Für den 6-Stunden-Tag!

Lesedauer: 3 Minuten

Auch wenn es viel hin und her zu diskutieren gäbe, finde ich es erst mal gut, dass einige Leute außerhalb vorgezeichneter Bahnen denken und das Anliegen in den Vordergrund rücken, Menschen erreichen zu wollen. Forderungen nach einer Verkürzung der Arbeitszeit sind nicht neu und werde beispielsweise bereits von der 4-Stunden-Liga seit einer Weile thematisiert.

Grundsätzlich lässt sich auch diskutieren, wer was wie an wen überhaupt fordert. Also in welcher Machtposition sich die Fordernden sehen oder imaginieren, um damit Menschen erreichen zu wollen. Wer von Ausbeutung spricht, muss das Lohnverhältnis auch als kapitalistisches Zwangsverhältnis thematisieren. Es ist nicht gesagt, dass diese klare Benennung mehr Leute abschreckt…

Aufruf: Für den 6-Stunden-Tag!

https://de.indymedia.org/node/271457

Wir glauben, dass eine bessere Welt für uns alle möglich ist! Am 30. April wollen wir für die Verbesserung unseres eigenen Lebens auf die Straße gehen. Wir wollen keine Symbolpolitik und auch keinen Wahlkampf betreiben. Wir haben durch die Inflation immer weniger Geld, müssen immer länger arbeiten und sehen, wie Konzerne gleichzeitig Milliardengewinne machen. Wir haben keine Lust, unser gesamtes Leben nur zu arbeiten, um über die Runden zu kommen. Wir denken, dass eine andere Form des Arbeitens und Lebens möglich ist. Eine, in der zumindest Gewinne ausgeschüttet und Betriebe selbst verwaltet werden. Wir wollen selbst über unsere Arbeitszeit entscheiden. 

Wir fordern aber nicht nur den 6-Stunden-Arbeitstag, sondern auch eine Arbeitsentlastung für alle. Menschen mit Kindern oder Personen, die andere pflegen oder emotional unterstützen haben oftmals viel längere, meist unbezahlte Arbeitszeiten. Wir brauchen deswegen auch einen besseren Ausbau der Kinderbetreuung und eine gerechtere Verteilung von Pflegearbeit. 

Lasst uns daher am 30. April für den 6-Stunden-Tag auf die Straße gehen

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Aus Ruinen auferstehen

Lesedauer: 2 Minuten

Texte zur indigenen Anarchie

Nach den von Elany 2021vherausgegebenen Gesammelten Schriften zum schwarzen und indigienen Anarchismus wurde nun eine weitere Übersetzung englischer Texte aus diesem Kontext herausgebracht. Mit In einer Welt der Ruinen. Gespräche von indigener Anarchie. Ausgewählte Texte (2022) wird der europäische Anarchismus weiter hinterfragt und dezentriert. Insbesondere Aragon!, der Anfang 2021 starb war ein kritischer Zeitgenosse, welcher auf die Notwendigkeit eines eigenständigen nicht-westlichen Anarchismus hinwies. Dieser kann jedoch nicht einfach historisch rekonstruiert werden, sondern ist im der heutigen Situation vor dem Hintergrund ihrer brutalen, kolonialistischen Vergangenheit zu formulieren. Zugleich fordert er kämpferische indigene Personen auf, sich von ihrem Bezug auf Bürgerrechtsbewegungen zu lösen und anarchistische Wege einzuschlagen. Einige Texte von ihm sind HIER verfügbar.

Im vorliegenden Sammelband schreibt Aragorn! u.a.:

„Ein indigener Anarchismus ist ein Anarchismus der Örtlichkeit. Das scheint unmöglich in einer Welt, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, uns nirgendwo zu verorten. Eine Welt, die uns in einem universellen Nirgendwo verortet. Selbst dort, wo wir geboren werden, leben und sterben ist nicht unser Zuhause. […] Letztendlich stellt ein indigener Anarchismus uns als unverrückbaren Teil einer erweiterten Familie dar. Das ist eine Erweiterung des Gedankens, dass alles lebendig ist und wir daher damit verwandt sind, in dem Sinne, wie auch wir lebendig sind. Es ist außerdem eine Aussage über die klare Priorität. Die Verbindung zwischen lebendigen Dingen, die wir kurz als Familie bezeichnen würden, ist die Art und Weise, wie wir uns selbst in der Welt verstehen. Wir sind Teil einer Familie und wir kennen uns durch die Familie. Die säkulare Sprache einen Moment beiseite gelegt, ist es unmöglich, sich selbst oder einander ausserhalb des Geistes zu verstehen. Es ist das Mysterium, dass ausserhalb der Sprache bleiben sollte, das wir alle miteinander teilen, und dieses zu teilen heißt leben“ (S. 59f.).

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Sabotieren, neutralisieren, vergesellschaften, umfunktionieren

Lesedauer: 3 Minuten

Gavin Muellers Maschinenstürmer

zuerst veröffentlicht in: GWR

Was wäre, wenn wir die digital gestützte Megamaschine – wie Lewis Mumford, die hierarchisch gegliederte und technokratisch organisierte Gesellschaftsform nannte – anhalten könnten? Wenn wir Techno-Kapitalist*innen aufhalten, uns endlich entschleunigen und besinnen würden? Was, wenn daraufhin proletarisierte, zur maschinisierten Lohnarbeit gezwungene Menschen sich organisieren und die Eigentumsfrage neu stellen könnten? Was, wenn dies die Ausgangsbasis dafür wäre, einen libertären Sozialismus zu verwirklichen, in welchem Technik den Menschen dient? Einer Gesellschaftsform, in welcher Menschen nicht zu Rädern an Maschinen degradiert werden, die sie kontrollieren und mit falschem Glücksversprechen passivieren?

