Die Herausgeber der „dissensorientierten“ Zeitschrift Tseyfl suchen aktuell gar nicht mehr den Abstand, sondern den Anschluss an soziale Bewegungen – was ich grundsätzlich sehr begrüße. In der aktuellen Phase von Inflation, Preissteigerung und damit verbundener Verschärfung von Elend und Armut für weitere soziale Schichten, haben sie eine Verteilzeitung veröffentlicht, um ihre Perspektive auf die derzeitige Krise zu schärfen und zu erläutern. Diese kann hier herunterladen werden: https://tsveyfl.blogspot.com/p/verteilzeitung.html

Allgemein werden darin plausible Argumente vorgetragen, wie ein sozialer Abstieg für viele verhindert werden könnte. In 12 Forderungen werden unter anderem die Kontrolle von Benzin- und Gaspreisen, die Vergesellschaftung von Energieproduktion, ein kostenloser ÖPNW, ein bundesweiter Mietendeckel, die Erhöhung der Sozialleistungen wie auch die Anwendung der Vermögenssteuer gefordert. Auch aus meiner Sicht gibt es Sinn, pragmatische Ansatzpunkte aufzuzeigen, wie die soziale Situation für viele gesichert bzw. verbessert werden kann.
Denn zahlreiche Erfahrungen haben gezeigt, dass Verelendung niemals zur Verbreitung emanzipatorischer Einstellungen und der Entwicklung selbstbestimmter Kämpfe führt. Wenn Menschen hingegen zurecht darauf hoffen und gemeinsam erfahren können, dass sich etwas verbessern und sie dazu beitragen können, aktiviert und motiviert sie das. In diesem Sinne ist es auch gut und folgerichtig, dass in der Verteilzeitung auf anarcho-syndikalistische und -kommunistische Gruppen hingewiesen wird, bei denen man sich informieren und anschließen kann. Zudem werden Strategien zur Selbstorganisation besprochen und mit den Angry Workers von Kämpfen in Großbritannien Ansatzpunkte für direkte Aktionen gegeben.
Trotzdem ich diese Herangehensweise ganz gut finde, entsteht bei mir dennoch eine Skepsis, die ich nicht auflösen kann und bei meinen eigenen Aktivitäten ebenfalls zu Widersprüchen führt. Denn an wen werden die erwähnten Forderungen gerichtet? Wer erhöht Bafög, Sozialleistungen, senkt Benzin- und Mietpreise denn? Im Endeffekt ist es der Staat, an welchen hier appelliert wird. Wenn es darum geht, mehr zu werden und mit den eigenen Ansichten anschlussfähig zu werden, ist es unausweichlich, mit den vorgeschlagenen Punkten wenigstens Orientierung zu geben und derartige „reformerische“ Wege einzuschlagen. Wo aber machen Anarchist*innen dann einen Unterschied zu herkömmlichen linken Gruppen, ob wenig oder besonders radikal eingestellt?
Entscheidend ist letztendlich, ob auf die Regierung als Kümmerin vertraut wird – oder tatsächlich Druck von autonomen sozialen Bewegungen aufgebaut werden kann, als deren Folge sich Regierungen gezwungen sehen, soziale Reformen einzuleiten. Voraussetzung dafür ist, eine verständliche Kritik von Politik mitzuliefern, mit welcher verdeutlicht wird, wie das Alltagsbewusstsein von politischen Illusionen durchzogen ist. Selbstorganisation muss praktisch werden, um mit der eigenen Staatsbürger*innenschaft brechen zu können.