Auf soziopolis schrieb Ricardo Kaufer am 18.01.2022 zum Sammelband anarchistische geographien in dem auch ich einen Beitrag verfasst hatte. Zugegeben, vom Schreiben bis zur letztendlichen Veröffentlichung desselben habe ich noch mal in einiger Hinsicht weitergedacht. Das liegt im Wesen eines solchen Prozesses, denke ich. Jedenfalls schreibt der Autor in Bezug auf meinen Text:
„Die existierende Fülle an Publikationen zum Anarchismus negiert auch [… ], der in seinem Beitrag Im Spannungsfeld von Politik und Anti-Politik behauptet, dass es in Deutschland „nahezu vollständig an kompetenten Ansprechparnter*innen“ (S. 87) zum Thema Anarchismus respektive einer politischen Theorie desselben fehle. Als Gegenbeispiele zu erwähnen sind etwa Vera Bianchi, Jule Ehms, Peter Seyferth, Helge Döring, Wolfgang Eckhardt, Philippe Kellermann oder Holger Marcks“.
Nun kann man verschiedene Annahmen darüber haben, was politische Theorie ist oder auch die politische Theorie des Anarchismus. Sich darüber zu streiten ist sinnvoll, denn dies würde uns weiter bringen. Dennoch beharre ich weiter auf meiner Aussage. Ja, es gibt auch im deutschsprachigen Raum verschiedene Personen, die zu Anarchismus publizieren.

Was Philippe Kellermann beispielsweise ausgegraben hat, war unheimlich wertvoll für meine Arbeit. Ähnlich gelagert sehe ich es bei Wolfgang Eckhardt und Helge Döhring – die Anarchologen graben teilweise verschollene und vergessene Schriften aus, deren Kenntnis und Wiederaneignung enorm wichtig ist, weil sich darunter Schätze befinden, die es auch für die Erneuerung anarchistischen Denkens heute noch zu heben gilt. Politische Theorie betreiben sie jedoch nicht. Jule Ehms kannte ich bisher noch nicht, aber auch sie widmet sich dem Anarchismus aus einer geschichtswissenschaftlichen Perspektive – was gut und richtig ist.
Gleichermaßen schätze ich Peter Seyferths kreatives Denken oder Vera Bianchis Thematisierung anarchafeminstischer Organisationen. Von den genannten Autor*innen dockt aber meines Erachtens nach niemand an relevanten Fragen, Widersprüche und Debatten in zeitgenössischen emanzipatorischen sozialen Bewegungen und anarchistischen Szenen an. Viel zu selten wagen sie die Übersetzung an den Puls der Zeit. Das hat etwas mit ihrem Selbstbild und Selbstverständnis als Intellektuelle zu tun, vermute ich. Doch es muss nicht so sein, dass die Denker*in selbst keine Schlussfolgerungen für aktuelle Konflikte zieht und mit ihren Gesprächspartner*innen aktiv danach sucht…
Wenngleich meine eigenen Beiträge – bzw. vor allem auch der im Sammelband – zugegeben teilweise recht abstrakt-theoretisch sind, behaupte ich, dass ich in meinem Denken und Schreiben der Fokus auf vorhandene theoretische Probleme im Anarchismus lege. So vermeide ich z.B. dogmatische Kurzschlüsse wie Holger Marcks, der redundant vor sich her betet „Der Syndikalismus hätte schon immer dies das, sei per se jenes etc.“. Ähnlich wie bei Schmidt und van der Walt handelt es sich um eine langweilige Erzählung, die vorrangig zur Selbstbestätigung dient – nicht aber der Weiterentwicklung anarchistischer Positionen.
Den genannten Denker*innen würde ich gar keinen Vorwurf daraus machen, dass sie – abgesehen wiederum von Seyferth, der tut es – keine politische Theorie betreiben. Warum auch? Selbstverständlich tragen die Themen, die sie bearbeiten und Perspektiven, die sie hervorbringen für die Kenntnis, Erhaltung und Reproduktion anarchistischen Denkens bei. Zu ihrer Erneuerung meines Erachtens jedoch wenig. Einer der Gründe liegt darin, dass es sich historiographisch gut und gerne über Anarchismus sprechen lässt. Tote können eben nicht mehr gefährlich werden. Und mit ihnen kann auch der romantisierte Anschein von einer Zeit gewahrt werden, in welcher die Dinge scheinbar klarer und die Konfrontation scheinbar direkter gewesen sein mag. Mit der politischen Theorie des Anarchismus will ich aber nicht andächtig Tote verehren, sondern rebellische Leichen fleddern – denn es wäre in ihrem Sinn.
Es zeigt sich daher, dass Ricardo Kaufer nicht verstanden hat, was ich eigentlich in meinem Beitrag tue. Ja, ich muss damit auch besser werden, verständlicher und klarer schreiben. Auf der anderen Seite läge jedoch die Verantwortung, aus dem eigenen Sumpf heraus zu kommen. Und beispielsweise über den Tellerrand zu schauen und wahrzunehmen, dass sich im anglophonen Sprachraum tatsächlich einiges getan hat, in Hinblick auf die Weiterentwicklung der politischen Theorie des Anarchismus.
Darüber hinaus ist es doch nun mal so: Wenn man etwas Neues erschaffen möchte, muss man erst mal behaupten, dass es was Neues wäre. Am Ende wird das selbstverständlich nicht völlig anders. Aber eben ein bisschen. Nicht nur anders, sondern auch am Puls der Zeit und mit Bezug auf soziale Konflikte und Bewegungen. Das ist dann im besten Fall die Theorieentwicklung. ~ So viel an dieser Stelle dazu.