Ergänzende und erweiternde Überlegung „Politik. Staatsmacht und Gegenoffensive“
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Ein weiterer Beitrag, in welchem ich meine Überlegungen zum Politikverständnis vom Anarchismus ausführe, aber auch kontinuierlich weiter entwickle.
In der letzten Ausgabe der GWR veröffentlichte Oskar Lubin einen Beitrag, in welchem er einige Überlegungen zum Umgang mit Politik formulierte. Dies bietet mir einen geeigneten Anlass, um auf meine eigene Arbeit hinzuweisen. Denn erst kürzlich habe ich eine Doktorarbeit zum Politikbegriff im Anarchismus an der Universität in Jena verteidigt und erfolgreich abgeschlossen. Diskussionen drüber, was wir überhaupt unter „Politik“ verstehen und welche verschiedenen anarchistischen Perspektiven und Positionen es in Hinblick auf sie gibt, lohnen sich. In meiner Dissertation arbeite ich heraus, dass das Politikverständnis im Anarchismus als paradox gelten muss.
Dieser postanarchistische Ansatz entspricht auch dem, was Lubin stark macht, um das anarchistische Denken zu erneuern. Denn wie er schreibt, bestehen im Anarchismus zwei Verständnisweisen nebeneinander „die sich nicht selten ergänzen: Die Politik von oben wird als hierarchisch und herrschaftlich abgelehnt, ihr wird die Politik von unten als wahre und eigentliche Politik entgegengesetzt“. Anders als Lubin bestreite ich, dass „anarchistische Praxis politisch ist“. Und zwar, um eine kritische Debatte darüber anzustoßen, welche Assoziationen wir mit „Politik“ haben. Im Folgenden möchte ich einige meiner theoretischen Grundgedanken dazu darstellen.

Das Spannungsfeld zwischen Politik und Anti-Politik
In seinem Buch „The Politics of Postanarchism“ von 2010 geht Saul Newman davon aus, dass es im anarchistischen Denken eine unauflösliche Spannung gibt. Wenn wir definieren, was „Politik“ ist, entsteht automatisch, wird damit zugleich ihr „Anderes“ ausgeschlossen und verdrängt. Dies benennt Newman mit dem Arbeitsbegriff „Anti-Politik“ und sagt, Ethik und Utopie wären Aspekte von ihr. Meiner Ansicht nach ergibt dieses Schema tatsächlich Sinn. Denn Politik wird in der modernen Gesellschaft tatsächlich in Abgrenzung zu anderen gesellschaftlichen Sphären (z.B. Ökonomie, Wissenschaft und Privates) formiert. In ihr gelten eigene Regeln und Logiken. Sie hat Zugangsbarrieren und bestimmte Sprachen. Weiterhin sind Ethik und Utopie im Anarchismus zweifellos besonders ausgeprägt und im Konflikt mit dem, was wir unter Politik verstehen.
Ergänzen würde ich auf Seite der Politik die Aspekte „Strategie“ und „Programm“, die im Anarchismus nicht umsonst stark umstritten sind. Wichtig ist, dass beide Pole aufeinander bezogen werden, aber nicht aufgelöst werden können. Es soll also nicht darum gehen, eine „ethische“ oder „utopische“ Politik zu betreiben, noch darum, Ethik und Utopie politisch um- oder gar durchzusetzen. Stattdessen geht daraus eine „Politik der Autonomie“ hervor, also das, wie Anarchist*innen in Auseinandersetzung in einer widersprüchlichen Gesellschaftsform handeln.
Newmans Schema ist zwar nach geeignet, um einen Grundkonflikt im Anarchismus, nämlich den Umgang mit Politik, zu thematisieren. Allerdings gehe ich in meinen Überlegungen weit darüber hinaus. Erstens, ist entsteht „Anti-Politik“ ist irgendwie automatisch. Im Gegenteil machen Aktive in sozialen Bewegungen regelmäßig die Erfahrung, dass sie von der Politik enttäuscht werden, die faulen Kompromisse in ihr und ihre Widersprüche nicht einfach akzeptieren wollen. Zweitens ist eine Politik der Autonomie etwas Bestimmtes, weil der Anarchismus ein bestimmbares Phänomen in sozialen Bewegungen ist. Das bedeutet, wir können uns durchaus anschauen, wie Anarchist*innen handelten und handel, um die qualitativen Unterschiede zum politischen Engagement zu erkennen.
