Abgabe – Angabe – Absage?

Lesedauer: 8 Minuten

Kropotkin begleitet mich ein Stück des Weges

Nun habe ich die Bücher also in vierfacher Ausfertigung eingereicht. Mensch ey, was für eine Arbeit, was für ein Stress! Was für eine Selbstdisziplinierung in prekären Lebensverhältnissen in den letzten Jahren! Da habe ich viel zurück gestellt. Ich weiß warum und habe mich auch dafür entschieden. Ob ich das nochmal so tun würde? Keine Ahnung. Empfehlen würde ich es struggelnden, zappelnden Personen, die nicht in dieses Milieu hineingeboren sind jedenfalls nicht unbedingt. Damit kommt aber auch unmittelbar die Bewusstwerdung über meine Privilegiertheit hinein. Natürlich macht es einen Unterschied, weiß zu sein, Bildungskram frühzeitig vermittelt bekommen zu haben. Was die Männlichkeit angeht, bin ich mir in meinem Fall nicht so sicher, da ich in der Hackordnung immer weit unten stand. Aber diesem Thema wollte ich mich jetzt auch mal wieder widmen.

Gut, die Dissertation liegt nun in einem Dekanat herum bis die bürokratischen Verfahren eingeleitet und mein Werk dann begutachtet und beurteilt werden – wie es sich gehört. Ließe sich sicherlich auch anders gestalten. Doch auch auf diese Form und diesen Ablauf habe ich mich eingelassen, im Wissen um ihre Widersprüchlichkeit und die herrschaftlichen Aspekte einer akademischen Betriebs und seiner Gilde. Ach, da gäbe es so einiges zu kritisieren! Der Neoliberalisierung der Hochschulen widerspricht ja nicht der Muff der tausend Jahre, welcher auch manch reaktionärem Professor ein Refugium bietet. Aber das wäre ein eigenes Thema für sich. Und vielleicht habe ich auch nicht so viel länger mit dem Laden zu tun. Aber wer weiß…

Auf dem Weg meiner Abgabe direkt begleitete mich niemand meiner Freund*innen und Bekannten. Einige von ihnen habe ich später noch getroffen. Zeit zum Feiern ist auch erst, wenn das Ganze geprüft und verteidigt und vereidigt wurde. Das dauert noch. Weil ich den Weg zur Einreichung alleine angetreten bin, wird mir auch bewusst, was ist, was war: Viele meine früheren Gefährt*innen, Freund*innen, Genoss*innen gehen einer strukturierten Lohnarbeit und/oder haben Kinder bekommen. Manche von ihnen haben viel mit eigenen Problemen zu tun, die nach den Dreißigern für jene, die mit bestehenden Gesellschaftsstrukturen und Anforderungen hadern ja nicht weniger werden. Klar, einige sind wohl auch durchgestartet und in einer bürgerlichen Lebenswelt angekommen, haben ihre rebellische Phase hinter sich gelassen. Umso wichtiger erscheint daher, dass doch noch manche auf die eine oder andere Weise bei der Sache geblieben sind.

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Ausbeutung bei Domino’s Pizza

Lesedauer: < 1 Minute

Das Ergebnis eines selbstorganisierten Arbeitskampfes lässt sich sehen….

MDR Investigativ hat eine ansprechende und auf den Punkt gebracht Doku herausgebracht…

“Sell more Pizza – have more fun”. Das ist das Motto von Domino’s, dem weltweit größten Pizzalieferdienst. Erfolgreiche Franchisepartner bekommen eine Rolex geschenkt, die Fahrer und Pizzabäcker berichten dagegen von illegalen Tonaufnahmen, fragwürdigen Arbeitsverträgen und Trinkgeldabgaben. Unsere Reporter Leon Grüninger und Lukas Meya bewerben sich selbst als Fahrer und Franchisepartner und zeigen, wie es hinter den Kulissen von Domino’s Pizza aussieht. Bei den Recherchen lernen sie Aaron kennen. Der Pizzafahrer arbeitet seit zwei Jahren für Domino’s in Leipzig. Im Mai 2021 wendet er sich mit einer Unterschriftenliste an die Geschäftsführung des Leipziger Franchisepartners. Er und seine Kollegen wollen ihr Recht auf kostenlose Corona-Schnelltests am Arbeitsplatz durchsetzen. Zwei Tage später erhält er per Post seine Kündigung. Aaron lässt das nicht auf sich sitzen. exactly will wissen: Wie wichtig sind dem größten Pizzalieferdienst der Welt die eigenen Angestellten? Wer trägt welche Verantwortung im Franchise-Modell? Dazu lassen die Reporter Arbeitsverträge analysieren, liefern selbst Pizzen aus und begleiten Aaron bei seinen Protesten gegen den eigenen Arbeitgeber.

