Anarchistisches Interview zur Black Lives Matter-Rebellion

Lesedauer: 12 Minuten

Ein wie ich finde sehr spannendes Interview, welches ich von barrikade.info spiegele.

Deutsche Übersetzung eines Interviews, welches im August 2020 von anarchistischen Gefährt*innen aus Italien mit Flower Bomb aus den USA geführt wurde.

Um den Leser*innen in Italien den Einstieg zu erleichtern, bitten wir euch, uns eine kurze historische Kontextualisierung der antirassistischen, von Rassismus Betroffenen geführten Protestbewegungen der letzten Jahre in den USA zu geben. Wie kam es zur Black Lives Matter-Bewegung (BLM) und wie brach die Situation in die aktuellen Protesten nach den Aufständen in Ferguson, Baltimore usw. aus?

Der historische Kontext der BLM-Bewegung ist sehr lang und komplex. Ich kann nur aus meiner eigenen Erfahrung als anarchist of color sprechen, aber meine racial identity sollte nicht repräsentativ für andere anarchists of color sein. Wir (anarchists of color) teilen unterschiedliche, einzigartige Erfahrungen, die uns zu unterschiedlichen Vorstellungen davon führen können und geführt haben, wie Freiheit aussieht.

Im allgemeinen begann BLM als radikale Reaktion auf die fortwährende Polizeigewalt und Ermordungen, die in den Mainstream-Nachrichten ausgeblendet wurden. Nach ihrem Anfang begann sich die BLM-Bewegung schnell zu verändern und wurde schliesslich weniger radikal und reformistischer. Während die BLM als Bewegung für viele Proteste und Demonstrationen verantwortlich ist, schufen politische Spaltungen innerhalb der Bewegung eine Menge Probleme. Sowohl in Ferguson als auch in Baltimore zum Beispiel standen BLM-Aktivist*innen allen antikapitalistischen Elementen feindselig gegenüber – sie gingen sogar so weit, sie als „outside agitators“ oder „white supremacists“ zu bezeichnen. In Wirklichkeit standen viele black and brown Anarchist*innen an vorderster Front dieser Aufstände, wurden aber delegitimiert, weil sie politisch nicht mit den reformistischen Ideen der BLM übereinstimmten. In beiden Aufständen gingen BLM-Aktivist*innen und -Organisator*innen zur Polizei, um „unerwünschte“ Elemente der Revolte zu unterdrücken.

Ich war beim Ausbruch des Aufstands in Minneapolis dabei. Hinter dem 3. Polizeirevier eskalierte eine verbale Auseinandersetzung zwischen friedlichen BLM-Demonstrant*innen, die die Polizei schützten, und wütenden black and brown Jugendlichen zu einer Schlägerei – die dann dazu führte, dass Ziegelsteine, Steine und andere Gegenstände auf das Polizeirevier geworfen und alle Fenster zertrümmert wurden. Dieselben BLM-Aktivist*innen, die die Polizeiwache schützten, liefen Menschen hinterher und sammelten Steine ein, so dass keine für den Angriff auf die Polizeiwache zur Verfügung standen. Einige Tage später, als der Aufstand eskalierte und es zu Plünderungen und Bränden kam, begannen BLM und andere Schwarze Organisationen in den sozialen Medien Mythen zu verbreiten, dass die Unruhen von white supremacists und outside agitators ausgelöst worden seien. Dies ist offensichtlich falsch und nur dazu gedacht, radikalere Elemente davon abzuhalten, sich an dem Aufstand zu beteiligen. Wenn du zum Beispiel als weisse Person beim Aufstand auftauchst, wirst du von Schwarzen „Organisator*innen“ oder „community leaders“ bedroht, als white supremacist bezeichnet und/oder der Polizei übergeben. Am fünften Tag des Aufstands hatte die Intensität nachgelassen, alle nennen sich gegenseitig white supremacists, und langsam stirbt die Revolte. Dies geschah in jeder Stadt in den Vereinigten Staaten.

