Auftaktrede zur Landauer-Veranstaltungsreihe

Lesedauer: 6 Minuten

Eine recht frei runtergeschriebene Rede. Gehalten am 29.10. im Pöge-Haus.

Mensch – Geschichte – Revolution

Zur Aktualität des kommunitären Anarchismus Gustav Landauers

Herzlich Willkommen zur Buchvorstellung von Paul Stephan „Links–Nietzscheanismus. Eine Einführung“.

Als Mitorganisator unserer Veranstaltungsreihe zum kommunitären Anarchismus Gustav Landauers habe ich die Aufgabe übernommen, einige Worte zur Eröffnung zu dieser Veranstaltung und damit unserer Reihe zu sagen. Selbstverständlich werden wir sie durchführen, wenn auch den erschwerten Bedingungen, mit denen wir konfrontiert sind. Anstatt die aktuelle Situation einfach mit dem Anschein von Normalität zu überspielen, möchte ich zu Beginn einige Worte zum Elefanten im Raum loswerden. Die Corona-Pandemie wird zweifellos als Katalysator einer tiefgreifenden Veränderung des gesellschaftlichen Arrangements führen. Ob in Hinblick auf die Frage nach der Gewährleistung von Gesundheit, Arbeitsverhältnissen, Digitalisierung oder den Verwertungsschwierigkeiten des Kapitals im fortschreitenden 21. Jahrhundert werden wir in den nächsten Jahren zahlreiche Veränderungen erleben. Wir können uns nicht krampfhaft an das Alte klammern, denn sein Bestand ist unhaltbar geworden und vom Lauf der historisch-politischen Ereignisse überrollt worden. Peter Kropotkin, einer der wichtigsten Denker*innen des anarchistischen Kommunismus ging davon aus, dass in jeder Krise auch Chancen liegen, dass wir stets Potenziale suchen können, die uns zur Erkämpfung einer freiheitlichen, egalitären und solidarischen Gesellschaft motivieren können. Kommunistische und anarchistische Tendenzen gibt es für Kropotkin es auch in der heutigen Gesellschaft. Sie aufzuspüren und voranzubringen ist die Grundlage, um die neue Gesellschaft in der Schale der alten aufzubauen, zu organisieren, zu erkämpfen. Dies war auch die Herangehensweise des zeitgenössischen anarchistischen Denkers David Graeber, der bedauerlicherweise am 2. September gestorben ist.

Gustav Landauers Geschichtsphilosophie weicht von Kropotkin dahingehend ab, als das er keineswegs an eine Zwangsläufigkeit des sozialen Fortschritts durch die soziale Revolution glaubte. Anstatt sich zu fragen, ob das Glas der Geschichte halb voll oder halb leer ist, sah er auf seinen Grund. Erst die Konfrontation mit der Leere brachte ihn zur Überzeugung, dass wir selbst es sind, die Sinn und Inhalt von Geschichtsverläufen und Gesellschaftlichkeit gestalten können. Es gibt Leute, die sagen, wenn die Hoffnung stirbt, werde das Handeln beginnen. Bekanntlich mündet dieses dann in handzahme symbolische Aktionen und in Appelle an städtische oder nationale Regierungen, pro forma Notstände zu erklären, bar jenen Bewusstseins, was dies eigentlich bedeutet. Die Perspektive Landauers ist dagegen eine Andere: Aus der Erfahrung der Leere, erwächst für ihn jene Fülle, die uns bewusst werden lässt, dass „Hoffnung“ etwas ist, was es zu konstruieren gilt. Und konstruiert wird sie in und durch die Erfahrungen von tätigen und bewegten Menschen in emanzipatorischen sozialen Bewegungen.

