Im Folgenden formuliere ich einige unfertige Gedankengänge, um über meine Erfahrungen mit bestimmten Personen und manchen Gruppendynamiken zu reflektieren.
Menschen werden aufgrund ihrer Fähigkeiten, Prägungen, ihres Auftretens und Zuschreibungen von anderen bestimmte Rollen zugewiesen. In Gruppenkontexten übernehmen Personen unterschiedliche Aufgaben, gleichermaßen in organisatorischer, funktionaler, sozialer und emotionaler Hinsicht. Dies ist ein sozialer Effekt, auf dessen Grundlage soziale Gruppen stärker, klüger und kontinuierlicher wirken können, als es die Einzelnen jeweils könnten. Unsere jeweiligen Fähigkeiten und Seinsweisen zu kennen und zu verbinden, bedingt uns als soziale Tiere – selbst, wenn wir uns davon abgrenzen.
Darüber begeben sich Einzelne aber auch selbst in bestimmte Rollen, oftmals, weil sie es gewohnt sind, in diesen zu bleiben. Schüchterne Personen, drängen sich nicht im Gruppenkontext nicht in den Vordergrund, beeinflussen das Gruppengeschehen aber beispielsweise in vertraulichen Zweiergesprächen. Es gibt Leute, die fühlen sich mit bürokratischen Aufgaben wohl und übernehmen sie als wäre es selbstverständlich. Andere üben eine moralische Autorität aus, indem sie Verhaltensweisen beurteilen. All dies stellt kein Problem an sich dar – solange darüber reflektiert und gesprochen wird. Die sozialen Rollen, die wir oftmals unbewusst einnehmen und die uns zuschoben werden, sollten bewusst gemacht, zur Verhandlung gestellt und mit dem Anspruch der jeweiligen Gruppe abgeglichen werden.
Das Auftreten der Anarcho-Chefs
Eine Figur in anarchistischen Kreisen, die immer wieder auftritt ist der Anarcho-Chef. Ohne Weiteres kann man hier die männliche Schreibweise verwenden. Bei meinem Nachdenken über diese soziale Rolle fallen mir ungelogen gleich sieben Typen aus verschiedenen Städten ein, deren Verhaltensweisen ich in einiger Hinsicht als höchst problematisch ansehe. Es mag vereinzelt auch weiblich sozialisierte Menschen geben, welche sich als Anarcho-Chefs aufspielen. Doch auch in diesem Fall ist die soziale Rolle, welche ich hier thematisiere, meiner Ansicht nach als in sich patriarchal zu verstehen.
Mir ist wichtig, an dieser Stelle eine persönliche Reflexion abzubilden mit der sich nicht das Anliegen verbinde, Menschen zu psychologisieren. Die individuellen Gründe, warum einige Typen sich auch in anarchistischen Kreisen immer wieder als Anarcho-Chefs aufspielen, mögen zwar auch interessant sein. Sie können reflektiert werden, wie jede andere zugeschriebene oder angenommene soziale Rolle. Um diese geht es mir hier.
Anarcho-Chefs sind meistens charismatische Personen. Sie können Witze machen, vor Gruppen und der Öffentlichkeit sprechen und wirken in diesen Räumen äußerst selbstsicher und von sich überzeugt. Mit diesen Eigenschaften können sie auch Entscheidungen fällen und messen ihren eigenen Ansichten das höchste Gewicht bei. Sie eignen sich durch Gespräche und Lesen viel Wissen an, dass im Kontext, in welchem sie sich zu Chefs aufschwingen gebrauchen können. Davon zu unterscheiden ist noch mal ihre Verfügung über Informationen. Sie wissen, wann welche Aktion geht, wer welche Projekte am Start hat, die sie_er vielleicht nicht in großer Runde teilt. Sie entwickeln zielgerichtet und systematisch Kontakte zu verschiedenen Personen, die außerhalb und innerhalb des Zusammenhangs in dem sie aktiv sind für sie von Nutzen sind. Und: Anarcho-Chefs haben ein hohes Energielevel, sie werden dafür bewundert, dass sie sehr aktiv sind, also viel machen, anstatt nur zu reden.