Technisierung und Widerstand

Mit dem Buch „Maschinenstürmer“, das 2021 auf englisch unter dem Titel „Breaking things at work“ erschien und 2022 von Josefine Haubold ins Deutsche übersetzt wurde, widmet sich Gavin Mueller genau diesem Themenfeld zwischen maschinisiertem Tech-Kapitalismus und der Gesellschaftsform, welche ihn hervorbringt und die durch ihn geformt wird. Auf fesselnde Weise erzählt der an der Universität in Amsterdam angestellte Autor von den Problemen der Einführung mechanisierter Webstühle und von der Durchsetzung tayloristischer Arbeitsorganisation. Mueller beschreibt die Automatisierung und den Einsatz von Computern in Wirtschaft, staatlicher Bürokratie und Militärapparat, um schließlich den zeitgenössischen Hightech-Kapitalismus zu kritisieren.

Doch nicht nur dies, parallel zur Einführung neuer Technologien und der aus ihnen folgenden sozialen Probleme, stellt er die Geschichte des Widerstandes gegen diese dar. Zu lesen ist von der Ludditen-Bewegung, Anfang des 19. Jahrhunderts in England, von den Wobblies zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA und von Arbeiter*innen, die in der Sowjetunion gegen den Taylorismus vorgingen. Der Autor berichtet von Sabotageakten gegen die Automatisierung der Fabrikarbeit und den Beiträgen in der technik-kritischen Zeitschrift „Processed World“ in den 1970er und 80er Jahren. Im vierten Kapital schreibt er über Hacker und die Entwicklung und Verbreitung freier Software.

Mit dieser gleichermaßen pointierten und fundierten Flugschrift wird endlich mit dem Stigma des „Luddismus“ aufgeräumt, welcher technik-kritischen Linken unterstellt, sie wären „primitivistisch“, „konservativ“ oder „kulturpessimistisch“. Diese Unterstellungen wurden und werden ebenso von den Eigentümer*innen kapitalistischer Konzerne, wie von zahlreichen linken Intellektuellen vertreten. Unter Letzteren gibt es nach wie vor Anhänger*innen des „Akzelerationismus“ (von „Beschleunigung“), welche der Ansicht sind, die vorangetriebene technologische Entwicklung würde zu mehr Freizeit führen, das Leben insgesamt angenehmer machen und sogar die Voraussetzungen für einen zeitgenössischen Sozialismus schaffen. Wenngleich diese ebenfalls marxistisch argumentieren, räumt Mueller mit dieser Vorstellung auf und entlarvt sie als Mythos.

Eine emanzipatorische Kritik an der Technik der Herrschenden

Mit dem Vorurteil gegen den Luddismus wird Arbeiter*innen zudem abgesprochen, zielgerichtet autonome Kämpfe gegen ihre Arbeitsverhältnisse geführt zu haben und zu führen. Dabei ist der Kampf gegen die Einführung von Maschinen häufig von rationalen Überlegungen geleitet und durchaus im nachvollziehbaren Interesse der Arbeitenden. Überhaupt waren und sind die Motive der Saboteur*innen meistens gar keine dezidiert technik-feindlichen, sondern darin gegründet, dass Technik nicht als „neutral“ betrachtet werden kann, sondern die herrschende Ordnung in sie eingeschrieben ist. Dies gilt für den Webstuhl, welcher den Arbeiter*innen einen grausamen Rhythmus aufzwingt, ebenso wie bei der extrem durchgetakteten Fließbandarbeit, Computerprogrammen für die Büroarbeit oder die Nutzung zahlreicher Smartphone-Apps.

Mit dem Kampf gegen Maschinen, die im Besitz von Kapitalist*innen sind und ihren Zwecken dienen, wie auch gegen technokratische Regierungsmaschinen, sind demzufolge ebenso Klassenkämpfe, ökologische Kämpfe, das Aufbegehren gegen Entfremdung und Leistungsfetischismus verbunden. In seinem Buch wagt der Autor eine häretische marxistische Perspektive, mit welcher Walter Benjamins Herangehensweise ernst genommen wird: Die Lokomotive des kapitalistischen Fortschritts führt keineswegs zur Revolution, sondern jene besteht im Gegenteil darin, die Notbremse zu ziehen. Analog zu diesen Überlegungen könnte auch Gustav Landauers Geschichtsverständnis gesehen werden, das allerdings nicht in einer marxistischen Linie zu verorten ist. Damit richtet er sich auch gegen die Sozialdemokratie und den Kommunismus seinerzeit, die ironischerweise in Hinblick auf die Technisierung von Arbeit, Konsum und Freizeit häufig keine Antagonist*innen der herrschenden Klassen waren. Anarchist*innen sabotieren weltweit Baumaschinen, Fließbänder, Versuchsfelder für genmanipulierte Pflanzen, Funkmasten, Bahnstrecken, Fahrkartenautomaten, Software oder Pipelines. Wie strategisch sinnvoll derartige Handlungen im Detail sind, dazu gibt es sicher von Fall zu Fall sehr unterschiedliche Ansichten. Mueller zeigt auf, dass sie durchaus in einer anhaltenden und begründbaren Tradition luddistischer Politiken stehen. Mit ihnen müssen keinesfalls prinzipielle Technikfeindlichkeit, menschenfeindlicher Primitivismus oder ein esoterischer Naturalismus einhergehen. Sabotage kann einfach das Naheliegende sein, was es zu tun gilt.

