
Einfach mal abhauen. Wenn abhauen so einfach wäre. Oder draufhauen? Im Affekt geht’s meistens daneben und trifft die Falschen. Meine Verfahrensweisen, mit verfahrenen Verfahren adäquat zu verfahren, haben sich erschöpft. Waren nie so gut entwickelt glaube ich. Alles immer so nah, so unmittelbar. Die Distanz fehlt oft zu den Anderen, den Ereignissen, auch zum Selbst – somit in letzter Zeit leider auch fast völlig der Humor, ein Zeichen dafür, wirklich krank zu sein. Wieder gibt’s da Gründe, wie immer gibt es Gründe. Gründe hin, Gründe her, auf die eigentlichen Gründe kommt man ja doch nicht. Beziehungsweise erahnt man sie, aber was bringt es, sich ihnen wirklich zu stellen, außer einer Therapeutin Geld oder etwas Entspannung?
Gut, letzteres wäre ja schon mal was. Da könnte auch eine Sauna helfen zum Beispiel. Doch neben den Gründen scheinen mir die Umstände eigentlich wichtiger zu sein. Und die sind eben nun mal sehr unsicher, verunsichernd für mich in letzter Zeit. Da wolltest du den Tatsachen in die Augen sehen, eben nicht – wie doch die meisten – wegsehen, sondern zulassen und dich gerade deswegen auf deine ach so weltverändernden Aufgaben konzentrieren… und merkst, dass du dir trotzdem Kartenhäuser gebaut hast, merkst es, weil sie zusammen krachen. Sammelkarten, die mit Lawinenlärm brechen, fallen, krachen. Wie so manchmal eben. Davon geht die Welt nicht unter. Doch das Neuaufbauen, immer wieder Neuanfangen ist nun mal sehr anstrengend – und Anstrengung lässt sich nicht vergleichen und objektiv bewerten.
Wer sich phasenweise verzweifelt, dem fallen dann viele kleine Dinge schwer. Da werden scheinbar einfache Entscheidungen Schwerstarbeit. Und hinter allem steckt die Erkenntnis, dass da die Basis fehlt, der Halt. Dass man ihn erst einmal oder vor allem in „sich selbst“ suchen und finden müsste, ist eine dreiste Lüge. Wer Halt hat, strahlt diesen aus – und erhält zum Geschenk die Bestätigung anderer, welche sich der Stürzende vergeblich zu klammern erhofft. Da mag es viele Dispositionen geben, vielleicht sogar einige genetische. Vor allem hat das aber etwas mit eigenen Erfahrungen zu tun, wie man Anerkennung und so weiter aufgespeichert – wozu gehören würde, sie erst einmal wahrzunehmen, was schlecht geht, wenn nichts für mich und alles für die sublimierte Sache dienen soll.
Hinter allem steht dann leider doch das Gefühl, nicht zu genügen. Wo du denkst, absolut nichts hinzubekommen – dabei, hey, habe ich Schuhe gekauft… eine einzige Odyssee! – fragen dich andere, warum du dir den Arsch abarbeitest. Zumal es ja auch stimmt – man kann sich völlig verarbeiten. Wenn ich eines Tages beispielsweise 13 Seiten kürze – was habe ich dann effektiv getan? Eine Antwort darauf lautet: Vorher zu viel! Wenn mein Tageswerk die Destruktion war, so wäre sie doch weit befriedigender gewesen, könnte ich Bulldozer fahren oder eine Abrissbirne steuern. Ja, das muss Genugtuung sein – den alten Beton unserer kurzlebigen, auf Sand gebauten Zivilisation schön massiv zerbröseln lassen! Was für first-world-problems sag ich mir da gleich wieder. Und das stimmt auch.
Aber ich bin mir dennoch sicher, dass viele auch nicht tauschen wollen würden mit mir, wenn sie das Päckchen der verinnerlichten Mission mit auf sich nehmen müssten. Der deklassierte, seines früheren Weltbilds und Orts beraubte Intellektuelle ist, mit seinen zerstörten romantischen Illusionen und seinen in Frage gestellten Dogmen, zugleich verbunden und allein. Und in letzter Zeit fühlt sich das Alleinsein doch wieder existenziell, wie konkrete Einsamkeit an. Doch auch damit erzeugt man wieder eine Marke, eine wohl nicht künstliche, aber dennoch aus spezifischen Umständen und Positionierungen resultierende Selbstbeschreibung: Eine postmoderne lost-boy-Mentalität steckt doch dahinter, wenn ich ehrlich bin. Kein klassischer und kein neuer Mann, irgendwie ein bisschen feminin auch, aber sicher keine Frau, was sich leider schon an seinen Beziehungsmustern und den merkwürdigen Vorstellungen von seinen Problemen zeigt. Für die Stillen zu geschwätzig, für die Selbstverliebten zu skeptisch, für die Profillosen zu dogmatisch, für die Dogmatiker zu chaotisch, für die Chaoskinder zu noch zu sehr auf’s Klarkommen bedacht, für jene mit strukturierten Alltagsabläufen viel zu asymptomatisch arhythmisch und ohne sich Zukunftsperspektiven zu schaffen, geht er seinen Weg einfach weiter.
Du siehst den Abgrund – und was du tust ist sitzend, arbeitend, denkend rennen. Wenn du nur schnell genug rennst, so denkst du dir, würde der Abgrund vielleicht einfach weichen. Oder würden magische Stufen in der Luft plötzlich darüber führen. Oder würde im Notfall ein Sicherheitsnetz darüber gesponnen sein, was dich fängt, sodass du dir eine Auszeit nehmen musst, in der du dich regenerieren kannst. So zumindest war es bisher doch immer. Davon auszugehen, dass es wieder so ist, ist nicht rational. Vielleicht ist es aber die einzige Hoffnung, die wir haben, in einer Gesellschaftsform, die auf Gewalt und Zerstörung gründet und sich täglich systematisch selbst untergräbt. Wie soll man da an Kinder denken – oder auch nur an… Selbstgenuss? Die ererbte Renitenz meiner Großmutter in allen Ehren – ohne sie könnte ich nicht tun, was ich tue. Doch Beharrlichkeit ist nun mal nicht die einzige Fähigkeit, die hilft, wenn die Wände deines Zimmers zusammenfallen. Manchmal geht es eben doch darum, sich eine Bleibe auf Erden zu bauen, um dasein zu können. Es muss ja nicht für die Ewigkeit sein… Daher nicht abhauen, sondern bleiben. Da bleiben. Dabei bleiben. Und sich auf den Moment konzentrieren.