Anarcho-Herrengedeck

Lesedauer: 3 Minuten

Die 3. Ausgabe der espero ist erschienen und hier kostenlos herunterladbar:

https://www.edition-espero.de/archiv/espero_NF_003_2021-07.pdf

Ich begrüße es, dass diese Zeitschrift wiederbelebt wurde und es ist durchaus nicht meine Absicht, Zwietracht unter potenziellen Genoss*innen zu sähen. Was mit ihr jedoch erscheint und entsteht, löst bei mir starke Irritation aus. Und diese gilt es auch zu benennen:

Zunächst ist es fast schon eine Leistung, unter 12 Autoren von keiner einzigen Frau zu lesen. Wie auch in der vorherigen Ausgabe. Und nein, dass ist keine Lapalie, sondern drückt ein strukturelles Problem dieser anarchistischen Zusammenhänge aus. Hierbei geht es nicht allein oder vorrangig um „Repräsentation“, die Erfüllung irgendwelcher Quoten oder ein vermeintlich wokes Anpassen an den Zeitgeist. Wenn die Männers meinen, sie hätten ja schon früher in diesen Bünden geklüngelt, dann war es eben auch schon früher ein Problem. Die Frage ist, ob die Herausgeber den Anspruch verfolgen, irgendeine Relevanz zu erlangen. Oder, ob das Projekt nicht doch wieder nur Hobby bleiben soll – Was legitim ist, aber meiner Ansicht nach wenig mit Anarchismus zu tun hat.

Inhaltlich sieht es ähnlich aus. Keineswegs würde ich den Autoren vorwerfen, dass ihr Themen einfach langweilig sind. Immerhin folgt die Vorstellung, alles müsste „spannend“ oder „aktuell“ sein einem beschleunigten Zeitgeist der seinerseits zu kritisieren ist. Als Gegenpol lob ich mir jene, die nicht nach Aufmerksamkeit ringen und im Stillen zum Beispiel ihren historischen Studien nachgehen. Und dennoch fehlt die Rückbindung an zeitgenössische politische Themen. Dass heute ein Schiff den Namen von Louise Michel erhält, schafft diese Verbindung noch nicht. – Wenn sich die Autoren selbst als Anarchisten verstehen, wäre es angemessen, dass sie derartige Bezüge aktiv herstellen. Damit soll nicht gesagt werden, dass ihre Themen nicht auch Gehalt haben und für sich genommen gut sind. Es geht mir um die Verknüpfungen und Verbindungen zu dem, was Anarchismus ist: Keine schöngeistige, angestaubte Gedankenspielerei, kein schwarz-roter Gartenzwerg, mit dem man sich vorm Chaos dieser Welt beruhigen kann, sondern eine eigenwillige Strömung innerhalb einer kämpfenden emanzipatorischen sozialen Bewegung.

Drittens ist zu kritisieren, dass Ewgeniy Kasakow Raum in einer anarchistischen Zeitschrift gegeben wird. Nicht vorrangig hinsichtlich seiner inhaltlichen Argumentation, sondern aufgrund seines Verhältnisses zur anarchistischen Szene. Dass Kasakow seit Jahren fast aggressiv versucht, in jeder anarchistisch angehauchten Publikation seine Beiträge zu publizieren hat seine Gründe. Er verfolgt das Projekt einer Revidierung anarchistischer Geschichtsschreibung und Bezugspunkte. Er agiert als Infiltrator und praktiziert die „trotzkistische“ Praktik des Einsickerns um langfristig seine Vorstellungen zu verbreiten. Dabei mag auch der eine oder andere historische Fakt neu entdeckt werden und zur Diskussion anregen. Es braucht selbstverständlich auch immer wieder kritische Infragestellungen anarchistischer Dogmen und romantisierter Sehnsuchtsorte. Wer die grundsätzliche Einstellung Kasakows kennt, sollte von dieser Person jedoch Abstand nehmen – vor allem als Anarchist. Mit etwas Kenntnis betrachtet, neigt Kasakow nämlich zur manipulativen Verdrehung und zur systematischen Verzerrung von Fakten.

Der einzige Beitrag in der aktuellen espero, der für libertäre soziale Bewegungen einen praktischen Wert hat, ist jener von Gabriel Kuhn. Und es handelt sich – wie gewohnt – um einen guten Text. Selbstkritisch hinterfragt Kuhn, was aus dem „anarchistischen 21. Jahrhundert“ geworden sei, dass zu Beginn desselben von Andrej Grubačić und David Graeber in einem Aufsatz von 2004 proklamiert worden ist. Dass viele linke Bewegungen mittlerweile hinsichtlich ihrer Diskussionen, Praktiken und Selbstverständnisse als anarchistisch interpretieren lassen, füllt für Kuhn nicht die Leerstelle aus. Sie besteht darin, dass die vorhandene anarchistische Szene selbst offenkundig kein relevanter sozial-revolutionärer Faktor ist. Dies – so könnte man argumentieren – kann sie nur dann werden , wenn sie einen nüchternen Blick darauf wirft, wo sie eigentlich steht, was sie tatsächlich ist. In diesem Licht wird allerdings deutlich, dass Anarchist*innen immer wieder Einfluss auf strategische und ethische Debatten, die Entwicklung widerständiger und selbstbestimmter Praktiken, wie auch auf das Prägen von Stilen hatten und haben können. Die anderen Autoren der espero können sich vom politischen Bewusstsein von Kuhn eingies abschauen, wenn dieser schreibt:

Selbstidentifizierte Anarchist*innen und anarchistische Organisationensind wichtig. Anarchistische Ideen müssen bewahrt, gefördert und gestärktwerden. Revolutionäre Bewegungen und Gesellschaften jenseits von Staatund Kapital werden davon profitieren.Anarchist*innen werden mit größter Wahrscheinlichkeit in der nahenZukunft keine Revolution anführen – und sie werden das wohl niemals tun,wenn wir das Paradox bedenken, das diese Vorstellung impliziert. Aber alsverlässliche und engagierte Gefährten anderer progressiver Revolutionärekönnen sie eine entscheidende Rolle spielen. Das 21. Jahrhundert lässt unsnoch 80 Jahre. Viel Zeit, um eine bessere Gesellschaft zu formen. Ob sie nunanarchistisch ist oder nicht.

S. 257