Wenn wir von spontanen Kampf- und Protest-„Bewegungen“ sprechen, die vor allem als Reaktion auf Polizeigewalt entstanden sind, glaubt ihr, dass wir von einem Prozess der Strukturierung oder von einer Verzettelung der Bewegung sprechen können? Mit anderen Worten, glaubt ihr, dass wir von den vergangenen Protesten bis zu den heutigen Aufständen sagen können, dass „die Bewegung“, indem sie ihre eigenen Forderungen des Kampfes verfolgte, in ihrer Organisation und in ihren Forderungen strukturierter geworden ist? Können wir sagen, dass die Forderungen in gewisser Weise von der gesamten BLM-Bewegung geteilt werden, oder gibt es innerhalb der einzelnen Proteste und Individuen unterschiedliche Forderungen?

Jede BLM-Bewegung oder Organisation in jedem Bundesstaat oder jeder Stadt ist leicht unterschiedlich, haben aber meist die gleiche reformistische Vision von Organisation und Veränderung. Die Unterschiede bestehen in erster Linie zwischen denen, die sich als BLM-Aktivist*innen identifizieren, und denen, die Schwarz sind, aber nicht die gleichen Visionen von BLM teilen. Wie ich bereits erwähnt habe, sind diese Unterschiede enorm. Mit anderen Worten, nicht alle Schwarzen Menschen unterstützen die BLM, und die BLM unterstützt nicht alle Schwarzen Menschen, insbesondere nicht diejenigen, die antiautoritär sind.

Wenn man sich die vergangenen Proteste anschaut, die sich in den USA ausgebreitet haben (Occupy, Antiglobalisierung, ökologische/indigene Kämpfe usw.), können wir dann von einer Art Kontinuität mit „vergangenen“ Bewegungen sprechen, oder gibt es eine Art Spaltung und einen klaren Bruch zwischen dem, was jetzt geschieht, und dem, was in der Vergangenheit geschehen ist? In Italien zum Beispiel boten und bieten die Kämpfe der 70er Jahre vielleicht immer noch ein wertvolles Set an Erfahrungen und neuen Ideen. Diese haben unbestreitbar die heutigen Kämpfe geprägt, indem sie manchmal als Quelle der Inspiration dienen und manchmal die aktuellen Kämpfe lähmen. Welches Gewicht haben diese Formen der Vergangenheit in eurem spezifischen Kontext?

Viele Proteste hier in den Vereinigten Staaten ahmen sich gegenseitig nach. Obwohl ich persönlich glaube, dass die Vergangenheit eine Erfahrung ist, aus der es sich lohnt, zu lernen, kann sie meiner Meinung nach auch eine lähmende Nostalgie sein. Zum Beispiel haben viele Anarchist*innen verzweifelt versucht, die Gegebenheiten des spanischen Bürgerkriegs nachzustellen. Aber was dieser Vision fehlt, ist eine Analyse des Kapitalismus, die über den Anthropozentrismus hinausgeht. Anders gesagt sind viele Anarchist*innen heute von einer marxistischen Weltanschauung gefangen, die eine ökonomische Befreiung im sozialökonomischen Sinne vorsieht, nicht aber die Befreiung der Erde und der nichtmenschlichen Tiere. Diese marxistische Gefangenschaft erlaubt es Anarchist*innen nicht, die Befreiungskämpfe der Erde und der nichtmenschlichen Tiere als mit der Befreiung des Menschen verbunden und wichtig dafür anzuerkennen. Ich persönlich bin der Meinung, dass diese Fixierung auf linke Politik nur einen Wiederholungszyklus aufrechterhält, in dem die Anarchie niemals über den Geist des Marxismus hinausgeht.

Es hat auch eine Reihe von indigenen Anarchist*innen gegeben, die über eine auf dem Planet Erde basierende Anarchie geschrieben und sich für sie eingesetzt haben. Aber als Folge dieser Fixierung auf 1936 werden sie oft unter den Teppich gekehrt.