Autoren: Leon Grüninger, Lukas Meya Kamera: Daniel Berg, Alexander Hodam, Lars Langer, Leon Grüninger, Lukas Meya, Schnitt: Tobias Hohensee, Tim Fischer, Philipp Remberg, Thomas Hansen Grafik: Mathias Eimann Produktion: Dana Hilpert, Tina Hohensee Redaktionsassistenz: Kristin Jaeger Produktionsleitung: Frank Seidel Redaktion: Anja Riediger

Arbeit drucken, Druck abschütteln

Lesedauer: 4 Minuten

Bakunin stattet mir einen Besuch ab, um mich persönlich zu agitieren

So, jetzt ist’s fertig. Nach viereinhalb Jahren reiche ich meine Doktorarbeit zur politischen Theorie des Anarchismus ein. Zu überqualifiziert und eigenbrötlerisch für Maloche-Jobs, zu unterqualifiziert und politisch-weltanschaulich positioniert für die Academy – Wird spannend, wie ich dann den Rest meines Lebens an Ressourcen komme. Doch das beschäftigt mich eigentlich nicht. Da ich ohnehin immer arm war, sind meine materiellen Ansprüche gering. Wichtige andere Fragen werde ich stattdessen in näherer Zukunft wälzen müssen: Wo kommt überhaupt etwas Kohle her? Wie kann ich mich langfristig gut organisieren, um meine Fähigkeiten und Perspektiven einzubringen? Was fühlt sich überhaupt sinnvoll an für mich? Was hat das Leben noch zu bieten, außer meine Umtriebigkeit, Heimatlosigkeit, meinen Veränderungswunsch und Tatendrang in intellektuelle Arbeit zu kanalisieren? Und was ist mit der Liebe?

In den letzten zwei Wochen, der wirklich letzten Phase der Arbeit an meiner Dissertation, habe ich merkwürdig und unruhig geschlafen. Die schrecklichen Kriegsereignisse verfolgte ich weiter, wusste aber dennoch, was nun dran und endlich fertig zu stellen ist. So spielte sich wieder eine alte Szene vor meinem inneren Auge ab. Etwas naiv, zurückhaltend und gelegentlich schreckhaft wie ich bin, saß ich da und sann darüber, wie ich mich sinnvoll engagieren könnte. (Ich weiß nicht warum, aber solche Situationen spielen dann entweder immer verlassenen Landhäusern, auch wenn ich nie in einem gelebt habe oder mich in einem aufhielt. Oder in verruchten Kaschemmen in dämmrigen, verwinkelten Gassen von Altstädten, wie in diesem Fall…)

Während ich unzufrieden mit der Welt und mir darin vor mich hin sinniere, zerrt es plötzlich an der Holztür und eine riesenhafte, verwegene Gestalt betritt den Raum. Sie setzt sich neben mich und fährt sich durch den Bart. Eine leichte Alkoholfahne weht zu mir rüber, während der grobe Kunde in seiner Geldkatze kramt und dann Rotwein beim Wirt bestellt. Dann blickt er auf, mich an und ich erkenne ihn: Es ist Bakunin. Der gute Mann hatte auch schon mal bessere Tage gesehen. Schweigend sitzen wir da und trinken den Wein. Die leicht beklemmende Ruhe überrascht mich, kenne ich doch sein aufbrausendes Temperament, seine rastlose Aktivität. Und natürlich war es nicht so, dass Bakunin mich grundlos aufgesucht hat. Gerade, weil ich recht klein bin, erscheint mir, als wäre es ein Bär, der bedächtig seinen Arm um meine Schulter legt und mich vertrauensvoll zu sich heran zieht.