Angemaßte Machtpositionen
Charisma, Selbstsicherheit, Entscheidungsgewissheit, Wissen, Informationen, Kontakte, Aktivität – all dies sind für sich genommen keine problematischen Eigenschaften. Ganz im Gegenteil, in einer (anti-)politischen Szene handelt es sich um grundlegende Fähigkeiten und auch Ressourcen, die Menschen brauchen, um sich zu organisieren und Kämpfe zu führen. Das Hauptproblem beim Anarcho-Chefs ist: Trotz aller noch so überzeugender Behauptungen und Verhaltensmuster, nach denen es ihnen nur um „die Sache“ ginge, geht es ihnen letztendlich im Wesentlichen um sich selbst – das heißt, um ihre eigene angemaßte Machtposition, die sie im Zweifelsfall vehement verteidigen werden.
Dazu monopolisieren Anarcho-Chefs die Ressourcen, über welche sie verfügen. Sie teilen weder ihrer Informationen, noch ihre Kontakte oder ihr Wissen gleichermaßen mit allen Leuten in der Gruppe. Das tun sie, wo es ihnen nützlich ist, aber in ungleichem Maß, sodass sie nie alle Beteiligten auf den gleichen Stand setzen. Sie ziehen Energie aus der Bewunderung, welche ihnen Leute für ihre Aktivität, ihr charismatisches und selbstsicheres Auftreten zollen. Was sie nicht tun, ist, andere – ohne eigene Interessen damit zu verbinden – zu ermächtigen und darin zu bestärken, was sie jeweils können, tun und wie sie sind. Ebenso ziehen sie Bestätigung daraus, dass sich Leute für Informationen, Kontakte und Rat immer wieder an sie wenden müssen. Dies bestärkt sie in ihrem Selbstbild als Anarcho-Chefs. Wenn es abweichende Ansichten gibt, zu denen, die sie vertreten, gehen sie nicht den Schritt, die Sichtweise und Argumente der Anderen für sich stehen zu lassen und ihnen zuzugestehen, eine ähnliche Kompetenz darin zu haben, wie sie sie beanspruchen.
Wenn es Zweifel an ihrer sozialen Rolle, ihren Kompetenzen und Einschätzungen gibt, beginnen sie andere abzuwerten. Im Gruppenkontext oder auch in privaten Gesprächen werfen sie anderen vor, nie „genug“ für „die Sache“ zu machen. Eine Reflexion über die Privilegien, die sie in der Regel haben, um Wissen, Kontakte, Informationen zu erwerben und zu pflegen, findet nur selten statt. Von anderen formulierte Unsicherheit können sie nur als Schwäche deuten, welche sich entweder negativ für „die Sache“ oder für die Gruppe auswirken würde. Deswegen nutzen sie Unsicherheiten anderer teilweise gezielt aus oder rufen diese sogar hervor, indem sie Zweifel an ihrer Urteilsfähigkeit, ihren Fähigkeiten und Erfahrungen sähen. Wenn ihr Führungsanspruch tatsächlich offen angefochten wird, greifen sie schließlich zu einem besonders perfiden Mittel: Sie werfen anderen vor, sich so zu verhalten, wie sie es tun: cheffig.
Hinter dem Schein des ersten Eindrucks
Oft wird darüber gesprochen, wie wichtig Anarcho-Chefs sind, um Leute zu begeistern, voranzugehen, sich kontinuierlich einzusetzen, die Anliegen der Szene vorzutragen und Dinge zu organisieren. Und meistens stimmt dies sogar: Anarcho-Chefs sind keine bloß selbstsüchtigen, machtgeilen Arschlöcher. Zumindest nicht generell und nicht immer. Ihnen geht es häufig immer wieder auch ernsthaft um die anderen, auch um Schwächere, für die sie sich bisweilen einsetzen. Das Problem ist nicht in eindrucksvolles Engagement. Das Problem ist die soziale Rolle, welche sie sich anmaßen und die irre Annahme, dass sie die Welt retten müssen, dass die Szene sonst gar nichts auf die Reihe kriegen würde, weil alle nur labern, aber niemand „was macht“.