Gavin Mueller: Maschinenstürmer. Autonomie und Sabotage, Edition Nautilus, Hamburg 2022, 232 Seiten, 20 Euro, ISBN 978-3-96054-307-7.

Sabotieren, neutralisieren, vergesellschaften, umfunktionieren

Lesedauer: 3 Minuten

Gavin Muellers Maschinenstürmer

zuerst veröffentlicht in: GWR

Was wäre, wenn wir die digital gestützte Megamaschine – wie Lewis Mumford, die hierarchisch gegliederte und technokratisch organisierte Gesellschaftsform nannte – anhalten könnten? Wenn wir Techno-Kapitalist*innen aufhalten, uns endlich entschleunigen und besinnen würden? Was, wenn daraufhin proletarisierte, zur maschinisierten Lohnarbeit gezwungene Menschen sich organisieren und die Eigentumsfrage neu stellen könnten? Was, wenn dies die Ausgangsbasis dafür wäre, einen libertären Sozialismus zu verwirklichen, in welchem Technik den Menschen dient? Einer Gesellschaftsform, in welcher Menschen nicht zu Rädern an Maschinen degradiert werden, die sie kontrollieren und mit falschem Glücksversprechen passivieren?

Technisierung und Widerstand

Mit dem Buch „Maschinenstürmer“, das 2021 auf englisch unter dem Titel „Breaking things at work“ erschien und 2022 von Josefine Haubold ins Deutsche übersetzt wurde, widmet sich Gavin Mueller genau diesem Themenfeld zwischen maschinisiertem Tech-Kapitalismus und der Gesellschaftsform, welche ihn hervorbringt und die durch ihn geformt wird. Auf fesselnde Weise erzählt der an der Universität in Amsterdam angestellte Autor von den Problemen der Einführung mechanisierter Webstühle und von der Durchsetzung tayloristischer Arbeitsorganisation. Mueller beschreibt die Automatisierung und den Einsatz von Computern in Wirtschaft, staatlicher Bürokratie und Militärapparat, um schließlich den zeitgenössischen Hightech-Kapitalismus zu kritisieren.

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(Anti-)politics and communist anarchism

Lesedauer: 11 Minuten

This contribution was published on theanarchistlibrary.org 05.04.2023. A friend recommanded me at least to have a provisional translation of some of my writings.

This post was first published on anarchismus.de on 06.08.2022 as a guest post. Its author blogs at paradox-a.de. The article was translated with help of deepl.com. If someone wants to revise it linguistically, the original can be found here: https://paradox-a.de/texte/anti-politik-und-der-kommunistische-anarchismus-2/

When I decided five years ago to devote myself comprehensively to the political theory of anarchism, it seemed obvious to me to explore the basic concepts of this pluralistic socialist current. For in anarchism there is an independent theoretical thinking, which must necessarily be understood in connection with the anarchist ethics and its ways of life as well as anarchist ideas of organization. Therefore I asked myself the questions: What do anarchists actually understand by „politics“? How do anarchists behave towards „politics“? And: Can there be an anarchist „politics“ and what would be its criteria? The concept „(anti-)politics“ expresses that it is a field of tension caused by the existing order of domination, in which anarchists always act in contradiction.

Statehood as an organized political relationship of domination

It is striking that in all anarchist currents there is a fundamental critique of policy-making. This relates to government policy, the state bureaucracy, parliamentarism, and the party politics. But it also refers to the political logic and mode of organization in a broader sense. For what we commonly understand and associate with „politics“ is not a neutral terrain. Rather, the activities of social movements that tend to be autonomous and self-organized are often attributed to and often appropriated by the state. „Politics“ takes the form of political rule in liberal-democratic forms of society. This means that statehood emerged as a relationship of domination between those who govern and those who are governed, and this is carried into potentially all areas of society.

It is in the logic of the state to regulate, control, sanction and capture all social spheres. If a „private sphere“ is constructed through it, then this is just as little in itself exempt from state domination as „the“ economy cannot really be thought of separately from the state and „leisure“, the flip side of wage labor. Statehood can be thought analogously to capitalism, the economic relation of domination, patriarchy in gender relations, and anthropocentrism in the societal relation to nature.

As a relation of domination, it potentially reaches into all social spheres, but it is not total. Alongside it exist suppressed and repressed forms of how people can organize themselves. They do so even when statehood is the dominant political relation of domination. On most activities that take place on the political level, the state claims a monopoly or at least wants to control and regulate them. Conversely, when most people think of „politics,“ they very quickly associate it with statist structures and logic – because their consciousness is shaped by the ideology of the existing ruling order.

Radical democracy or skepticism towards politics?

If anarchists reject the nationalization of politics, one possibility would be to oppose it with a kind of self-organized and autonomous politics „from below“. A „radical democracy“ or „grassroots democracy“ is to be opposed to state rule, that claims itself wrongly to be „democratic“. If you like, these approaches are about reclaiming the concept of „politics“ and thus redefining it. Obviously, many anarchists are always concerned with what is going on in „politics“ and also try to intervene in it. This happens when they register rallies, participate in demos, are possibly active in associations, perhaps also talk to politicians or deal with politics in order to be able to criticize and delegitimize it.

With the topic connected is the question, which starting points exist for the organization of a libertarian-socialist form of society. Even if there are plausible arguments for this radical-democratic view, I decided to use another concept of politics. I describe it as (ultra-)realist, governmental and conflict-oriented. By this I mean to express that the political field is always about power struggles and that those involved in it have extremely unequal power resources. This means, as I said before, that politics is never neutral in the existing order of rule. Rather, its conditions are already shaped by political domination.

