trigger-Warnung: Der folgende Beitrag entstand in einem Moment des Auskotzens, würde ein anderes Mal vermutlich anders geschrieben werden und wurde nicht noch mal überarbeitet.
Bedauerlicherweise kam es im Bekanntenkreis erneut zu einem ernsten Fall antideutscher Regression. Also zu einem Rückfall in Annahmen und Vorstellungen, die zwar früher schon teilweise falsch waren, teilweise aber auch ihren Grund und ihre Berechtigung hatten. Zunächst einmal gilt, das mich die antideutsche Kritik sehr geprägt hat und ich das nicht missen will. „Antideutscher“ selbst wurde ich dann jedoch nie. Dazu war es mir einfach zu deutsch, die bestehende Herrschaftsordnung zu affirmieren, anderen aus einer Position theoretischer Arroganz und Überheblichkeit zu erklären, was sie richtig oder falsch machen und von Selbsthass getrieben Abwertung anderer zu betreiben. Doch neulich war ich doch sehr überrascht, dass da einige Genoss*innen offenbar spürbar hängen geblieben sind, ich regelrecht einen Rückfall wahrnehmen musste. So etwas kann passieren. Deswegen schreibe ich ein paar Zeilen dazu.

In gewisser Hinsicht es logisch, zugleich aber auch merkwürdig, dass man in solchen Momenten, wo die Kontroverse ausbricht, also die Differenz zum Vorschein kommt, wieder auf ganz grundlegende Überzeugungen zurückkommt, die voneinander abweichen – obwohl wir jahrelange versucht haben, darüber im Gespräch zu bleiben und sie zu vermitteln. Dies betrifft:
1. Die Herangehensweise, auf die aktuelle gesellschaftliche Situation mit der Anregung zur sozialen Revolution zu antworten. Hierbei geht es nicht darum, dass alles mögliche in unserer Macht liegt, geschweige denn, dass wir alle mehr machen müssten. Es geht darum, wie wir an die Dinge herangehen. (Dazu braucht man also zunächst einmal einen Begriff von sozialer Revolution.) Anarchist*innen sagen, dass wir die neue Gesellschaft in der Schale der alten aufbauen können – das wir das Neue aus dem Alten herausschälen können. Dies ist kein reformerischer Ansatz, weil in ihm schon eine Distanz zum Bestehenden zum Ausdruck kommt, mit der etwas qualitativ anderes ermöglicht und erarbeitet wird. Praktisch sind es oft sehr kleine, alltägliche Kämpfe die dabei geführt werden und graduelle Veränderungen, die dadurch möglich werden. Wir* wollen immer mehr und weiter gehen – aber das hält uns nicht davon ab, dass zu tun, was uns sinnvoll und notwendig scheint. Vor allem, wenn es mit uns selbst zu tun hat und wir dort ins Handeln kommen, wo wir stehen.
2. Demnach halten es Anarchist*innen nicht für geboten, die bestehende Herrschaftsordnung gegen den aufkommenden Faschismus zu verteidigen, bevor dann an irgendeinem unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft emanzipatorische Kämpfe in ihrer ganzen Vielfalt und Kompliziertheit geführt werden könnten. Selbstredend ist die bestehende Gesellschaftsform besser als ein faschistischer System. Andererseits geht der Faschismus aus jener hervor. Deswegen bedeutet Antifaschismus die Bedingungen aufzuheben, aus denen der Faschismus hervor geht. Das ist eine langwierige Auseinandersetzung, aus welcher sich der libertäre Sozialismus herauskristallisieren kann, wenn wir unsere eigenen Inhalte, Ziele, Organisationen und Visionen weiter entwickeln. Dies ist möglich, weil das, wofür wir stehen, diametral dem Faschismus entgegen gesetzt ist. Damit ist es wiederum etwas anderes, als das Bestehende. Die ganze Erst-wenn-dies-dann-das-Logik der negativen Kommunist*innen ist Quatsch und stellt eine Verweigerung radikaler Politik dar. Kapitalismus, moderner Staat, patriarchale Kleinfamilie und Mitwelt-Unterwerfung waren nie und sind nicht die Voraussetzung für einen libertären Sozialismus, sondern Herrschaftsverhältnisse, zu denen es lebenswerte Alternativen gab und gibt.
