Anmerkungen zu „Feindbild Individualismus“

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Gerade erschien auf indymedia ein Text mit dem Titel „Feindbild Individualismus“. Ich freue mich, wenn Menschen Positionen formulieren und mit diesen bestimmte Fragen durchdenken. Es ist schwierig, wenn dies völlig entkoppelt von der Lebensrealität geschieht und nur eine philosophische Gedankenspielerei bleibt. Doch ich gehe davon aus, dass die Autor*in des Textes durchaus von ihren eigenen Erfahrungen ausgeht – und sie* verfolgt ja offensichtlich auch ein Anliegen damit.

Das Ganze Thema zum Spannungsfeld von Individualismus und Kollektivismus möchte ich an dieser Stelle nicht noch mal aufmachen. HIER habe ich einen theoretischen Text dazu geschrieben, in welchem verschiedene anarchistische Positionen einbezogen und gegeneinander abgewogen werden. Ich habe mich entschieden, auf den Text „Feindbild Individualismus“ zu verweisen, auch wenn ich die in ihm vertretenen Positionen nicht teile. Denn ich finde es wichtig, verschiedene Standpunkte abzubilden, um eine Diskussion darüber zu ermöglichen. Und die vertretene Perspektive ist zweifellos eine anarchistische, auch wenn ich eine andere habe und sie auch kritisieren würde.

Wenn ich danach gehe, sind meine eigenen Positionen durchaus keine individual-anarchistischen. Ich vertrete aber auch keinen Anarcho-Kommunismus wie die Plattform oder eine syndikalistische Position hinsichtlich der Frage des Spannungsfeldes von Einzelnen und Gemeinschaften. Nun ja, sicherlich muss ich mir auch kein Label geben, denn wie im Text geschrieben wird, handelt es sich bei pauschalen Zuschreibungen oder auch Selbstbezeichungen um ein Verkennen der Komplexität von Individualität und oftmals das Aufdrücken und Annehmen von abstrakten Kategorien, in denen wir nicht aufgehen können – und nicht sollten.

Leider sind die Argumente, die ich vorbringen kann alle schon in früheren Beiträgen formuliert worden. Deswegen will ich an dieser Stelle nur einige Anmerkungen zum Text machen und verwende dafür Stichpunkte:

– Unterschieden wird „Individualisierung“ (im negativen Sinne von „Vereinzelung“) und „Individualität“ (in einem positiven Sinne von „Selbstbestimmung“). Ich kann die Unterscheidung nicht so richtig nachvollziehen. Meiner Ansicht nach ist ersteres einfach der gesellschaftliche, soziale und bisweilen auch selbstbestimmte Vorgang, welcher letzteres hervorbringt. Die Frage müsste also lauten, in welchen Rahmenbedingungen Individualisierung stattfindet und welche Formen von Individualität mit ihr hervorgebracht werden

– Weiterhin ist der von vielen empfundene Gegensatz von Individualität und Kollektivität zwar ein Schein-Widerspruch, aber dennoch einer, der wirkmächtig ist. Das hängt damit zusammen, dass Zwangskollektivität und vereinzelte Individualität zwei Kehrseiten derselben Medaille sind. Dem (wirkmächtigen, weil durch Herrschaftsinstitutionen hergestellten) Konzept des liberalen Individualismus entspricht z.B. das konstruierte Zwangskollektiv des Nationalstaates.

– Glücklicherweise gibt es immer auch andere Formen von Einzelnen und Gemeinschaften, auch innerhalb der bzw. parallel zur liberal-demokratischen, staatlich-kapitalistischen Gesellschaftsform. Für diese können wir eintreten und für ihre Ausweitung kämpfen. Dies geschieht aber unter uns aufgedrückten Rahmenbedingungen, die wir verstehen müssen, um sie überwinden zu können

– Individuell besondere Menschen können wir nur durch andere Menschen sein und werden – in Abgrenzung und Bezugnahme aufeinander. Selbstbestimmung und Selbstentfaltung unserer individuellen Leben für alle Menschen möglich zu machen, ist das Ziel aller Anarchist*innen. Dies hat bestimmte Voraussetzungen, sowohl für unmittelbare Veränderungen, als auch für eine grundlegende und langfristige Veränderung der Rahmenbedingungen, in denen sich Menschen (auf bestimmte Weisen) individualisieren können oder auch nicht.