„Um die Gegner des Proletariats zu besiegen, müssen wir zerstören, noch mehr zerstören und immer zerstören.“
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Krieg in der Ukraine: Zehn Lehren aus Syrien

Lesedauer: 15 Minuten

Im Exil Lebende Syrer*innen über die Frage, wie ihre Erfahrungen den Widerstand gegen die Invasion beeinflussen können

Ein Kollektiv von Leuten aus Syrien entwickelt in diesem Text eine sehr wichtige Perspektive, die über die Seite von CrimethInc verbreitet wurde. Ich teile die darin entwickelten Positionen und habe wir auch die Wochen vorher aktuell nicht das Bedürfnis hierbei eigene Meinungen hinzuzufügen...

von: https://de.crimethinc.com/2022/03/07/krieg-in-der-ukraine-zehn-lehren-aus-syrien-im-exil-lebende-syrerinnen-uber-die-frage-wie-ihre-erfahrungen-den-widerstand-gegen-die-invasion-beeinflussen-konnen

Im März 2011 brachen in Syrien Proteste gegen den Diktator Bashar al-Assad aus. Assad ging mit der ganzen Macht des Militärs gegen die daraufhin entstandene revolutionäre Bewegung vor – doch eine Zeit lang schien es möglich, dass diese seine Regierung stürzen könnte. Dann griff Wladimir Putin ein und ermöglichte es Assad, zu einem enormen Preis an Menschenleben an der Macht zu bleiben, und sicherte der russischen Macht in der Region ein Standbein. Im folgenden Text reflektieren ein Kollektiv im Exil lebender Syrer*innen und ihre Gefährt*innen darüber, wie ihre Erfahrungen mit der syrischen Revolution in die Arbeit zur Unterstützung des Widerstands gegen die Invasion in der Ukraine und die Antikriegsbewegung in Russland mit einbezogen werden können.

In den letzten Monaten wurde so viel Aufmerksamkeit auf die Ukraine und Russland gerichtet, dass mensch leicht den globalen Kontext dieser Ereignisse aus den Augen verliert. Der folgende Text bietet eine wertvolle Reflexion über Imperialismus, internationale Solidarität und das Verständnis der Nuancen komplexer und widersprüchlicher Kämpfe.

Porträts von Putin und Assad schauen zu, während bewaffnete Soldaten in den Trümmern Syriens patrouillieren.

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Gedankenfetzen auf den letzten Metern

Lesedauer: 4 Minuten

Jetzt nicht durchdrehen. Auf den letzten Metern nicht irre werden. Die Nerven zusammen nehmen, bei allem was nervt. Die Störung produktiv, aber ohne Leistungszwang, achtsam, aber ohne neoliberales Wundenstopfen, ehrlich, aber mit dem erreichten Selbstbewusstsein, in das Projekt, das Ding kanalisieren. Da habe ich was erschaffen. Auf den letzten Metern laufen da unterschwellig schwer greifbare Gefühle mit, wenn es daran geht, eine viereinhalb jährige Lebensphase abzuschließen. Und gleichzeitig ist das völlig unspektakulär. Du machst fertig, was du fertig machen kannst, dann druckst du es, dann reichst du es ein – und damit ist es gut.

Normalerweise liest ja kaum wer diese Arbeit selbst und darum geht es auch nicht. Was du siehst und auf Papier bringst ist zwar Ausdruck deines Denkens, Könnens, Wissens. Worum es aber eigentlich geht ist etwas anderes: Das neuronale Netzwerk, was du in den letzten Jahren und vorher geformt hast – und die Person, die du dadurch geworden bist. Und ja, es ist ein Reiz am intellektuellen wie auch am handwerklichen Arbeiten, in die erschaffenen Produkte ein gutes Stück seiner Selbst zu legen – und sich damit selbst zu schaffen. So gut es unter den Anforderungen und der Gesellschaft, in der wir leben geht, selbstbestimmt.

Um meine Selbstbestimmung, Leidenschaft und Konzentration für dieses Buch aufzubringen, habe ich sie in anderen Bereichen meines Lebens sehr stark zurückgestellt. Für diese Tätigkeit ist das auch zu einem gewissen Grad erforderlich, bzw. wann tue ich es denn nicht, hat ja auch was mit mir selbst zu tun. Aber da ich gleichzeitig viele andere Dinge getan habe, von anderen Konflikten belastet war, Verlassenheit und Erniedrigung aushalten musste, zwischendrin neu anzufangen begonnen habe, war es einfach verdammt anstrengend. Und das ist ja das vor allem das Schöne, worauf ich mich freue: Dass ich auch nervös bin vor Aufregung, was geschehen mag. Denn die Zukunft ist offen.