In other words: In politics as it appears to us today, there is little to almost no room for anarchist positions. If they bring social-revolutionary aspirations into it, they are marginalized and demonized. If anarchists try to work pragmatically for gradual improvements, they are ignored or hemmed in. These effects should not be underestimated, as is the case with numerous leftists who found the hundredth political sect, join political parties despite their discomfort, or despair of politics and want to be effective only culturally or with their personal lifestyle, for example. From an anarchist perspective, it is worthwhile to remain continually skeptical about making politics.

Reasons for the discomfort with politics

Incidentally, it was, among other things, the dispute over the concept of politics itself that gave rise to anarchism as an independent current. In the mid-19th century, the grassroots socialist movement became politicized. This happened, first, through the appropriation of its demands by bringing forth a state social policy. Second, social democratic and communist party politicians sought to impose their own claims to leadership and rule through political reform or political revolution. Third, self-organized, autonomous movements and self-governed areas were subjected to brutal repression in the course of the enforcement of the modern nation-state. Therefore, they took on organizational forms that were legalized in the bourgeois order of rule and were thus assigned to it. Anarchists resisted this politicization of socialism by emphasizing the organizational principles of autonomy, decentralization, federalism, and voluntarism, and by working for comprehensive social change through social revolution.

In addition to the historical, there are other reasons why it is important to be skeptical about policy-making from an anarchist perspective. This concerns the already mentioned observation that tendentially self-organized autonomous social movements are again and again appropriated by or assigned to state politics. This can also be seen, for example, with Fridays for Future: Although FFF was relatively successful as a movement, there were efforts within it to found its own parties, to see itself as a vanguard organization of the Greens, and to appeal permanently to those in political power. Numerous leftists also keep formulating demands to „the“ politicians, although they do not have the power base to enforce them. We know this from demostrations, where the participants already have the feeling that they have made a contribution to emancipation when they walk through the streets with others. A rally is meaningful when similarly minded people can meet at it, exchange ideas, feel strong together, convince others or go into confrontation. But taken on its own, it does not generate any serious pressure for those in power.

A pluralistic anarchism

Within anarchism there are very different traditions, perspectives, viewpoints, experiences and practices. Because of this, there are ongoing and profound controversies and disputes among anarchists. Many positions of people who call themselves anarchists may annoy or even provoke other anarchists. Since they are about something, it should also not be pretended that all views can stand side by side on an equal footing. Because then they remain arbitrary opinions, which is not sufficient to practice fundamental social criticism and to build functioning alternatives. Nevertheless, it cannot be denied that anarchism is pluralistic. It may and should be, because if anarchism were homogenized and centralized by political leadership, it would ultimately be just one political current among others. But anarchism is qualitatively different from other socialist and also radical left approaches. And this difference is again expressed in the understanding of politics.

Individualist anarchists criticize political rule primarily because it restricts the self-determination of individuals, which they oppose. The needs and desires of individuals can only be defined by themselves. They do not want their interests to be represented by anyone. Mutualist approaches aim at self-organization, e.g. of neighborhoods, regional economic circuits, tenements, etc., and advocate cooperatives and collective enterprises. In anarch@-syndicalism, politics is clearly opposed to organization and struggle in the economic sphere. Instead of achieving political reforms through the state, the aim is to assert interests directly against the owners of capital and to use syndicates to lay the organizational foundation for the self-management of a libertarian-socialist form of society. Communitarian anarchism is about sharing life with like-minded people and – beyond politics – experimentally anticipating the coming society in alternative scenes or commune projects.

In contrast, anarchist insurrectionism assumes that anarchists should not produce any visions. Rather, any form of domination must be permanently attacked, without the need for „political“ alternative narratives. The insurrectionist tendency emerged, so to speak, as an inversion of communist anarchism. It developed, in my interpretation, as a result of the experience of the failure of anarchist claims, disillusionment with the failure of social revolution, and the brutal repression of libertarian socialist movements.

The traditions, perspectives, and practices of the various anarchist tendencies are initially interesting in their own right. We should not see their categorization too narrowly, because in anarchist scenes they mix in different manifestations. This is not bad, but can be very enriching. As different as anarchists are and think, they have one thing in common in their understanding of politics. And this leads to the striving for autonomy, i.e. the rejection of domination with the simultaneous realization of egalitarian, libertarian and solidary relationships and institutions.

The political void in anarchism

However, the radical critique of politics and its rejection in anarchism as a whole also creates two theoretical problems. First, if the political terrain is completely neglected, anarchist approaches tend to become ends in themselves. Revolt can become an aimless end in itself, which can be used to satisfy needs for rebellion, but which remains an anti-reflex and cannot fundamentally overcome domination. The autonomous center can only be subcultural and a house project becomes a nicer way of living in the gentrified neighborhood. Grassroots unionism is instrumentalized by political groups or masks its internal contradictions. Practices of mutual aid stop at social misery management or serving one’s own clientele. Subversive individuals merely revolve around their self-discovery.

Second, there is the question of how a libertarian-socialist form of society can be organized politically. How are self-organized communities formed and how are they interconnected? How are consensuses formed, how are decisions made and supported by as many as possible? If anarchists want to do justice to their own demands and prefiguratively create alternative realities, these questions do not arise conclusively and in the sense of an abstract draft of a new social order. Rather, they are essential foundations for developing emancipatory social movements and alternative structures. Anarch@-communists in particular deal with these questions. Therefore, I will now illuminate the (anti-)politics in communist anarchism. However, I would like to say in advance that the problem with politics cannot really be solved with it either.