Angenommen, wir können über irgendeine Form von Bewegung sprechen (auch wenn wir uns von der Idee einer versteinerten und einstimmigen Bewegung entfernen wollen), wie positionieren sich dann die weissen Verbündeten innerhalb der Proteste?

Indem sie ihre antiautoritären Ansichten auf Identität anwenden und lernen, unabhängig von ihren gesellschaftlich zugewiesenen Rollen, Erwartungen und Identitäten zu denken und zu handeln… Indem sie von sich aus zu Kompliz*innen werden, nicht in der Verpflichtung gegenüber einem „community leader“ oder weil jemand sagt, sie sollten es tun. Echte Solidarität entsteht aus individuellem Verlangen, nicht aus Schuldgefühlen. Eine Bewegung ist nur so mächtig, rebellisch und antiautoritär wie die Individuen, aus denen sie sich zusammensetzt. Ohne rebellierende, unabhängig denkende und befähigte Individuen gibt es nur eine untergeordnete Masse (-nbewegung), die Befehlen gehorcht und in einer neuen Ersatz-Regierung endet.

Wir haben vor kurzem den Text „Revolutionary Solidarity. A Critical Reader for Accomplices“ ins Italienische übersetzt. Es ist eine Art „kritischer Leitfaden“ für Weisse, der sich mit der Frage der weissen Verbündeten innerhalb der Pfade der antirassistischen, von Menschen mit Rassismuserfahrungen geführten Kämpfe in Amerika befasst. Es ist ein Text, den wir interessant finden, weil er uns hilft, eine kollektive Diskussion darüber zu beginnen, was die Interventionen der italienischen anarchistischen Bewegung, die sich fast ausschliesslich aus Weissen zusammensetzt, sein könnten, obwohl der Kontext des Kampfes in Italien ein völlig anderer ist. Hier kommt die Mehrheit der von Rassismus betroffenen Menschen aus anderen Ländern und lebt oft ohne legalisierte Aufenthaltspapiere und zum grössten Teil unter wirklich prekären Lebensbedingungen. Es hilft uns um darüber zu diskutieren, wie die anarchistische Bewegung zum Beispiel mit dem Kampf gegen Grenzen und Asyllager, mit Kämpfen der Landarbeiter*innen, mit Häuserkämpfen und Hausbesetzungen interagieren kann. Mit diesen Überlegungen im Hinterkopf: Wie werden innerhalb von BLM die Rolle und das Gewicht der weissen Stimmen in Bezug auf die Entscheidungsfindung diskutiert und behandelt?

Häufig werden weisse Stimmen innerhalb von BLM zum Schweigen gebracht oder banalisiert. Ich bin der Meinung, dass BLM – wenn die Bewegung in Italien so reformistisch ist wie hier – vielleicht nicht die beste Option ist, um antiautoritäre Ziele zu erreichen. Ich möchte weisse Personen dazu ermutigen, durch den Austausch von Ressourcen und Informationen (Bücher- und Infotische usw.), vor allem aber auf individueller Ebene Verbindungen zu diesen Menschen ohne Aufenthaltspapiere herzustellen. Denkt daran, dass jede Bewegung, die sich an Menschen wendet, die unter diesen Bedingungen leben, wie Wohltätigkeitsarbeit aussieht, was abschreckend ist. Was bei mir und anderen anarchists of color (und weissen Anarchist*innen!), die ich kenne, am besten funktioniert hat, ist die „Propaganda der Tat“-Methode, die von den meisten Menschen leicht reproduziert werden kann.