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Beiträge „School Revolt“ = Anarchistische Pädagogik

Lesedauer: < 1 Minute

APN’s School Revolt 2022 is a multi-week festival of talks, workshops, and special events that deal with Anarchism, Education, and Intersectionality. It will take place online between February 14 and March 18 through a variety of media, presenting a range of ideas, knowledge, and practices from people across the globe. You can find the program listing here. Additional details will be added as presenters send us additional information, as well as any changes necessary.

Die Sonne, der Krieg, die Bibliothek

Lesedauer: 8 Minuten

– Sorel betritt den Raum durch die Hintertür

Es kommt mir vor als würde ich auf den letzten Metern aus einem langen Winterschlaf erwachen. Der Frühling kommt, die Welt steht in Flammen und ich pfeife auf meinem Fahrrad auf dem Weg zur Bibliothek. Das müssen die Hormone sein. Täglich vernichtet die von Menschen gemachte mehr oder weniger anonyme, doch sehr konkret spürbare Herrschaftsordnung das Leben auf diesem einzigartigen Planeten. Ich denke an einen Menschen, den ich wohl etwas begehre – aber ich weiß noch nicht wie, warum, wozu – und freue mich, solches Begehren überhaupt noch oder wieder empfinden zu können.

Derweil zerfetzen Projektile Leiber in der Ukraine und explodieren Raketen in Wohnhäusern, Krankenhäusern und Einkaufszentren. Nicht so weit weg. Nicht so weit weg von mir. Doch das waren Syrien und Afghanistan auch nie. Eben mal wird die Militarisierung der deutschen Gesellschaft postdemokratisch beschlossen und durchgewunken. Die Stimmung ist gut um den Nationalstaat zu erneuern. Die Leute besoffen vor humanistischem Geseiere und Hilfsbereitschaft in Fahnenmeeren – als Kompensation der Leidenschaften, welche die Politik der Angst in ihnen einpflanzt und auslöst. Im Herzen der Bestie Kratos steht der Militärapparat und pure Gewalt zerschmettert das nackte Leben. Darin gleichen, ergänzen und stützen sich Staat, Kapitalismus und Patriarchat: Dass sie Leben verdinglichen, bewerten, hierarchisch anordnen und im Zweifelsfall vernichten können.

Was ist denn los? Wie kann die Sonne nur wieder so wunderbar scheinen? Ich bin ein Kind dieser Welt und die Hälfte meines kurzen Lebens, dieses chaotisch-träumerisch-sensiblen Windhauchs, ist bereits vorbei – wenn ich Glück habe. Und das habe ich. Denn ich lebe im privilegierten Teil dieser Welt und habe lange Zeit eigene Strategien gefunden, mich so gut es ging den Zumutungen dieser grausamen Realität aus Lohnarbeit, Unterwerfung und Schlachterei zu entziehen. Ich kenne Menschen, die darauf verweisen, dass es Entwicklungen zum Positiven hin gibt. Und das schätze ich, weil es in unserem Potenzial liegt die gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend zu verändern. Um die Enteignung und Vergesellschaftung des Reichtums werden wir dabei aber nicht herum kommen. Wie zu allen Herrschaftszeiten erzürnt dies das progressive Bürgertum in seinen moralisch aufgeladenen Debatten um die Weltverbesserung.

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Unbedingte Solidarität

Lesedauer: 2 Minuten

Ein brandaktueller Sammelband zu einem links-emanzipatorischen Grundbegriff

zuerst veröffentlicht in: Libertäre Buchseiten, in: GWR 467

(bei diesem Beitrag stimmt leider etwas nicht. Finde den Originaltext aber aktuell nicht…)