3. Diese antideutscher Verweigerungshaltung entspricht einer Ablehnung jeglicher konkreter Utopie. Der Glaubensgrundsatz „Du sollst dir kein Bildnis machen“, wird von den Antideutschen offenbar nach wie vor orthodox verfolgt. Es gibt ja auch gute Gründe, sich keine Wunsch-Zukunft auszumalen. Denn dies kann völlig idealistisch sein oder sogar mit totalitären Ansprüchen einhergehen. Das wissen Anarchist*innen allerdings auch schon seit hundert Jahren und mehr. Es geht ihnen nicht darum eine ideale, harmonische Gesellschaft zu errichten (wie es die Kommis eben immer noch wollen), welche als völlig unrealistisches Bild ins Jenseits verlagert wird und an welcher gemessen das irdische Leben immer ein unsägliches Jammertal bleiben muss. Aber: Es geht ihnen um eine andere, qualitativ bessere Gesellschaft, den libertären Sozialismus, für welchen wir mit Anarchie im Herzen und Sinn kämpfen können. Das ist auch eine Frage der eigenen Macht und der politischen Kräfteverhältnisse. Zuvor allerdings, ist es eine Frage der Herangehensweise.
4. Mit ihrer idiotischen Haltung der reinen Negation, sprechen Antideutsche allen Menschen, die um ihren Lebenserhalt und ihre Würde zu ringen gezwungen sind, die Bedeutung ihrer Kämpfe ab. Diese finden logischerweise immer in widersprüchlichen Verhältnissen statt, die Erfolge wirken klein, immer wieder sind wir mit ihrem Scheitern konfrontiert. Das, was verwirklicht werden kann, erscheint oft gebrochen und unperfekt – aber es macht einen Unterschied. Qualitative Veränderungen sind nicht spektakulär, sondern finden in unsichtbar gemachter Graswurzeltätigkeiten statt. Anstatt anzuerkennen, dass es ganz konkret die Lebensbedingungen vieler Menschen zu verbessern gilt, ziehen sich Antideutsche auf eine arrogante Haltung zurück und ignorieren damit das Leid sehr vieler Menschen heute, die ausgebeutet, unterdrückt, entfremdet und entwürdigt werden. Sicherlich, man kann dies an einem ultimativen Leiden einer bestimmten Gruppe messen. Aber warum sollte man Leiden überhaupt bewerten und deswegen relativieren? Mit diesem Zynismus brechen Anarchist*innen, weil sie sich nicht vorrangig am Schlechten und unfassbar Schlimmen orientieren, sondern – damit dies nie wieder geschehen kann! – an dem, wie es anderes und besser werden kann.
5. Fatal ist überhaupt die dumme Arroganz der hängen Gebliebenen, mit welcher sie meinen, anderen die Welt erklären zu können, welche alle nicht ihren überzogenen Ansprüchen genügen. Wo „Kritik“ selbstreferenziell wird und keine Potenziale sieht, keine Weiterentwicklung anstrebt, ist sie nicht solidarisch. Eigentlich ist sie dann überhaupt keine Kritik mehr, sondern lediglich ein dummer Reflex, der des Öfteren schlichtweg lächerlich ist. Tatsächlich werden ihre vermeintlichen „Analysen“ falsch und greifen nicht, wo von einer „Gesamtscheiße“ ausgegangen wird, welche es als Totalität zu überwinden gälte – was per Definition nicht möglich ist, wenn man nicht auf ein göttliches Eingreifen setzt. Letztendlich verbirgt sich hinter dieser Haltung jener alte und problematische Anspruch Avantgarde zu sein. Dieser besteht absurderweise auch dort, wo gar keine Partei ist, die angeführt werden könnte, auch keine Bewegung, deren Erfahrungen mit jenen der Elfenbeinturm-Bewohner*innen übereinstimmen könnte.