Was auch nicht in Vergessenheit geraten darf, ist jedoch, dass nur, weil jemand arm und/oder Schwarz ist, dies nicht bedeutet, dass diese Person sich den Ideen des Anarchismus anschliessen wird. Viele Leute aus meiner Nachbarschaft waren Pro-Kapitalismus und manchmal ist das einfach so. Deshalb ist es wichtig, Anarchie als Leben zu leben, nicht als Organisation, und diejenigen, die sich und ihre Ideen damit identifizieren können, werden sich von sich aus mit dir verbinden.

Der Text „Revolutionary Solidarity. A Critical Reader for Accomplices“ spricht auch detailliert über die komplexe Unterscheidung zwischen Verbündeten und Kompliz*innen. Innerhalb des Textes wird hervorgehoben, wie Hierarchien und Machtstrukturen oft von denen reproduziert werden, die sich als Verbündete identifizieren. Dies wird, wiederum im Text, auf eine grössere Oberflächlichkeit in den Beziehungen zwischen Verbündeten und „führenden Akteur*innen“ innerhalb marginalisierter Gemeinschaften zurückgeführt, die es nicht erlaubt, tiefer in die Kämpfe einzudringen und sie zu verstehen und zu Kompliz*innen in einem gemeinsamen Kampf zu werden. Wie ist die Situation heute in bezug auf diesen Punkt?

Die Situation in bezug auf darauf ist heute: Wenn du in den USA weiss bist, erwarten Schwarze liberals von dir, dass du ihren (pro-staatlichen, pro-kapitalistischen) Vorstellungen folgst. Wenn du das nicht tust, wirst du als Rassist*in / nicht-Verbündete*r (non-ally) betrachtet. Die meisten Weissen haben verständlicherweise Angst davor, im Internet als „rassistisch“ bezeichnet zu werden. Also fügen sich die meisten diesen liberal Vorstellungen. Das ist genau der Grund, weshalb der Text „Another Word for White Ally is Coward“ geschrieben wurde – um diese Unterordnung zu kritisieren. Ich ermutige Weisse dazu, unabhängig zu denken, jede Autorität in Frage zu stellen und auf andere Menschen mit den Konzepten von politischer Affinität und nicht von Identität zuzugehen.

Wir reden immer noch über die Unterschiede innerhalb der BLM-Bewegung: Wie verhalten sich andere, bereits existierende Kämpfe (queere Kämpfe oder Kämpfe gegen Gefängnisse) dazu, und wie verhalten sich diese zueinander? Gibt es eine breitere Debatte, die sich in verschiedenen Momenten berührt? Finden andere Minderheiten innerhalb der Bewegung Raum und eine Stimme?

Nicht unbedingt. Ich bin sicher, dass es BLM Gruppen gibt, die versuchen, zwischen den verschiedenen Kämpfen Brücken zu bauen. Aber es gab viele Fälle, bei denen BLM Organisator*innen alle Diskussionen über andere Bewegungen ausgeschlossen haben – einschliesslich, aber nicht beschränkt auf Momente, wo andere Kämpfe schmerzhaft trivialisiert wurden. Vor kurzem postete eine Schwarze Person eine furchtbare Nachricht, wo es hiess, dass Anne Frank privilegiert war, weil sie nicht Schwarz war.

Eine Frage die speziell relevant für die Situation in Italien ist: Gibt es einen Dialog mit papierlosen, von Rassismus betroffenen Minderheiten und gibt es Raum für die Artikulation ihrer spezifischen Situationen und Forderungen innerhalb von BLM? Wenn ja, wird ihre spezifische rechtliche Verwundbarkeit in Momenten von Strassenaktionen angesprochen?

Mir persönlich ist nichts dieser Art bekannt.

Kommen wir zum organisatorischen Aspekt. Da wir von einer spontanen und massenhaften Bewegung mit sehr hohen Teilnehmer*innenzahlen sprechen, wie kann es einer so grossen Zahl von Menschen gelingen, sich ausserhalb der Momente, in denen sie direkt auf die Strasse gehen, zu koordinieren? Gibt es Momente der Entscheidungsfindung, die horizontal und mit freier Beteiligung funktionieren? Wie werden Entscheidungen getroffen? Und wie verhalten sich vor allem die verschiedenen Praktiken und Vorstellungen zum Handeln auf der Strasse dazu?