– der Gegensatz von Einzelnen und Gemeinschaften erscheint uns als Widerspruch, weil unsere Vorstellung von Individualität ganz maßgeblich vom liberalen, „abstrakten“ Individuum geprägt ist (worauf wiederum auch die bürgerlichen Vertragstheorien gründen, mit welchen moderne Herrschaftsformen als abstrakte Zwangskollektive legitimiert werden). Dies wird aber permanent irritiert von der sozialen Realität, in welcher Menschen ohnehin schon immer verwoben und verbunden miteinander sind.

– Soziale Freiheit wird gerade dort möglich, wo Menschen sich gemeinsam selbst organisieren, Entscheidungen fällen und Konsense erzielen (was nicht bedeutet, dass alle einer Ansicht sein müssen oder dieser mit Zwang durchgesetzt wird – das wäre dann in meiner Vorstellung kein echter Konsens). Derartige Vereinbarungen auch in einem größeren Maßstab mit Herrschaft gleichzusetzen ist meiner Ansicht nach völlig realitätsfern.

– Ich teile den im Text verwendeten Begriff von „Autonomie“ als individuelle Selbstbestimmung nicht. Meines Erachtens nach zeigt sich das durch und durch liberale und bürgerliche Verständnis, auf welches sich hierbei bezogen wird. Und das meine ich nicht wertend, sondern beschreibend. Autonomie in einem anarchistischen Sinne ist meiner Ansicht nach vor allem ein Organisationsprinzip, welches aber aufgrund der Weite des Begriffs den Vorteil hat, die individuelle Selbstbestimmung von Menschen darin mitzudenken und einzubeziehen. Die Autonomie, welche in anarchistischen Organisationen prozesshaft verwirklicht werden kann, steht somit im besten Fall mit der Ausweitung der individuellen Selbstbestimmung von Einzelnen, welche sie bilden und mit ihr etwas bestimmtes verwirklichen wollen.

– Ebenfalls dem bürgerlich-liberalen Verständnis entspricht die Vorstellung, dass Abhängigkeiten negativ und deswegen zu vermeiden wären. Es kommt natürlich darauf an, was wir unter „Abhängigkeit“ verstehen. Ich meine damit, dass wir alle aufeinander angewiesen und als soziale Tiere miteinander verbunden sind. Dabei haben Menschen komplexe Formen entwickelt, in großer Anzahl miteinander zu leben. Dadurch haben sie neue Zwänge geschaffen – aber auch neue Freiheiten gewonnen. Beispielsweise ist die Vorstellung von Individualität wie sie im Text verwendet wird ein Produkt der (europäischen) Neuzeit. Selbstverständlich haben sich auch vorher und woanders Menschen immer wieder als Einzelne verstanden und sich auch selbst bestimmt. Aber auf eine andere Weise wie diejenige, welche mit den Vorstellungen verbunden ist, dass man sich bspw. so und so selbst verwirklichen müsste als Individuum und dies auch gegen andere stehen müsste, das Einordnung in eine Gemeinschaft immer problematisch wäre usw.

– Ja, es gibt ein Problem mit den Massen und abstrakten Kollektiven, in denen immer Zwänge ausgeübt werden können. Wir wollen sie überwinden. Sie sind die Kehrseite des liberalen-bürgerlichen Individualismus. Eben dieses Verständnis ist ja ebenso ein Ideal und bleibt es, solange wir nicht begreifen, dass alles, was wir denken, empfinden und wollen immer schon gesellschaftlich (als vermittelt und abstrakt, aber dennoch wirkmächtig) und sozial (also unmittelbar und mit unserer eigenen Geschichte verknüpft) geformt und geprägt ist.

– Der Ansatzpunkt von unseren eigenen Bedürfnissen und Wünschen auszugehen ist super. Wir sollten aber verstehen, dass sie auch immer durch Herrschaft geprägt sind. Es gibt uns als Einzelne nicht abseits von der Gesellschaft, die uns hervorbringt. Deswegen sind wir nicht in einem deterministischen Sinne nur ihre Produkte, sondern selbstverständlich in der Lage, auch anders zu handeln, anders zu sein, uns selbst zu bestimmen, Verantwortung zu übernehmen und entgegen herrschaftlicher Institutionen, freiheitliche Institution aufzubauen usw.

– Hinsichtlich der Form unserer Verbundenheit sind Freundschaften ein erstrebenswertes Ziel, dass es ernstzunehmen und in der Arbeit daran zu verwirklichen gilt. Aber es ist auch völlig in Ordnung, mit Menschen nur bekannt zu sein, durch Tätigkeiten oder genossenschaftlich mit ihnen verbunden zu sein. Ich muss nicht mit Menschen befreundet sein, um mit ihnen Ziele zu verwirklichen, die für uns jeweils wichtig sind und zu deren Realisierung wir unsere Fähigkeiten ergännzen.

