
Lektüre-Workshop: Anarchistischer Syndikalismus – Teil 3 / Schmidt/van der Walt, Schwarze Flamme

Anarchistische Theorie & Perspektiven
Und wieder mal ein Superwahljahr. Komisch, ich kann es überhaupt nicht mehr zuordnen, wann das letzte war. Mir kommt es aber so vor, als wenn eigentlich dauernd super Wahljahre sind. Also zumindest alle vier Jahre, manchmal aber auch alle zwei. Wie auch immer, ärgerlich ertappte ich mich dabei, doch wieder Wahlumfragen anzuschauen und die Statements der Kanzlerkandidat*innen anzuhören. Ich möchte mich modern und informiert fühlen. Dass ich es chronisch glaube nicht zu sein, hängt einerseits mit meiner ostdeutschen Sozialisation, andererseits mit meiner kindlichen und jugendlichen Anti-Haltung gegenüber allen Trends zusammen. Ich arbeite daran, mich dort heraus zu schälen, denn sonst wird eben keine sozial-revolutionäre Perspektive daraus. Doch das bleibt… wie sagt man? … ein Prozess.
Wie auch immer: Kanzlerkandidat*innen-Aufstellung und das ganze Drumherum. Kriegt man mal wieder das Gefühl verkauft, dass es um irgendwas ginge. Eigentlich geht es ja auch um was, aber nicht um das, was mir da präsentiert wird medial. Die Frage der Gesellschaftsform, in welcher wir leben, stellt sich dabei verständlicherweise nicht. Die Pandemie war ein super stressiger Stillstand – da ist es nett, mal einer Pseudokontroverse zu folgen. Und da ich leider bisher Fußball oder anderen Sportarten, wo Mannschaften konkurrieren, nie etwas abgewinnen konnte, führt das dann eben wieder zum Wahlspektakel zurück. Angriff – Teamplay – Verteidigung – Rückpass – Schuss – Tor – und wieder rein ins Feld. Klar, es ist nun auch Frühling und da ziehen die Heere traditionell in die Schlacht, nachdem sie im Winter gerastet, sich gegenseitig geschont und ihre Waffen repariert haben.
Dass immer mal was in Bewegung zu sein scheint, politisch, finde ich auch gut. Gesellschaft hat nun mal keine ontologische Grundlage, weswegen die ganzen Rechten verschiedener Coleur ja auch so krampfhaft bemüht sind, sich irgendwelchen Quark wie „Heimat“, „Tradition“, „Nation“ und solchen Unsinn zurecht zu konstruieren. Ich kann verstehen, dass sie sich gerne mit irgendwas verbunden fühlen möchte, na sicher. Da frage ich mich, ob das präfigurative so-tun-als-ob bei ihnen nicht manchmal weit fortgeschrittener ist, als bei den Anarchist*innen… Aber Verbundenheiten und Zugehörigkeiten zu generieren ginge doch auch anderes, direkter, realer. Zum Beispiel in gelingenden menschlichen Beziehungen oder solidarisch-freiheitlichen gesellschaftlichen Institutionen.
„Supersuper Wahljahr“ weiterlesenPassend zum Auftakt unseres neuen Lese- und Diskussionskreises lohnt sich (wieder mal?) ein Blick in den ersten Textauszug, den wir uns dafür vorgenommen haben. Es handelt sich um „Der Mensch in der Revolte“ (1951) des französischen Schriftstellers, existenzialistischen Philosophen und engagierten Intellektuellen Albert Camus.
Recht bekannt ist das Buch, aufgrund seines provokativen Anfangs, den wir zu diskutieren begonnen haben. „Das Absurde und der Mord“ und „Der Mensch in der Revolte“ lauten die beiden ersten Abschnitte und versprechen schon einige Spannung zwischen Tod und Leben, zwischen Erniedrigung und Protest der Menschenwürde, zwischen Resignation und Aufbegehren, zwischen Vereinzelung und Wiedergewinnung der Kollektivität.
„Ein Teaser zu Camus‘ „Mensch in der Revolte““ weiterlesenVielleicht als Antithese zum Vorangehen einfach mal liegen bleiben. Oder auch was machen, aber was anderes. Wie es beliebt eben. Schaden würde es keinesfalls singt Georg Kreisler heraus.