Das ist eine sehr komplizierte Sache. Meiner Erfahrung nach lässt BLM keine taktische Diversität zu. Wie bereits erwähnt, ist BLM in den USA sehr pro-Staat und reformistisch – sie sind stolz auf ihr Bild von friedlichen Protesten ohne jegliche Strassenschlachten. Ich war in drei verschiedenen Städten, in denen jede BLM-Gruppe von den Weissen verlangte, dass sie ihre Rucksäcke abgeben, die dann von ihren „Anführer*innen“ durchsucht wurden, um sicherzustellen, dass es nicht zu Ausschreitungen kommt. Wenn du ein*e Antiautoritäre*r bist und mehr tun willst als nur zu marschieren und zu singen, ist die BLM-Bewegung vielleicht nicht die beste Option für dich. Viele Schwarze Menschen haben diese Gruppen verlassen, weil sie mit blossem Marschieren und Sprechchören nicht zufrieden waren.

Wir konnten beobachten, dass während der Demonstrationen und Krawalle die verschiedenen Vorstellungen und Praktiken eine Form des „gegenseitigen Respekts“ zu entwickeln schienen, mit Momenten des gewaltsamen Bruchs und des friedlichen Widerstands, die es schafften, sich die Strasse zu teilen. Andererseits sahen wir, wie im Laufe der Proteste eine Dichotomie zwischen „Demonstrant*innen innerhalb der Bewegung“ und anderen Individuen entstand, die von den Medien als „externe Provokateur*innen“ bezeichnet wurden. Unserer Meinung nach scheint dies ein Weg zu sein, um Gut und Böse klar zu trennen und die Momente des Kampfes zu schwächen, indem innerhalb der Bewegung entgegengesetzte Fronten geschaffen werden. Wie verhalten sich die Menschen in der Bewegung in bezug auf diese Situation zueinander? Wie verhalten sich die verschiedenen Kampfpraktiken (von Krawallen bis zu Plünderungen, friedlichen Protesten und zivilem Ungehorsam) auf den Strassen und in Momenten der Diskussion und Organisation zueinander?

Manchmal tun sich friedliche Demonstrant*innen mit Randalier*innen und Plünderer*innen zusammen (zum Beispiel haben wir in Minneapolis Schutzbrillen und Wasser für friedliche Demonstrant*innen, die auf der Strasse sassen, geplündert). In anderen Momenten löschen friedliche Demonstrant*innen Feuer, reissen den Menschen Steine aus den Händen, alarmieren die Polizei bei Plündereungen oder kämpfen physisch gegen „gewalttätigere“ Elemente der Revolte. Die Begriffe „Externe Provokateur*innen“ oder „outside agitators“ wurden von der liberal BLM und anderen Schwarzen friedlichen Demonstranten konstruiert, um 1) Weisse davon abzuhalten, sich Schwarzen Randalierer*innen anzuschliessen, und 2) die Bevölkerung von der liberal Erzählung zu überzeugen, dass Schwarze „unschuldig“ und „Opfer“ sind und sich niemals an kriminellen Handlungen beteiligen würden. Die Realität ist, dass die George Floyd-Rebellion in Minneapolis von wütenden black and brown Jugendlichen begonnen wurde, die das Gefühl hatten, dass Marschieren und Sprechchöre nicht ausreichten, um seinen Tod zu rächen. Black and brown Jugendliche legten Brände, weil nichts so klar „Fuck you“ ausdrückt wie das Anzünden einer Polizeistation. Black and brown Jugendliche plünderten, weil es eine Gelegenheit war, nach Jahren der Armut Geld zu verdienen. Jedes Mal, wenn liberals (egal ob mit oder ohne Rassismuserfahrung) sagen, es sei alles von white supremacists begonnen worden, werden wir aus der Geschichte ausgelöscht, zusammen mit dem Mut, den es uns gekostet hat, das zu tun, was wir getan haben.