Wenn davon erzählt wird, wie wichtig Anarcho-Chefs sind, dann meistens nicht davon, was mit ihrem Engagement verunmöglicht wurde. Also welche Personen sie angegriffen, niedergemacht und aus der Gruppe rausgedrängt haben. Mit welchen Entscheidungen sie sich gegen die anderen durchgesetzt haben – und die sich später als fatal erwiesen hat. Welches Wissen, welche Informationen und Kontakte sie nicht geteilt haben – womit sie die anderen so von sich abhängig gemacht haben, dass die Gruppe zusammenbricht, wenn die Anarcho-Chefs nicht mehr können oder wollen.
Wer genauer hinschaut, erkennt auch die eigenen Widersprüche der Anarcho-Chefs, die sie ausblenden und verdrängen. Sie übernehmen Aufgaben, setzen sie aber nicht wie vereinbart um. Sie propagieren Aktivität, sind aber gelegentlich auch völlig überfordert und werden passiv. Sie behaupten etwas zu wissen, haben aber tatsächlich keine qualifizierte Ahnung vom Thema. Sie reden davon, was es angeblich für die Sache zu tun gälte, verlieren aber völlig aus den Augen, wo die Gruppe insgesamt und die Einzelnen eigentlich stehen. Sie schmeicheln sich bei anderen ein, die sie für sich vereinnahmen wollen, lassen sie aber sofort fallen, wenn sie Widerspruch kriegen oder die anderen nicht mehr brauchen.
Gründe für die Existenz von Anarcho-Chefs in anarchistischen Szenen
Warum um alles in der Welt können sich Einzelpersonen auch in anarchistischen Zusammenhängen immer wieder als Chefs aufspielen? Immerhin liegt es doch auf der Hand, dass Anarchist*innen sich auf Augenhöhe, gleichberechtigt, solidarisch und freiwillig organisieren wollen. Sie wollen sich eben nicht so aufeinander beziehen und miteinander umgehen, wie es – wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise – häufig in Schulen, Familien, Lohnarbeitskontexten usw. geschieht. Es ist wirklich merkwürdig, dass auch Menschen, die eine grundlegende Kritik an Hierarchien haben und soziale Fähigkeiten wichtig finden, die angemaßte Chefigkeit einiger ihrer Genoss*innen teilweise gar nicht erkennen, teilweise stillschweigend erdulden. Damit will ich nicht sagen, dass dies gar nicht geschieht und es hierbei auch keine Weiterentwicklungen gibt. Trotzdem muss das Problem benannt werden – und ist immer eines der sozialen Zusammenhänge und Gruppen insgesamt und nicht nur von Einzelpersonen, egal zu welchem Grad ihr Verhalten als konkret problematisch angesehen wird.
Zunächst einmal sollte klar sein, dass niemand von uns wirklich aus den Prägungen raus sein kann, die wir von einer hierarchisch strukturierten Gesellschaft mitbekommen haben. Das ist keine moralische Frage, sondern schlichtweg eine Tatsache, mit der wir uns auseinandersetzen müssen. Die bestehende Gesellschaftsform ist von kleinen und großen Chefs geprägt, auch wenn vielleicht nur jeder zehnte die Chefrolle einnimmt oder zugeschoben bekommt. Darüber gilt es sich klar zu sein und damit müssen wir auch rechnen – ohne, Menschen deswegen zu verurteilen. Meiner Ansicht nach ist das Phänomen der Anarcho-Chefs aber auch besonders wegen der Strukturlosigkeit in antiautoritären Zusammenhängen ausgeprägt. Wo die Kontinuität fehlt, schaffen sie diese; wo Wissen und Informationen verstreut sind, bündeln sie diese; wo marginalisierte Menschen an Selbstzweifeln nagen, verkörpern sie eine Selbstsicherheit.; wo die Konsumgesellschaft uns passiviert und die umfassenden Krisen uns lethargisch und zynisch machen, geben sie Orientierung und strahlen Aktivität aus.