– Damit finde ich auch die beschriebenen Formen informeller Organisation einen sinnvollen Ansatz, um sich anarchistisch zu organisieren. Mir ist bloß überhaupt nicht klar, warum dies umgekehrt gegen formellere Organisationen sprechen sollte. Im besten Fall gibt es auch in formellen Organisationen Freundeskreise, die sich aber darüber bewusst werden sollten, dass sie dies sind und in diesem Sinne handeln. Sonst entstehen informelle Hierarchien, die sehr problematisch sein können.

– Das Argument, informelle Organisationen seien weniger von staatlicher Repression angreifbar als formelle, halte ich jedenfalls für unsinnig. Man könnte eben auch genau anders herum argumentieren und sagen, dass viele verbundene Menschen, die auch in der Öffentlichkeit wirken deutlich besser gegen Repression gewappnet sind, als wenn sie in informellen Gruppen damit mehr oder weniger isoliert werden.

– Im Text wird auch Repräsentation kritisiert als ein Aspekt, den formelle Organisationen beinhalten. „In der heutigen Spiegelwelt des Spektakels ist Repräsentation überall“. Dem würde ich absolut zustimmen. Gleichzeitig ist es aber auch so, dass sie Sehnsucht danach, „intensiv zu (er)leben“, intensive Beziehungen zu führen, sich in unmittelbare Situationen zu Kämpfe zu begeben, ebenfalls ein Produkt der bürgerlich-liberalen Gesellschaftsform ist. Beides sind zwei Seiten derselben Medaille, die nur verändert werden kann, wenn wir für eine andere Gesellschaftsform eintreten.

– Problematisch im individualistischen Ansatz ist, dass sich vorgeblich gegen „Ideologien“ gerichtet wird, womit verkannt wird, dass die eigenen Vorstellungen ebenfalls ideologisch geprägt sind. Es gibt kein Außerhalb von Ideologie in einer herrschaftsförmigen Gesellschaft. Wenn wir von ihnen wegstreben und zum echten Selbst-Bewusstsein gelangen wollen, hat dies zur Voraussetzung, zu begreifen, was Ideologie ist und sich einzugestehen, dass unsere Vorstellungen immer auch ideologisch geprägt sind (z.B. wenn wir davon ausgehen, dass unsere Bedürfnisse und Wünsche einfach „echt“ wären und sich damit per se gegen jene der Herrschaft richten würden).

– Ein verkürztes Verständnis von Herrschaft offenbart sich im Text dadurch, dass diese nicht als gesellschaftliches Verhältnis begriffen wird. Nicht begriffen wird, dass Menschen sich strukturell in unterschiedlichen sozialen Positionen in der bestehenden Herrschaftsordnung befinden, weswegen es auch eine dauerhafte Institutionalisierung ihrer Anliegen und Interessen braucht, um langfristig für ihre Ermächtigung und damit auch die Aufhebung ihrer (z.B. geschlechtlichen, ethnischen oder Klassenposition) zu kämpfen.

– Dann wird noch eine Unterstellung getätigt, nämlich jene, dass alle Anarchist*innen, die für formelle Organisationen eintreten eine „ideologische, strategische und taktische Einheit“ anstreben würden. Dies trifft der Selbstbeschreibung nach auf den Plattformismus zu, der aber nur eine relativ kleine Strömung innerhalb aller kollektivistischer ausgerichteten anarchistischen Strömungen ist. Wie gesagt bedeutet dieser Vorstellung nach gemeinschaftlich orientiertes Handeln nicht Autonomie aufzugeben, sondern sie erst in der Bezugnahme auf andere zu ermöglichen.

– Mit dem abschließenden Argument, dass die vertretene Position nicht notwendigerweise sozialdarwinistisch wäre und letztendlich zu einem Recht des Stärkeren führen würde, kann ich gut leben. Ich glaube bei dieser Behauptung handelt es sich wiederum um ein Strohpuppen-Argument von manchen kollektivistischen Anarchist*innen, bei dem die Lebensrealität nicht begriffen wird, aus welchen Menschen, die den Individualanarchismus vertreten, ihre Erfahrungen und Perspektiven beziehen.

Nun gut. Meine Gedanken waren hier etwas allgemein und durcheinander, weil ich beim Schreiben nebenbei experimentelle Musik gehört habe, die nur durch selbst individuelle Ausdrucksweisen möglich wurde. Meine Punkte wurden denke ich klar und ein andermal formuliere ich sie vielleicht auch systematischer.