6. Aber warum ist das so? Meiner Ansicht nach akzeptieren die Orthodoxen nicht die Bedingungen unter denen wir leben. Schlimmer noch, selbst viele Antifaschist*innen blicken ihren Feind*innen nicht wirklich ins Auge, obwohl sie sich ausgiebig mit ihren lokalen Nazis, deren Strukturen und Gruppen befassen. Dem Feind ins Auge zu blicken, bedeutet anzuerkennen, dass die Faschisten uns und andere umbringen wollen. Diese Aussage gebrauche ich nicht, um Politik im konservativen Sinne anzuregen. Sie ist eine schiere Tatsache, die uns zu Auseinandersetzungen aus Notwendigkeit führt, deren Rahmen wir* zunächst nicht gewählt haben. Wenn wir* uns aber als selbst-bewusste Akteure setzen, akzeptieren wir nicht einfach die vorgefundenen Bedingungen, sondern gestalten sie in unseren Auseinandersetzungen auf unsere Weise mit.
Zweifellos macht es Angst, sich auf das Feld der Auseinandersetzung zu begeben und darin für die eigene Position zu streiten; diese dabei weiter zu entwickeln. Wir* haben Angst, Fehler zu machen, unseren eigenen Ansprüchen nicht zu genügen und auf Abwege zu geraten. Das ist nur verständlich. Denn wir* werden Fehler machen, unseren eigenen Ansprüchen nicht genügen und auf Abwege geraten, wenn wir* uns in dieser Welt bewegen. Dies ist jedoch die einzige Möglichkeit, besser zu werden und voranzukommen. Die Frage ist nicht, ob wir Ängste haben, sondern wie wir mit diesen umgehen. Die meisten Irgendwie-Linken und unter ihnen die orthodoxen Antideutschen leugnen ihre eigene Ängste und wollen nicht lernen, mit ihren Ohnmachtsgefühlen umzugehen. Ihr Pseudo-Avantgardismus, ihr Zynismus und ihre Arroganz entspringt ja gerade den eigenen Ohnmachtserfahrungen. Es ist einfach bescheuert, diese Ohnmachtsgefühle zu erneuern, indem man sich weigert, voran zu gehen und Wagnisse einzugehen. Erst der Wille, die Ohnmacht hinter sich zu lassen, damit auch Anderen Wege zu ihrer Ermächtigung aufzuzeigen und sie darin zu unterstützen, ermöglicht, in die eigenen Hände zu nehmen, was wir realistischerweise selbst tun können – Darin liegt der Ursprung für die Unterschiede zwischen Anarchist*innen und antideutschen Kommunist*innen. Deswegen bleibt mir an dieser Stelle nur noch mal pointiert zu wiederholen:
„Die meisten Irgendwie-Linken reagieren mit Entsetzten, Panik oder mackerigen Sprüchen auf die Konterrevolution. Sie begreifen nicht und wollen nicht begreifen, was sich tatsächlich verändert hat und warum ihre alten Strategien nicht mehr aufgehen. Vor allem sträuben sie sich vor eigenen Positionierungen und ernsthaften, direkten Auseinandersetzungen. Ihr Gerede von ‚Gesamtscheiße‘ ist nichts mehr als eine hohle Phrase. Auch von ‚Kommunismus‘ blieb ihnen oft nur der Begriff übrig. Ihre ‚reine‘ Negation ist eine Sackgasse, mit der sich radikale Parolen und angepasste Lebensstile verbinden lassen. Ihre erhitzten Diskussionen darüber, was ‚die‘ Linken tun ‚müsste‘, ‚könnte‘, ’sollte‘, offenbart ihre Ratlosigkeit, und dass sie kaum von sich selbst ausgehen können.“
– Für eine anarchistische Synthese, S. 19.