Für eine Debatte über anarchistische Politikbegriffe!
Ich würde sagen, dass Anarchist*innen ein grundlegendes Unbehagen mit der Politik haben. Und dies ist völlig berechtigt. Politik wird sehr häufig dem Staat zugeordnet und von diesem vereinnahmt – selbst, wenn sie in sozialen Bewegungen stattfindet. Wir sollten mit unseren politischen Illusionen brechen und Politik als Machtkampf mit äußerst ungleichen Machtressourcen begreifen, der noch dazu auf einem äußerst unfair strukturiertem Feld ausgefochten wird. Anarchist*innen aus verschiedenen Strömungen haben immer wieder darauf hingewiesen, dass es sich nicht lohnt, Zeit, Energie und Ressourcen für politische Kämpfe zu verschwenden. Vielmehr gibt es viele andere Gebiete, in denen sie wirkmächtig werden und die Gesellschaft emanzipatorisch verändern können.
Nun können wir uns sicherlich vehement und ausgiebig darüber streiten, was Politik „eigentlich“ wäre. Vielleicht wäre dies ganz interessant, führt uns aber nicht unbedingt weiter. Denn sowohl in den Politikwissenschaften, als auch von verschiedenen politischen Strömungen gibt es sehr unterschiedliche Definitionen dessen, was unter Politik zu verstehen ist. Entscheidend ist nicht, dass wir einen vermeintlich „richtigen“ oder „wahren“ anarchistischen Politikbegriff finden, sondern, das wir offenlegen, wovon wir ausgehen und uns somit bewusst machen, wie wir die Welt verstehen – um sie emanzipatorisch verändern zu können.
Um die Debatte anzustoßen, verwende ich deswegen einen bestimmten Politikbegriff, den ich als gouvernemental, konfliktorientiert, negativ-normativ und (ultra-)realistisch bezeichne. Damit wird „Politik“ auf das Regieren bezogen, besteht in Auseinandersetzungen um spezifischer Interessen durchzusetzen, stellt keine „gute Ordnung“ her, sondern vor allem eine Regulierung von Konflikten dar und gründet auf Führungs- und Herrschaftsansprüche. Ich halte es für strategisch wichtig, das Politikmachen und unser Nachdenken darüber insgesamt in Frage zu stellen. Anarchist*innen lehnen Staat, parlamentarische Politik und politische Parteien ab – das ist bekannt. Aber Politik wirkt auch darüber hinaus so, dass wir mit ihr unser Denken und Handeln einhegen und am Staat orientieren.
Das sehen wir immer wieder in sozialen Bewegungen. Als Erfolge werden meistens doch nur Ergebnisse angesehen, die sich in der herkömmlichen Politik, ja im Regierungshandeln widerspiegeln. Also in Gesetzespaketen, die ganz im Rahmen der bestehenden Herrschaftsordnung verhandelt und umgesetzt werden. Die Selbstorganisationsprozesse verschiedenster Gruppen in einer Szene, die Begegnungen und Erfahrungen darin, die Beeinflussung von Meinungen abseits der bürgerlichen Medien und so vieles mehr, gelten in der politischen Logik nichts. Deswegen tappen linke Gruppen immer wieder in die „Falle der Politik“, wie sie Emma Goldman genannt hat: Sie machen sich Illusionen darüber, was politisch tatsächlich möglich ist, damit auch dahingehend, wie der Staat funktioniert, wo die Macht tatsächlich liegt (viel seltener in Parlamenten, als z.B. in Ministerialbürokratien) und dementsprechend auch in Bezug darauf, welchen Einfluss sie dort ausüben können.