Gibt es innerhalb der BLM-Bewegung Momente, in denen sich Gruppen mit unterschiedlichen Bedürfnissen oder Horizonten gemeinsam organisieren können? Um besser erklären und kontextualisieren zu können: In Italien werden die verschiedenen Wege des Kampfes meist von bestimmten Bewegungsteilen (Anarchist*innen, Kommunist*innen usw.) verfolgt, ohne dass diese Bewegungsbereiche mit den anderen Verbindungen eingehen würden, um eine wirkliche Verbindung oder eine Koordination, (ausser in Fällen von weitverbreiteten Kämpfen / der Verteidigung von Gebieten wie NoTav oder ähnlichen). Wie verbinden sich beispielsweise die Forderungen der Queer-Kämpfe (neben vielen anderen möglichen Beispielen), die Kämpfe gegen Grenzen, Wohnungsbesetzungen oder andere Organisationsformen mit der BLM-Bewegung? Und wie finden sie darin Raum und Platz für Auseinandersetzungen? Wie verhalten sich die verschiedenen politischen Ideologien und Praktiken zueinander?

Manchmal arbeiten sie zusammen, in anderen Städten und Orten tun sie das nicht.
Ich habe selbst nicht viel Kollaboration und Koordination zwischen diesen Bewegungen beobachtet. Wie bei BLM sind auch die Queer-Kämpfe hier nicht homogen – es existieren darin viele Unterteilungen, die auf autoritären oder antiautoritären Vorstellungen von Befreiung beruhen.

Wie haben in diesem Moment, innerhalb einer wirklich heterogenen und breiten Bewegung, verschiedene Gruppen, wie z.B. kleinere Affinitätsgruppen, die eher zu direkten Aktionen neigen, die Möglichkeit, ihre Feinde zu identifizieren und frei zu entscheiden, wie sie diese angreifen wollen, ohne die Ziele und Strategien der „breiteren“ Bewegung zu übergehen? Wie verhalten sich Personen, die „ausserhalb“ dieser kleinen Gruppen stehen (falls es solche gibt), zu direkter Aktion und Sabotage?

Das ist eine gute Frage, denn in den letzten Jahren, wo es innerhalb der Bewegungen zu mehr Konflikten gekommen ist, haben sich immer mehr Anarchist*innen von der breiteren Bewegung abgespalten, um Anarchie und Rebellion in ihrem täglichen Leben weiter zu verfolgen. Diese individualistische Anarchie ermöglicht ein grösseres rebellisches Potential, weil sie sich durch das soziale Drama, das innerhalb der „Bewegung“ so grassiert, weniger ablenken lässt. Zum Beispiel sind einige Anarchist*innen statt mit öffentlichen Aktivitäten jetzt mit klandestinen, zellstrukturierten Aktivitäten beschäftigt, die den Kapitalismus und den Staat von unter her angreifen, anstatt auf der Strasse präsent zu sein. Während das viele für „Lifestyleismus“ halten und missbilligen, empfinde ich das als viel freudvoller und effektiver im Hinblick auf die Diskussion um die Strategien „Organisierung von Massen“ versus „einen auf Affinitätsgruppen basierenden Aufstand“.

Gibt es im Moment Diskussionen darüber, wie zukünftige kollektive Organisierungen aussehen könnten? Wie kann der Kampf fortgesetzt werden, in welchem man verschiedenen Schwierigkeiten begegnet, die auftreten können, wie z.B. Müdigkeit oder Verlust des Enthusiasmus auf den Strassen?