Je besser organisiert Zusammenhänge jedoch sind, desto weniger muss die Struktur von Einzelpersonen hergestellt werden. Und mit „organisiert“ meine ich: Gruppen, die im Zweifelsfall nicht abhängig von Einzelnen sind, sondern Wissen, Erfahrungen, Informationen und Kontakte kontinuierlich geteilt werden. Anarcho-Chefs beherrschen bürokratische Verfahren und können sich daher in formalen Gruppen Macht aneignen und absichern. Aber dies bezeichne ich im hier ebenfalls als schlechte Organisation – auch wenn sie sich selbst anders verstehen und darstellen mag. Eine gute Organisation ermöglicht all ihren Angehörigen eine wirklich gleichberechtigte Teilhabe und Mitbestimmung, die nicht allein am Aktivitätsgrad gemessen wird und bei welcher die soziale Dimension der Gruppe mitgedacht wird.
Das Aufkommen von Anarcho-Chefs wird auch durch Pseudo-Klandestinität ermöglicht. Ich meine keine echte Klandestinität, die notwendig ist, um bestimmte Aktivitäten durchführen zu können und Menschen zu schützen. Ich spreche von Mythenbildung, Verheimlichungen und Andeutungen, die dazu dienen, dass Einzelpersonen sich als wichtig darstellen können oder Anerkennung darin finden können, dass ihnen jemand ein Geheimnis anvertraut. Solches Verhalten verdeutlicht einen unreflektierten Umgang mit Informationen und soll eine Unsicherheit darüber verbergen, dass man selbst auch Ängste vor Repression hat. Im Zweifelsfall stellt die Geheimniskrämerei und das selbst erzeugte Bild, Anteil an einer verschworenen Gemeinschaft zu haben (hinter dem oft weniger steckt, als Außenstehende vielleicht meinen), sogar ein Einfallstor für Repression dar. Anarcho-Chefs können sich in solchen Atmosphären jedenfalls wunderbar bewegen, weil ihre soziale Rolle nicht thematisiert werden kann.
Führung und Autorität thematisieren statt ignorieren
Daran schließt an, dass Anarchist*innen kontinuierlich ignorieren, dass soziale Gruppen und das Agieren und Kommunizieren mit der Außenwelt so funktionieren, dass gelegentlich auch Führung erforderlich ist. Einen großen Anteil hat die hierarchische Struktur der Gesellschaft, in welcher wir leben und kann und sollte daher schon in Frage gestellt, kritisiert und abgebaut werden, wo es uns möglich ist. Zu einem gewissen Grad kann aber auch nicht geleugnet werden, dass Menschen als soziale Tiere nun einmal so funktionieren, dass sie bestimmte soziale Rollen einnehmen und anderen zuschreiben. Wie anfangs erwähnt, stellt dies kein Problem per se dar, sondern wird erst zu einem, wenn es unbewusst geschieht, sich Rollen angemaßt und Funktionen auferlegt werden. Bakunin schrieb darüber, dass Anarchist*innen nichts gegen Autorität überhaupt haben, sondern sie dann kritisieren, wenn diese angemaßt ist, sich nicht an der Kompetenz auf einem bestimmten Gebiet festmacht, auf Dauer gestellt und nicht losgelassen wird und wenn aus ihr dauerhafte Privilegien erwachsen. (Was freilich bei allen Herrschaftsinstitutionen der Fall ist.)
Alle unterschiedlichen Menschen in einer Gruppen können und sollten ihre Autorität in bestimmten Gebieten, anhand ihrer Kompetenzen und auf festgesetzte Zeit geltend machen, um die Gruppe insgesamt zu bereichern. Wir müssen endlich aufhören, mit einer schlechten Gleichmacherei, nach welcher sich Leute schämen, tolle Fähigkeiten, nützliches Wissen und sympathische Charaktere zu haben. Jede*r Einzelne*r kann diese im Sinne der Gruppe insgesamt fruchtbar werden lassen. Wir sollten uns in unserem Können, Wissen und Sein gegenseitig bestärken und vorhandene Defizite so gut es geht ausgleichen bzw. die Weiterentwicklung aller fördern. Und einige dieser Fähigkeiten bestehen nun mal darin, besondere Entscheidungskompetenz auszustrahlen, sich Wissen, Informationen und Kontakte systematisch anzueignen und zu pflegen, aktiv zu sein und selbstsicher auftreten zu können. Diese Fähigkeiten und Kompetenzen können reflektiert gehandhabt, thematisiert und gleicher verteilt werden. Deswegen müssen wir niemanden zum Anarcho-Chef machen – oder diesen stillschweigend erdulden.