Gesellschaftliche Sphären und Bereiche als anti-politische Bezugspunkte
Nach der Untersuchung einer Vielzahl von klassischen und zeitgenössischen anarchistischen Quellentexten komme ich zum Ergebnis, dass verschiedene gesellschaftliche Sphären und Bereiche als Bezugspunkte für anarchistische Anti-Politik angesehen werden können. Um von der verstaatlichten Politik wegzukommen und nach Autonomie zu streben, orientieren sich Anarchist*innen an Individuen, dem Sozialen, der Gesellschaft, Ökonomie, Gemeinschaft, an Kultur, Ethik und Utopie. Es soll um konkrete Einzelne, um unsere Nachbarschaften, um die Föderation dezentraler autonomer Kommunen, autonome Gewerkschaftsarbeit, Kommunen, Gegenkultur, das gute Leben in Würde für alle und vorstellbare, verdrängte Alternativen gehen.
In verschiedenen anarchistischen Tendenzen werden unterschiedliche Bezugspunkte für das eigene Denken und Handeln in den Vordergrund gerückt. So differenzieren sich unter anderem die Strömungen des anarchistischen Individualismus, Mutualismus, Kommunismus, Syndikalismus und Kommunitarismus und Insurrektionalismus aus. Es werden aus Streits darüber ausgetragen, welche dieser Sphären am ehesten geeignet ist, um der verstaatlichten Politik etwas entgegen zu setzen. Ob subkulturelle Konzerte, Gewerkschaftsarbeit, Nachbarschaftsinitiativen oder Solidarische Landwirtschaftskooperativen als sinnvolle Ansatzpunkte angesehen werden, um grundlegend etwas zu verändern, macht einen Unterschied. Deswegen gilt es sich auch darüber zu streiten und auszutauschen. Gleichzeitig schließen die verschiedenen Ansätze sich keineswegs aus und können auch in eine Synthese gebracht werden, sodass ihre jeweiligen Stärken und die verschiedenen Gruppen, die sie erreichen, sich produktiv ergänzen.
Konsequenzen für die politische Theorie des Anarchismus
Weil Anarchist*innen sich nicht vom politischen Spiel beeindrucken und einfangen lassen, haben sie das Potenzial in anderen Bereichen Veränderungen zu bewirken und Alternativen aufzubauen. Oftmals wird behauptet, dass wäre wenig „effektiv“. Aber vor allem ist es weniger spektakulär und sichtbarer als politisches Handeln. Das Streben nach Autonomie führt allerdings auch zu einer besonderen Herausforderung für Anarchist*innen. Denn mit der alleinigen Konzentration beispielsweise auf Kommunen, Arbeitskämpfe, Bestärkung der Einzelnen oder anarch@-kommunistische Gruppen, besteht die Gefahr einer Verselbständigung der Praktiken in diesen Gebieten.
Mit anderen Worten: Die Hausprojektgruppe kreist doch nur um sich selbst; das Syndikat ist doch nur eine spezielle Interessenvertretung; die Selbstbeschäftigung von Unterdrückten mit ihren Identitäten nimmt nie ein Ende; Gruppen betreiben weltfremde Propaganda, die nicht bei den Lebensrealitäten von Leuten ansetzt usw. Wenn der Anspruch formuliert wird, die Gesellschaft in ihrem Herrschaftscharakter insgesamt zu transformieren, bedeutet dies, dass das politische Handeln, das politische Feld nicht völlig ignoriert und vernachlässigt werden kann. Dies ist der Grund, warum Politik – trotz der grundlegenden Kritik an ihr – auch im Anarchismus wieder durch die Hintertür hereinkommt.
Doch weiterhin gilt, dass wir uns keine Illusionen über die Möglichkeiten des politischen Handels machen, sondern ihr gegenüber skeptisch bleiben sollten. Ein Beitrag dazu ist eine umfassendere Debatte über unser Politikverständnis, ja, über Grundbegriffe des politischen Denkens insgesamt. Ihnen einen eigenen Inhalt zu geben, sie mit einer anarchistischen Perspektive zu definieren, darin besteht meine theoretische Arbeit. Sie ist keine intellektuelle Selbstbeschäftigung, sondern ein wichtiger Bestandteil, soziale Bewegungen in ihrer Autonomie zu begreifen und ihnen zu neuem Selbst-Bewusstsein zu verhelfen.