The (anti-)politics of anarch@-communist groups

Even within communist anarchism, various statements are made about politics. For example, Johann Most makes a biting criticism of politicking, and Joseph Peukert also rejects „politics“ in a rather flat way. In contrast, Pyotr Kropotkin wonders how libertarian-socialist political relations can be conceived alongside and in opposition to the political domination relationship of the state. Communism is the alternative economic relationship, while anarchy is supposed to be the mode for the political relationship with little domination. According to this conception, the federation of autonomous decentralized communes is the political organizational model of the desirable form of society. The fact that different communities can organize themselves without becoming exclusive, homogeneous and hierarchical is based on historical experiences, which form the starting point for the vision of a libertarian-socialist form of society. Anarchists can describe such a concrete/real utopia without setting it in stone or believing in a master plan that cannot exist. They also need such a vision if they want to point out alternatives to the existing order of rule as a whole and if they want to realize their ideas not only in scenes and projects.

Because communist anarchism is about the social revolutionization of the entire form of society, it emphasizes propaganda, consciousness-raising and organizing more than other anarchist tendencies. Even though there is a pronounced skepticism about politicking in anarch@-communism, it is also the most „political“ of the anarchist tendencies in its organizations. Among other things, anarch@-communists refer to left-wing political groups and compare themselves with them, accept gradual differences in politicians, want to show social movements a certain direction, can imagine decisions through elections under certain circumstances, etc. Communist anarchism enters political territory with these basic assumptions, even if it does not involve state politics. But if statehood is understood in a broader sense as a political relationship of domination, a contradiction arises here. For how does anarch@-communist autonomous politics then really differ, for example, from the marxist approach, with which political domination is also criticized, but for which very reason reformist and/or revolutionary politics is pursued?

Accusations against acting on political terrain

Certain anarchists therefore raise the accusation that communist anarchism is basically just another leftist current. Its activists would consider themselves anti-authoritarian, but ultimately underestimate the fact that the social model they strive for would be at best a better order of rule, but would not amount to the abolition of rule at all. And at all with anarch@communism the political logic would not be left finally, thus still in categories from the mindset of the ruling order.

I consider these accusations to be false, because I am convinced that desirable alternative social relations already exist in the here and now, and that we can extend them and work for them. Instead of the ultimate fiction of a „liberated society,“ we should align ourselves with a vision for a credible and feasible concrete utopia, orient our struggles around it, and seek to become more as a radical minority. In my view, people are social animals who can only develop and determine themselves as individually special persons in society. And institutions are not structures of domination per se, but it is a social fact that people develop institutions – that is why their design matters.

Nevertheless, these accusations contain anarchistic truths based on experience. First, bad experiences have always been made with great social designs. This is especially true when humanistic claims have been used to dictate to others what would be right for them. Second, there is always a danger in larger and formal organizations that bureaucratic hierarchies will develop within them. This is also true of a libertarian-socialist form of society, in which domination will realistically not be completely abolished. Third, this brings us back to the basic problem with politics in general. If it is a terrain formed by domination, anarchists cannot gain anything for their actual goals. Therefore, they should spend their time otherwise than somehow referring to politics, dealing with politics or acting politically. Communist anarchists are aware of these problems and have also tried to find answers to them.

Becoming capable of acting in contradictions

This brings me back to my initial questions: What do anarchists understand by politics? How do they deal with it? Can there be an autonomous politics that really goes beyond the framework of the political relationship of domination and is not taken over by the state? Unfortunately, I cannot answer these questions conclusively. This is due to my undogmatic approach, with which I consider further questions and discussions more important than giving definitive answers or formulating fixed definitions. Therefore, I would like to share my questions with anyone who is interested and encourage them to think about them themselves.

I believe it is true that there is a theoretical contradiction in anarchist communism when, on the one hand, it is used to enter the political field while, on the other hand, the anarchist critique of policy-making is present in it. Apart from the fact that this contradiction is also present in other anarchist tendencies, although it is often dogmatically or romantically ignored and talked away, the question remains whether this is such a bad thing. For, that this contradiction exists is not due to an inadequacy of anarchist thought. Rather, it arises from the framework conditions of a certain order of domination, alongside and beyond which there are also desirable social conditions to which anarchists can positively relate.

In short, domination and freedom exist simultaneously. If this wouldn’t be the case, anarchists wouldn’t need to fight for anything else at all. This is true even if they were to devote themselves primarily to the destruction of structures of domination. If no desirable changes were possible at all, anarchists would either remain just any scene, riddled with romantic and dogmatic phrases. Or they would merge into political groups and make politics for a certain clientele. Or they would fall into nihilism, which is an absurd conclusion. Even if these signs of decay are present, I am convinced that people can in principle be empowered to determine their own lives and fight for a libertarian socialist society that will continue to be challenged and developed through anarchy.

Ultimately, it should be about the question of how anarchists can become capable of acting in contradictions in order to blow up the framework of the order of domination, to create self-organized communities and to establish egalitarian, libertarian and solidary relationships and institutions in them. Whether and how this can succeed would have to be discussed elsewhere on the basis of particular examples. For anarch@-communism, the thinking and actions of Emma Goldman and Errico Malatesta can inspire. In their biographies and texts I see a continuous commitment to bring different marginalized, exploited and oppressed groups into a common social-revolutionary project. In doing so, they connect different fields of struggle, attempt to mediate divergent anarchist viewpoints, and take clear positions themselves on specific issues.

(Anti-)politics and communist anarchism

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This contribution was published on theanarchistlibrary.org 05.04.2023. A friend recommended me at least to have a provisional translation of some of my writings.

