Eva von Redeckers Revolutionäre Protestphilosophie
veröffentlicht in den „Libertären Buchseiten“ der Graswurzelrevolution #459
Buchbesprechung
Eva von Redecker: Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen, Fischer-Verlag, Frankfurt/M. 2020, 320 Seiten, 23 Euro, ISBN 978-3-10-397048-7
Ist die Rede von Revolution heute nicht vollkommen aus der Zeit gefallen? Dies ist eine erste Frage, die sich mir stellt, wenn ich den Titel Revolution für das Leben der Philosophin Eva von Redecker in die Hände nehme. Die Antwort, welche die Autorin in ihrem Buch formuliert, ist in eindeutiges Nein. Auf der Suche nach einem Begriff für die Sehnsucht danach, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse radikal, umfassend und langfristig verändert werden können, erscheint es in den letzten Jahren immer sinnvoller auch wieder von Revolution zu sprechen. Zu allen Zeiten argumentierten Fürsprecher*innen der sozialen Revolution, dass sich die gesellschaftlichen Widersprüche zuspitzen würden und Auseinandersetzungen unvermeidlich seien. Jedoch bestehe auch die Möglichkeit, sie in eine emanzipatorische Richtung zu drängen. Dennoch nähren die massiven sozialen Verwerfungen gerade heute und weltweit eben jene Sehnsucht, beziehungsweise führen zur bloßen Notwendigkeit, dass die Gesellschaft grundlegend anders werden kann und soll. Die Corona-Pandemie wirkt auch für Eva von Redecker als Katalysator, um eine solidarische Perspektive auf die Transformation der gesamten Gesellschaft zu entwerfen.
„Wie kann eine Revolution heute aussehen?“, könnte die zweite Frage lauten. Die Autorin spricht hierbei bewusst von einer „Revolution für das Leben“, weil sie davon ausgeht, dass die kapitalistische Herrschaft eine Wirtschaftsweise und Gesellschaftsform ist, die sozialen Tod produziert und zur Folge hat. Und dies gelte nicht erst oder vor allem zum heutigen Zeitpunkt, an welchem dem der Karren bereits an die Wand gefahren zu sein scheint, sondern seit Jahrzehnten und aus einer zugrundeliegenden Logik heraus. Hierbei nimmt sie eine aus Marx‘ frühe Schriften abgeleitete strukturelle Sichtweise ein und fordert uns mit Hannah Arendt auf, aktiv zu werden und ins Handeln zu kommen. Inspiriert unter anderem vom Gustav Landauer entfaltet Eva von Redecker das Verständnis eines prozesshaften, aber tiefschürfenden Wandels. Radikale Veränderungen finden nach diesem Verständnis dezentral in unterschiedlichen Zwischenräumen statt, in denen alternative Formen von Beziehungen, Produktion und Selbstorganisation entwickelt und verwirklicht werden. Die „Sachherrschaft“ des Kapitalismus soll so durch die „Weltwahrung“ schwinden und gebrochen werden. Dabei gehe es auch darum, die „Gezeiten“ von natürlichen Kreisläufen wieder wahrzunehmen. Maßgeblich mit Blick auf die Tatsache des Klimawandels entwickelt von Redecker ihren Revolutionsbegriff aus der ökologischen Dimension weiter – wie es vor Jahrzehnten bereits Murray Bookchin (siehe Artikel in GWR 455) tat.
Doch wie sollen wir heute revolutionär werden und wer führt die Revolution durch? Gelungen an Revolution für das Leben ist insbesondere, dass die Autorin keine schöngeistigen Luftschlösser baut. Sie pflegt kein romantisiertes Verständnis von Revolution, das uns für den Alltagsgebrauch nicht mehr als etwas Erbauung bieten kann. Vielmehr orientiert sie sich an den großen zeitgenössischen emanzipatorischen, sozialen Bewegungen der letzten Jahre: dem Antirassismus von Black Lives Matter, dem Feminismus von Ni una menos und der Klimagerechtigkeitsbewegung. Dies ist ihr hoch anzurechnen und für eine philosophische Betrachtung keineswegs selbstverständlich, denn es gelingt von Redecker auf überzeugende Weise, die Perspektive zu wechseln und sich von diesen Bewegungen in einem positiven Sinne mitreißen zu lassen. Dabei vergisst sie nicht, dass wir nach wie vor in einer Klassengesellschaft leben und eine sozial-revolutionäre Perspektive auch zwangsläufig die Frage nach der Vergesellschaftung der Produktionsmittel aufwerfen muss.
Revolution für das Leben ist in drei Teile gegliedert. In den ersten vier Kapiteln (unter den Überschriften „beherrschen“, „verwerten“, „erschöpfen“ und „zerstören“) wird eine zeitdiagnostische Bestandsaufnahme gewagt und eine Sprache gefunden, um dem vielfach zerstörerischen Zustand der Gegenwartsgesellschaft realistisch zu beschreiben und ihn konfrontieren zu können. Im fünften Kapitel wird der aktualisierte Revolutionsbegriff umrissen, der mit Walter Benjamin insbesondere eine Herangehensweise des Stoppens und Aussteigens beinhaltet. Die Revolution ist hierbei nicht als Lokomotive, sondern als Notbremse der Geschichte zu verstehen. Im sechsten bis neunten Kapitel („retten“, „re-generieren“, „teilen“ und „pflegen“) wird veranschaulicht, welche Ansatzpunkte und Überzeugungen in den genannten sozialen Bewegungen bereits bestehen, die sich auf deren Selbstverständnisse und Organisationsformen auswirken. Neben Ausbeutung und Unterdrückung betont Eva von Redecker die Dimension der Entfremdung, der sie die Vorstellung einer „Wiederweltnahme“ (statt der Aneignung) entgegensetzt.
Da die gesamte Denkweise in ihren wesentlichen Grundgedanken einen spürbar anarchistischen Ton aufweist, wäre es schön gewesen, die Autorin hätte diesen noch stärker herausgestellt. Weil sie ihr Verständnis auch aus den Anschauungen der sozialen Bewegungen gewinnt, damit jedoch unweigerlich auch an Grenzen stößt, wird deutlich, dass jene sich ebenfalls stärker ihrer selbst bewusst werden müssten, um zielgerichteter vorangehen zu können.
Eine gewisse Leerstelle bildet die Frage, wie mit den Konfrontationen umgegangen werden kann, in die sozial-revolutionäre Bewegungen unweigerlich hineingezogen werden. Auch dahingehend hält von Redecker es offensichtlich mit Landauer, demzufolge wir mit dem Sozialismus beginnen, etwas für ihn tun müssen, um ihn zu ermöglichen. Statt den Fokus auf den scheinbar allmächtigen Gegner zu legen, gelte es somit eher, dass sich Aktivist*innen auf sich besinnen, von sich ausgehend handeln und Neues schaffen. Dies ist die realistische Hoffnung, die wir haben können.
Jonathan Eibisch