangt. Ich vertrete aber die These, dass sie für sich genommen in vielerlei Hinsicht nicht in der Lage sind, auf die tiefe sozial-ökologische Krise des Planeten adäquate Antworten zu liefern. Gerade in Hinblick auf die Klima- und Umweltzerstörung müssen neue Konzepte erprobt werden. Der starke Glaube an den technischen Fortschritt und die Steigerung der Produktivkräfte, der in fast allen Strömungen der Linken im 19. und 20. Jahrhundert vorherrschend war, taugt nicht als Rezept zur Überwindung der Umwelt- und Klimakrise.“
(177ff.)