This post was first published on anarchismus.de on 06.08.2022 as a guest post. Its author blogs at paradox-a.de. The article was translated with help of deepl.com. If someone wants to revise it linguistically, the original can be found here: https://paradox-a.de/texte/anti-politik-und-der-kommunistische-anarchismus-2/

When I decided five years ago to devote myself comprehensively to the political theory of anarchism, it seemed obvious to me to explore the basic concepts of this pluralistic socialist current. For in anarchism there is an independent theoretical thinking, which must necessarily be understood in connection with the anarchist ethics and its ways of life as well as anarchist ideas of organization. Therefore I asked myself the questions: What do anarchists actually understand by „politics“? How do anarchists behave towards „politics“? And: Can there be an anarchist „politics“ and what would be its criteria? The concept „(anti-)politics“ expresses that it is a field of tension caused by the existing order of domination, in which anarchists always act in contradiction.

Statehood as an organized political relationship of domination

It is striking that in all anarchist currents there is a fundamental critique of policy-making. This relates to government policy, the state bureaucracy, parliamentarism, and the party politics. But it also refers to the political logic and mode of organization in a broader sense. For what we commonly understand and associate with „politics“ is not a neutral terrain. Rather, the activities of social movements that tend to be autonomous and self-organized are often attributed to and often appropriated by the state. „Politics“ takes the form of political rule in liberal-democratic forms of society. This means that statehood emerged as a relationship of domination between those who govern and those who are governed, and this is carried into potentially all areas of society.

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Den nehmen wir: Walter Benjamin

Lesedauer: 2 Minuten

Es Landauerte mal wieder kurz bei mir und so wurde mir nicht ganz unpassend auch das schmale Bändchen von Michael Löwy über Walter Benjamin (Hamburg 2014) zugesteckt. In der Aufsatzsammelung findet sich auch der Beitrag Walter Benjamin und der Anarchismus (2014).

Ich muss zugeben, dass ich mich vor allem deswegen nicht mit dem jüdischen-säkularen, pessimistischen Intellektuellen befasste, weil dieser von bestimmten Freund*innen der Frankfurter Schule so gehypt wurde. Naja und wie soll ich sagen: Deren generelle Einstellung machte mich zum Zeitpunkt meines frühen Studiums überhaupt nicht an. Sie waren so todernst und trocken, dass man sich echt wundern musste, wie man schon als früher Erwachsener so geknickt sein konnte.

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(Anti-)Politik als Möglichkeit

Lesedauer: 6 Minuten

Ergänzende und erweiternde Überlegung „Politik. Staatsmacht und Gegenoffensive“

erscheinen steht noch aus…

Ein weiterer Beitrag, in welchem ich meine Überlegungen zum Politikverständnis vom Anarchismus ausführe, aber auch kontinuierlich weiter entwickle.

In der letzten Ausgabe der GWR veröffentlichte Oskar Lubin einen Beitrag, in welchem er einige Überlegungen zum Umgang mit Politik formulierte. Dies bietet mir einen geeigneten Anlass, um auf meine eigene Arbeit hinzuweisen. Denn erst kürzlich habe ich eine Doktorarbeit zum Politikbegriff im Anarchismus an der Universität in Jena verteidigt und erfolgreich abgeschlossen. Diskussionen drüber, was wir überhaupt unter „Politik“ verstehen und welche verschiedenen anarchistischen Perspektiven und Positionen es in Hinblick auf sie gibt, lohnen sich. In meiner Dissertation arbeite ich heraus, dass das Politikverständnis im Anarchismus als paradox gelten muss.

Dieser postanarchistische Ansatz entspricht auch dem, was Lubin stark macht, um das anarchistische Denken zu erneuern. Denn wie er schreibt, bestehen im Anarchismus zwei Verständnisweisen nebeneinander „die sich nicht selten ergänzen: Die Politik von oben wird als hierarchisch und herrschaftlich abgelehnt, ihr wird die Politik von unten als wahre und eigentliche Politik entgegengesetzt“. Anders als Lubin bestreite ich, dass „anarchistische Praxis politisch ist“. Und zwar, um eine kritische Debatte darüber anzustoßen, welche Assoziationen wir mit „Politik“ haben. Im Folgenden möchte ich einige meiner theoretischen Grundgedanken dazu darstellen.

Das Spannungsfeld zwischen Politik und Anti-Politik

In seinem Buch „The Politics of Postanarchism“ von 2010 geht Saul Newman davon aus, dass es im anarchistischen Denken eine unauflösliche Spannung gibt. Wenn wir definieren, was „Politik“ ist, entsteht automatisch, wird damit zugleich ihr „Anderes“ ausgeschlossen und verdrängt. Dies benennt Newman mit dem Arbeitsbegriff „Anti-Politik“ und sagt, Ethik und Utopie wären Aspekte von ihr. Meiner Ansicht nach ergibt dieses Schema tatsächlich Sinn. Denn Politik wird in der modernen Gesellschaft tatsächlich in Abgrenzung zu anderen gesellschaftlichen Sphären (z.B. Ökonomie, Wissenschaft und Privates) formiert. In ihr gelten eigene Regeln und Logiken. Sie hat Zugangsbarrieren und bestimmte Sprachen. Weiterhin sind Ethik und Utopie im Anarchismus zweifellos besonders ausgeprägt und im Konflikt mit dem, was wir unter Politik verstehen.