Die Corona-Pandemie und ihre politische Bearbeitung offenbaren die Widersprüche der bestehenden Gesellschaftsformation und bringen auf unschöne Weise das Verdrängte zu Tage. Offenkundig wird dabei, was wir selbst oft nicht wirklich wahr haben wollen und zu überspielen gewohnt sind: Das wir in einer Klassengesellschaft leben, in welcher die Bedingungen für ein gutes, gelingendes und schönes Leben für alle extrem ungleich verteilt sind. Dies ist ein Skandal, den wir nicht aus humanistischen Erwägungen anprangern, sondern ihn als Rahmenbedingungen annehmen sollten, wenn wir die Auseinandersetzung um eine andere Gesellschaft angehen und dazu auch konfrontative Haltungen und Praktiken entwickeln wollen. Deutlich wird in diesen Zeiten, dass die Dinge nicht einfach sind. Durch das Management der aktuellen Krise und ihren Folgeerscheinungen wird die Erneuerung des Kapitalismus vorangetrieben, die zur weiteren Prekarisierung der Arbeits- und Lebensverhältnissen eines signifikanten Teils der Bevölkerung führt. Zugleich erneuert der Staat – verstanden mit Landauer: als Herrschaftsverhältnis zwischen Menschen, das nicht einfach „zerschlagen“ werden kann – in dieser Krise seine Souveränität und seine Legitimation, indem er sich als einzig effektiv handlungsfähige Institution inszeniert. Dies ist keine hohle Phrase, sondern geht auch aus dem Strategiepapier des Innenministeriums vom 27 März 2020 hervor. Die Form des Medienspektakels, die Instrumente der neoliberalen Technokratie und ihren Kommunikationsformen, als auch die staatliche Kontrolle von Affekten und Leidenschaften, sprechen tiefliegende Ängste von Menschen an und tragen bei einem Teil der Bevölkerung zum Unmut bei, welcher in irrationalen Verhaltensweisen und ideologischen Imaginationen kanalisiert wird. Anhang der wahnhaften, verschwörungstheoretischen Proteste konnte wir sie auf erschreckende Weise beobachten. Unterschiedliche Akteure profitieren von der tiefliegenden Angst, vor der Rückkehr des Verdrängten und dem ungreifbaren Gefühl, dass die Barbarei auf welcher unser Zusammenlebens gründet und die sie alltäglich produziert, nur durch eine dünne, brüchige Schicht der Zivilisation überdeckt wird. Eine Politik der Angst, wie sie von vielen nationalstaatlichen Regierungen in Zeiten der Krise betrieben wird – und welche beispielsweise Giorgio Agamben thematisiert – ist somit nicht allein Ursache, wohl aber Förderer von irrationalen Denk- und anti-sozialen, egoistischen Verhaltensweisen.

Dagegen scheint die Vorstellung, dass Gesellschaft sich als multiples und heterogenes Netzwerk selbst zu organisieren im Stande ist – was freilich einschließt, dass Menschen intentional handeln und sich bewusst organisieren – weitgehend abhanden gekommen zu sein. Das lässt sich nicht zuletzt an einigen hysterischen und konformistischen Reaktionen in der gesellschaftlichen Linken feststellen. Wenn ich eine derartige Perspektive einnehme, mache ich mich in der gegebenen Situation durchaus nicht beliebt. Dabei ist sie motiviert durch die Suche nach Ansatzpunkten für einen libertären Sozialismus, einer popularisierbaren Vision einer lebenswerten Zukunft, welche emanzipatorische soziale Bewegungen inspirieren und weiterentwickeln kann. Dies bedeutet zu aller erst, die zugeschobene – oft jedoch auch selbst gewählte – Rolle des Re-agierens, des Regiert-werdens, zu verlassen, sich selbst als historischen Akteure zu begreifen und zu setzen. Diese sind unweigerlich vor die Herausforderung gestellt, in Widersprüchen und auf unbekanntem Terrain zu handeln. Mit einer derartigen Herangehensweise wird das Risiko in Kauf genommen, Fehler zu machen und an den eigenen Ansprüchen zu scheitern. Dies ist etwas anderes, als bloß Recht zu haben und in einer Haltung der bloßen Negation zu verharren, welche letztendlich das Spiegelbild einer beschleunigten Gesellschaftsform und Lebensweise ist, in der wir in permanenter Getriebenheit lediglich unserer eigenen Ohnmacht zu entfliehen hoffen. Dagegen lädt uns Landauer ein, dass wir uns auf die Suche begeben, ausbrechen, aufbrechen und das Wagnis des neuen Unbekannten eingehen.