Nach meiner Erfahrung scheint es beim kollektiven Organisieren viel „Burn-outs“ zu geben. Ich selbst gehörte 3 verschiedenen Kollektiven an und war jahrelang aktiv mit dem Organisieren in meiner Nachbarschaft beschäftigt. Ich würde zwar nicht sagen, dass ich „ausgebrannt“ bin, aber ich kann ehrlich sagen, dass ich in dieser Zeit ziemliche Enttäuschungen erlebt habe. Die community oder meine Nachbarschaft ist keine monolithische Gruppe von Menschen. Mir wurde dies Jahr für Jahr bewusst, da einige Leute sich für radikale Politik interessierten, viele aber nicht. Anstatt so viel Zeit damit zu verbringen, andere zu organisieren, fand ich Stärke darin, mich selbst zu organisieren und die Rebellion aus einer individualistischen Perspektive zu erkunden. Während ich immer noch Zines mit meiner Distro (Warzone Distro) verteile, habe ich erkannt, dass Menschen aus ihrem eigenen individuellen Wunsch heraus rebellisch werden – und nicht unbedingt dadurch, dass sie von anderen organisiert werden. Ich kenne viele andere Anarchist*innen, die genauso empfinden und ein ähnliches Leben führen. Einige reisen und leben illegal, während andere als Aufständische leben, die immer Pläne schmieden und angreifen. Nicht viele nehmen sich die Strasse oder organisieren sich wie sie es 2010 usw. getan haben.

Um dieses sehr lange Interview mit einer breiteren Frage zu beenden, möchten wir euch fragen, was eurer Meinung nach die antikapitalistischen, revolutionären Aussichten sind, die sich langsam in den Zielen und Praktiken der BLM-Bewegung erkennen lassen?

Ich würde sagen, die Wut in der BLM-Bewegung ist eine wertvolle, revolutionäre Perspektive. Während es oft nicht genug Wut gibt, ist dort eine Wut vorhanden, die die Menschen dazu inspiriert, auf die Strasse zu gehen. Die Frage ist nur, ob diese Wut in geringfügige Gesetzesreformen kanalisiert wird. Oder wird sie aus den Fesseln des liberalism ausbrechen und wie eine Bombe gegen die Domestizierung durch Recht-und-Ordnung explodieren? Für jede*n Schwarze*n liberal, welche*r weissen friedlichen Gehorsam fordert, gibt es eine*n Schwarze*n Anarchist*in, welche gemeinsam mit weissen Kompliz*innen randaliert.

Liebe und Wut von der anderen Seite des Globus!

Flower Bomb

Weitere Texte gibt es bei der Anarchist Library und Warzone Distro.

P.S.

Informationen zur Übersetzung

Begriffe, die im Deutschen eine andere Konnotation besitzen und sich nicht präzise übersetzen lassen, haben wir im Original belassen und lediglich kursiv gesetzt. Von dreien hier dennoch der Versuch einer Übersetzung:

  • white supremacy / white supremacists: (rassistische) Vorherrschaft der Weissen bzw. Anhänger*innen dieser Ideologie
  • liberals: Personen, die auf eine gewisse Weise zwar marktgläubig sind, gleichzeitig aber den Staat in der Verantwortung sehen, soziale Netze zu spannen, Ungerechtigkeiten zu bekämpfen und den Zugang zu Bildung, Gesundheit etc. sicherzustellen. Sehr vereinfacht gesagt: Sozialdemokrat*innen.
  • outside agitators: „Aufwiegler*innen“, die angeblich „von ausserhalb“ an Protesten teilnehmen, gewaltbereit sind und deswegen die Legitimität eines Kampfes infragestellen sollen. Ein in den USA seit dem 19. Jahrhundert gängiges rassistisches Narrativ, wonach people of color keine selbstbestimmten Kämpfe führen können, sondern von weissen Radikalen unterwandert sind. Ein Variante von „Teile und Herrsche“, die auch von den hiesigen Herrschenden gezielt verwendet wird, um Misstrauen und Spaltung zu produzieren. Wird zumeist auf die militanten Teile einer Bewegung bezogen.