Ergänzen würde ich auf Seite der Politik die Aspekte „Strategie“ und „Programm“, die im Anarchismus nicht umsonst stark umstritten sind. Wichtig ist, dass beide Pole aufeinander bezogen werden, aber nicht aufgelöst werden können. Es soll also nicht darum gehen, eine „ethische“ oder „utopische“ Politik zu betreiben, noch darum, Ethik und Utopie politisch um- oder gar durchzusetzen. Stattdessen geht daraus eine „Politik der Autonomie“ hervor, also das, wie Anarchist*innen in Auseinandersetzung in einer widersprüchlichen Gesellschaftsform handeln.

Newmans Schema ist zwar nach geeignet, um einen Grundkonflikt im Anarchismus, nämlich den Umgang mit Politik, zu thematisieren. Allerdings gehe ich in meinen Überlegungen weit darüber hinaus. Erstens, ist entsteht „Anti-Politik“ ist irgendwie automatisch. Im Gegenteil machen Aktive in sozialen Bewegungen regelmäßig die Erfahrung, dass sie von der Politik enttäuscht werden, die faulen Kompromisse in ihr und ihre Widersprüche nicht einfach akzeptieren wollen. Zweitens ist eine Politik der Autonomie etwas Bestimmtes, weil der Anarchismus ein bestimmbares Phänomen in sozialen Bewegungen ist. Das bedeutet, wir können uns durchaus anschauen, wie Anarchist*innen handelten und handel, um die qualitativen Unterschiede zum politischen Engagement zu erkennen.

Für eine Debatte über anarchistische Politikbegriffe!

Ich würde sagen, dass Anarchist*innen ein grundlegendes Unbehagen mit der Politik haben. Und dies ist völlig berechtigt. Politik wird sehr häufig dem Staat zugeordnet und von diesem vereinnahmt – selbst, wenn sie in sozialen Bewegungen stattfindet. Wir sollten mit unseren politischen Illusionen brechen und Politik als Machtkampf mit äußerst ungleichen Machtressourcen begreifen, der noch dazu auf einem äußerst unfair strukturiertem Feld ausgefochten wird. Anarchist*innen aus verschiedenen Strömungen haben immer wieder darauf hingewiesen, dass es sich nicht lohnt, Zeit, Energie und Ressourcen für politische Kämpfe zu verschwenden. Vielmehr gibt es viele andere Gebiete, in denen sie wirkmächtig werden und die Gesellschaft emanzipatorisch verändern können.

Nun können wir uns sicherlich vehement und ausgiebig darüber streiten, was Politik „eigentlich“ wäre. Vielleicht wäre dies ganz interessant, führt uns aber nicht unbedingt weiter. Denn sowohl in den Politikwissenschaften, als auch von verschiedenen politischen Strömungen gibt es sehr unterschiedliche Definitionen dessen, was unter Politik zu verstehen ist. Entscheidend ist nicht, dass wir einen vermeintlich „richtigen“ oder „wahren“ anarchistischen Politikbegriff finden, sondern, das wir offenlegen, wovon wir ausgehen und uns somit bewusst machen, wie wir die Welt verstehen – um sie emanzipatorisch verändern zu können.

Um die Debatte anzustoßen, verwende ich deswegen einen bestimmten Politikbegriff, den ich als gouvernemental, konfliktorientiert, negativ-normativ und (ultra-)realistisch bezeichne. Damit wird „Politik“ auf das Regieren bezogen, besteht in Auseinandersetzungen um spezifischer Interessen durchzusetzen, stellt keine „gute Ordnung“ her, sondern vor allem eine Regulierung von Konflikten dar und gründet auf Führungs- und Herrschaftsansprüche. Ich halte es für strategisch wichtig, das Politikmachen und unser Nachdenken darüber insgesamt in Frage zu stellen. Anarchist*innen lehnen Staat, parlamentarische Politik und politische Parteien ab – das ist bekannt. Aber Politik wirkt auch darüber hinaus so, dass wir mit ihr unser Denken und Handeln einhegen und am Staat orientieren.

Das sehen wir immer wieder in sozialen Bewegungen. Als Erfolge werden meistens doch nur Ergebnisse angesehen, die sich in der herkömmlichen Politik, ja im Regierungshandeln widerspiegeln. Also in Gesetzespaketen, die ganz im Rahmen der bestehenden Herrschaftsordnung verhandelt und umgesetzt werden. Die Selbstorganisationsprozesse verschiedenster Gruppen in einer Szene, die Begegnungen und Erfahrungen darin, die Beeinflussung von Meinungen abseits der bürgerlichen Medien und so vieles mehr, gelten in der politischen Logik nichts. Deswegen tappen linke Gruppen immer wieder in die „Falle der Politik“, wie sie Emma Goldman genannt hat: Sie machen sich Illusionen darüber, was politisch tatsächlich möglich ist, damit auch dahingehend, wie der Staat funktioniert, wo die Macht tatsächlich liegt (viel seltener in Parlamenten, als z.B. in Ministerialbürokratien) und dementsprechend auch in Bezug darauf, welchen Einfluss sie dort ausüben können.

Gesellschaftliche Sphären und Bereiche als anti-politische Bezugspunkte

Nach der Untersuchung einer Vielzahl von klassischen und zeitgenössischen anarchistischen Quellentexten komme ich zum Ergebnis, dass verschiedene gesellschaftliche Sphären und Bereiche als Bezugspunkte für anarchistische Anti-Politik angesehen werden können. Um von der verstaatlichten Politik wegzukommen und nach Autonomie zu streben, orientieren sich Anarchist*innen an Individuen, dem Sozialen, der Gesellschaft, Ökonomie, Gemeinschaft, an Kultur, Ethik und Utopie. Es soll um konkrete Einzelne, um unsere Nachbarschaften, um die Föderation dezentraler autonomer Kommunen, autonome Gewerkschaftsarbeit, Kommunen, Gegenkultur, das gute Leben in Würde für alle und vorstellbare, verdrängte Alternativen gehen.