Gustav Landauer vertrat eine derartige Perspektive und scheute sich nicht an entscheidenden Punkten in seiner Rolle als intellektueller Antipolitiker in das Zeitgeschehen einzugreifen. Dafür spricht nicht zuletzt seine Verantwortungsübernahme während der Bayrischen Räterepublik, in deren Nachgang er am 2. Mai 1919 von Freikorps-Soldaten ermordet wurde. Landauer verstand Revolution im Unterschied zu vielen seiner sozialistischen Zeitgenoss*innen nicht als Großereignis, aus welchem mehr oder weniger zwangsläufig eine „befreite Gesellschaft“ hervorgehen müsste. Vielmehr sah er relativ wertfrei widerstreitende Tendenzen zugleich am Werk, weswegen er davon ausging, dass der Sozialismus bereits vorhanden sei, dass er experimentell entdeckt und mit ihm im Hier und Jetzt begonnen werden könne. Damit ignorierte er keineswegs die Rahmenbedingungen, in denen wir handeln und die uns auferlegt werden, betonte aber das es stets auch ein Element des Willens gibt, welches ein wirkmächtiger Faktor sein kann. Seine Vorstellung von einer dezentralen und föderierten „Gesellschaft der Gesellschaften“, von einem umfassenden Freier-werden, die über die Überwindung der Klassengesellschaft weit hinaus geht, ist zutiefst von der Überzeugung geleitet, dass Menschen das Potenzial, den Wunsch und die Fähigkeiten haben, ihre Lebensbedingungen selbst einzurichten und zu gestalten. Dahingehend lag es ihm fern, einen umfassenden Plan vorzulegen, war er sich doch im selben Zuge durchaus bewusst, dass sozialistische Alternativen nur von den Menschen selbst gefunden und gelebt werden konnten, die sich auf die Suche danach begeben.

In diesem Zusammenhang wird sein Eintreten für Kommunen, Genossenschaften und Siedlungsgemeinschaften plausibel, die als experimentelle Räume einer unmittelbaren Veränderungen des Miteinanders dienen sollten – sei es in den Produktionsformen, den kulturellen Formen oder den Seinsweisen. Landauer entfaltete sein sehr spezifisches, komplexes und darum oft unverstandenes Denken wesentlich beeinflusst von seiner Beschäftigung mit Traditionen der Mystik und der jüdischen Gedankenwelt, aus welcher er beispielsweise die Vorstellung des Exodus entlehnte. Dieses Verständnis von Zwischenräumen, die in der bestehenden Herrschaftsordnung überall aufbrechen und anbrechen und darum aufgesucht und erweitert werden können, als auch sein weiter historischer Horizont, erwiesen sich dabei als Vorläufer von theoretischen Figuren, wie sie viel später auch von sogenannten poststrukturalistischen Theoretiker*innen aufgenommen wurden.

Eng mit Überlegungen zu umfassender Autonomie verknüpft, liefern hier wiederum die erwähnten „Zwischenräume“ das Stichwort, mit welchen sich beispielsweise die Philosophin Eva von Redecker ausgiebig in ihrem Buch Praxis und Revolution von 2018 beschäftigt und damit einen fundierten Beitrag zur Wiederbelebung eines Transformationsverständnisses in der direkten Linie zu Landauer erarbeitet. Die „interstitiellen Räume“, von denen von Redecker ausgeht, wurden gleichwohl bereits vom Philosophen Simon Critchley in seinem Werk Unendlich fordernd von 2007 theoretisiert, weit früher allerdings – 1977 – von dem Anarchisten Colin Ward so bezeichnet.

Ähnlich wie Anarchistin Emma Goldman und auch der Anarcho-Syndikalist Rudolf Rocker, fand Landauer ebenfalls in Friedrich Nietzsches Philosophie eine wichtige Inspirationsquelle, mit der er sich auseinandersetzte und die ihn umfassend prägte. Schon in seinem 1893, mit 23 Jahren, geschriebenen Roman Der Todesprediger verarbeitet Landauer seine frühe Nietzsche-Beschäftigung. Ein große Thema dahinter wird im Anarchismus bis heute leidenschaftlich und kontrovers diskutiert: Es handelt sich um die Frage, wie es möglich ist – und möglich werden kann -, aus den gegebenen Bedingungen heraus Gemeinschaftsformen zu entwickeln, welche den Einzelnen keine neuen Zwänge auferlegen, sondern sie vielmehr zu sich selbst kommen lassen, als auch eine gemeinschaftliche Orientierung von Einzelnen in einer Konkurrenz- und Leistungsgesellschaft zu fördern. Gemeinschaften als Bünde des Freiwilligkeit und gemeinschaftlich orientierte Einzelne, die sich als Teil eines gesellschaftlichen Ganzen empfinden und begreifen können – dies ist Landauers Ausgangs- und Zielpunkt. Nietzsche kann hierbei möglicherweise Anregungen geben.