Solidarität – wer blieb von ihrer Anrufung durch das von Regierungskreisen hervorgerufene Propagandafeuer verschont? Dabei ist es durchaus befremdlich und sollte Anlass zum kritischen Nachfragen bieten, wenn dieser Begriff in Krisensituationen von politischen Eliten genutzt und damit auch den emanzipatorischen sozialen Bewegungen enteignet wird. Doch auch die Verwendung des Solidaritätsbegriffs innerhalb der gesellschaftlichen Linken selbst ist nicht unproblematisch. Durch seinen teils inflationären Gebrauch wird der Begriff schnell zur sinnentleerten Phrase und symbolisiert damit vor allem die Suche nach Orientierung, eigenen Standpunkten und Beständigkeit in unsicheren Zeiten. Dies ist legitim und verständlich, sollte allerdings reflektiert geschehen. Denn insbesondere wenn bestimmte Konzepte auf der Straße, in Twitterposts oder Gesprächen vehement propagiert und eingefordert werden, lässt sich die Frage aufwerfen, ob emanzipatorische Linke das selbst überhaupt gut können: solidarisch sein. Denn was verstehen wir überhaupt unter „Solidarität“?

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Unbedingte Solidarität

Lesedauer: 2 Minuten

Ein brandaktueller Sammelband zu einem links-emanzipatorischen Grundbegriff

zuerst veröffentlicht in: Libertäre Buchseiten, in: GWR 467

(bei diesem Beitrag stimmt leider etwas nicht. Finde den Originaltext aber aktuell nicht…)

Solidarität – wer blieb von ihrer Anrufung durch das von Regierungskreisen hervorgerufene Propagandafeuer verschont? Dabei ist es durchaus befremdlich und sollte Anlass zum kritischen Nachfragen bieten, wenn dieser Begriff in Krisensituationen von politischen Eliten genutzt und damit auch den emanzipatorischen sozialen Bewegungen enteignet wird. Doch auch die Verwendung des Solidaritätsbegriffs innerhalb der gesellschaftlichen Linken selbst ist nicht unproblematisch. Durch seinen teils inflationären Gebrauch wird der Begriff schnell zur sinnentleerten Phrase und symbolisiert damit vor allem die Suche nach Orientierung, eigenen Standpunkten und Beständigkeit in unsicheren Zeiten. Dies ist legitim und verständlich, sollte allerdings reflektiert geschehen. Denn insbesondere wenn bestimmte Konzepte auf der Straße, in Twitterposts oder Gesprächen vehement propagiert und eingefordert werden, lässt sich die Frage aufwerfen, ob emanzipatorische Linke das selbst überhaupt gut können: solidarisch sein. Denn was verstehen wir überhaupt unter „Solidarität“?

Schließlich fassen sie das „Unbedingte“ des von ihnen dargestellten Verständnisses von Solidarität so auf, dass es in der heutigen Zeit unbedingt und dringend notwendig erscheint, sie zu praktizieren. Worauf sich dies bezieht, dafür bleibt ein weiter Spielraum. Er kann sich auf ausgeschlossene Migrant*innen beziehen, auf kommende Generationen, Menschen in postkolonial unterdrückten Ländern, aufgrund ihrer Geschlechtsidentität oder ihres sexuellen Begehrens marginalisierte Gruppen oder auf prekarisierte Lohnabhängige. Solidarität wird möglich, wo diese Grenzen – die zum Teil auch durch die Herrschaftsordnung gezogen werden – überwunden werden können, ohne deswegen eine Gleichmacherei zu bewirken.

Über Solidarität nachzudenken, geriet in der sozialistischen Bewegung im Unterschied zu den Begriffen der Freiheit und Gleichheit meistens zu kurz. Entweder nahm man an, sie bestünde mehr oder weniger vorab in den kämpfenden Gemeinschaften oder aber, sie könnte erst umfassend verwirklicht werden, wenn die sozialistische Gesellschaftsform erkämpft worden sei. Dass sie aber Voraussetzung für soziale Kämpfe und deren emanzipatorische Ausrichtung ist, dass sie zu Erfahrungen inspiriert, motiviert und verbindet, wird erst in jüngerer Zeit wieder stärker thematisiert. Dies tun im Sammelband unter anderem Rahel Jaeggi als Vertreterin einer zeitgenössischen Kritischen Theorie, Bini Adamczak mit ihrer besonderen beziehungstheoretischen und geschichtsphilosophischen Perspektive, Silke van Dyk mit ihrem Fokus auf die soziale Frage, Friederike Habermann, die in der feministischen Ökonomie bekannt ist, sowie Torsten Bewernitz, welcher sich einer Aktualisierung der gewerkschaftlichen Solidarität widmet. Insgesamt liefern sie damit wichtiges Handwerkszeug für die soziale Revolution.

Jonathan Eibisch