In verschiedenen anarchistischen Tendenzen werden unterschiedliche Bezugspunkte für das eigene Denken und Handeln in den Vordergrund gerückt. So differenzieren sich unter anderem die Strömungen des anarchistischen Individualismus, Mutualismus, Kommunismus, Syndikalismus und Kommunitarismus und Insurrektionalismus aus. Es werden aus Streits darüber ausgetragen, welche dieser Sphären am ehesten geeignet ist, um der verstaatlichten Politik etwas entgegen zu setzen. Ob subkulturelle Konzerte, Gewerkschaftsarbeit, Nachbarschaftsinitiativen oder Solidarische Landwirtschaftskooperativen als sinnvolle Ansatzpunkte angesehen werden, um grundlegend etwas zu verändern, macht einen Unterschied. Deswegen gilt es sich auch darüber zu streiten und auszutauschen. Gleichzeitig schließen die verschiedenen Ansätze sich keineswegs aus und können auch in eine Synthese gebracht werden, sodass ihre jeweiligen Stärken und die verschiedenen Gruppen, die sie erreichen, sich produktiv ergänzen.

Konsequenzen für die politische Theorie des Anarchismus

Weil Anarchist*innen sich nicht vom politischen Spiel beeindrucken und einfangen lassen, haben sie das Potenzial in anderen Bereichen Veränderungen zu bewirken und Alternativen aufzubauen. Oftmals wird behauptet, dass wäre wenig „effektiv“. Aber vor allem ist es weniger spektakulär und sichtbarer als politisches Handeln. Das Streben nach Autonomie führt allerdings auch zu einer besonderen Herausforderung für Anarchist*innen. Denn mit der alleinigen Konzentration beispielsweise auf Kommunen, Arbeitskämpfe, Bestärkung der Einzelnen oder anarch@-kommunistische Gruppen, besteht die Gefahr einer Verselbständigung der Praktiken in diesen Gebieten.

Mit anderen Worten: Die Hausprojektgruppe kreist doch nur um sich selbst; das Syndikat ist doch nur eine spezielle Interessenvertretung; die Selbstbeschäftigung von Unterdrückten mit ihren Identitäten nimmt nie ein Ende; Gruppen betreiben weltfremde Propaganda, die nicht bei den Lebensrealitäten von Leuten ansetzt usw. Wenn der Anspruch formuliert wird, die Gesellschaft in ihrem Herrschaftscharakter insgesamt zu transformieren, bedeutet dies, dass das politische Handeln, das politische Feld nicht völlig ignoriert und vernachlässigt werden kann. Dies ist der Grund, warum Politik – trotz der grundlegenden Kritik an ihr – auch im Anarchismus wieder durch die Hintertür hereinkommt.

Doch weiterhin gilt, dass wir uns keine Illusionen über die Möglichkeiten des politischen Handels machen, sondern ihr gegenüber skeptisch bleiben sollten. Ein Beitrag dazu ist eine umfassendere Debatte über unser Politikverständnis, ja, über Grundbegriffe des politischen Denkens insgesamt. Ihnen einen eigenen Inhalt zu geben, sie mit einer anarchistischen Perspektive zu definieren, darin besteht meine theoretische Arbeit. Sie ist keine intellektuelle Selbstbeschäftigung, sondern ein wichtiger Bestandteil, soziale Bewegungen in ihrer Autonomie zu begreifen und ihnen zu neuem Selbst-Bewusstsein zu verhelfen.

(Anti-)Politik als Möglichkeit

Lesedauer: 6 Minuten

Ergänzende und erweiternde Überlegung „Politik. Staatsmacht und Gegenoffensive“

erscheinen steht noch aus…

Ein weiterer Beitrag, in welchem ich meine Überlegungen zum Politikverständnis vom Anarchismus ausführe, aber auch kontinuierlich weiter entwickle.

In der letzten Ausgabe der GWR veröffentlichte Oskar Lubin einen Beitrag, in welchem er einige Überlegungen zum Umgang mit Politik formulierte. Dies bietet mir einen geeigneten Anlass, um auf meine eigene Arbeit hinzuweisen. Denn erst kürzlich habe ich eine Doktorarbeit zum Politikbegriff im Anarchismus an der Universität in Jena verteidigt und erfolgreich abgeschlossen. Diskussionen drüber, was wir überhaupt unter „Politik“ verstehen und welche verschiedenen anarchistischen Perspektiven und Positionen es in Hinblick auf sie gibt, lohnen sich. In meiner Dissertation arbeite ich heraus, dass das Politikverständnis im Anarchismus als paradox gelten muss.

Dieser postanarchistische Ansatz entspricht auch dem, was Lubin stark macht, um das anarchistische Denken zu erneuern. Denn wie er schreibt, bestehen im Anarchismus zwei Verständnisweisen nebeneinander „die sich nicht selten ergänzen: Die Politik von oben wird als hierarchisch und herrschaftlich abgelehnt, ihr wird die Politik von unten als wahre und eigentliche Politik entgegengesetzt“. Anders als Lubin bestreite ich, dass „anarchistische Praxis politisch ist“. Und zwar, um eine kritische Debatte darüber anzustoßen, welche Assoziationen wir mit „Politik“ haben. Im Folgenden möchte ich einige meiner theoretischen Grundgedanken dazu darstellen.

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