Viele der hier versammelten Beiträge gibt es für die zahlreichen nerdigen Interessierten, noch mal in gedruckter Form als Broschüren. Deutlich praktischer für die Lektüre auf der Bahnfahrt, den Strand oder Garten. Vielleicht diffundieren die Inhalte ja doch an die eine oder andere Stelle, wo sie Inspiration geben. Vielleicht auch nicht, wer weiß…
Darunter:
Einige literarische Verarbeitungen in und von pandemischen Zeiten
Nachsitzen – Textarbeit! Beiträge zur Erarbeitung und Belebung anarchistischen Denkens
Den steinigen Weg gehen – sozial-revolutionäre Auseinandersetzung
Das Langweiligste der Welt? Eigenwillige Buchbesprechungen #1
Das Langweiligste der Welt? Eigenwillige Buchbesprechungen #2
Eine politische Philosophie des Kairós
Alexander Neupert-Doppler
Kairós bezeichnet den günstigen Augenblick für eine Entscheidung. Über eine Theorieschrift, die das mutige Engagement im Handgemenge vorbereiten soll.
Rezension auf: https://kritisch-lesen.de
Rezen
Nach seiner Dissertation zum Staatsfetischismus (2013), einem Buch zu Utopien (2015) und einem Sammelband zu konkreten Utopien (2018), möchte Alexander Neupert-Doppler mit seiner politisch-theoretischen Beschäftigung anhand einer Theoretisierung der „Gelegenheit“ eine Brücke zwischen Kritik und Utopie konzeptionalisieren, die er mit dem Begriff des Kairós bezeichnet. So wird die Erfahrung und das Bestreben beschrieben, in einem besonderen Moment und in einer bestimmten politischen Konstellation die Initiative zu ergreifen, um eine Situation auf eine gewünschte Weise zu beeinflussen. Dazu schürft Neupert-Doppler tief in den Werken von politischen Denkern und zeichnet drei Linien nach: Erstens jene von Immanuel Wallerstein, Paul Tillich und Aristoteles mit einem Verständnis von Kairós als historisches Vakuum in der Krise, welches situative Entscheidungen verlangt. Zweitens die von Giorgio Agamben, Walter Benjamin und Paulus, im Sinne einer Erfahrbarkeit des Kairós in der „Jetztzeit“, die zu einem (invertierten) präfigurativen Handeln im Modus des „Als-ob-nicht“ führt. Und drittens die Linie von Michael Hardt/Antonio Negri, Spinoza und Machiavelli, in welcher die Gelegenheit zur Gründung des Neuen aus den utopischen Tendenzen in der Gegenwart herausgeschält wird. Neupert-Doppler rahmt diese umfangreichen Darstellungen mit der Diskussion um den Kairoś in der deutschen Revolution 1918, wobei seine Sympathie bei revoltierenden rätekommunistischen Gruppen liegt, sowie dem berüchtigten Mai 1968 in Paris, den er vor allem aus Perspektive der Situationisten begreift.
„Die Gelegenheit ergreifen. Eine politische Philosophie des Kairós“ weiterlesenAlexander Neupert-Doppler Buchtitel Die Gelegenheit ergreifen Buchuntertitel Eine politische Philosophie des Kairós
Kairós bezeichnet den günstigen Augenblick für eine Entscheidung. Über eine Theorieschrift, die das mutige Engagement im Handgemenge vorbereiten soll.
Nach seiner Dissertation zum Staatsfetischismus (2013), einem Buch zu Utopien (2015) und einem Sammelband zu konkreten Utopien (2018), möchte Alexander Neupert-Doppler mit seiner politisch-theoretischen Beschäftigung anhand einer Theoretisierung der „Gelegenheit“ eine Brücke zwischen Kritik und Utopie konzeptionalisieren, die er mit dem Begriff des Kairós bezeichnet. So wird die Erfahrung und das Bestreben beschrieben, in einem besonderen Moment und in einer bestimmten politischen Konstellation die Initiative zu ergreifen, um eine Situation auf eine gewünschte Weise zu beeinflussen. Dazu schürft Neupert-Doppler tief in den Werken von politischen Denkern und zeichnet drei Linien nach: Erstens jene von Immanuel Wallerstein, Paul Tillich und Aristoteles mit einem Verständnis von Kairós als historisches Vakuum in der Krise, welches situative Entscheidungen verlangt. Zweitens die von Giorgio Agamben, Walter Benjamin und Paulus, im Sinne einer Erfahrbarkeit des Kairós in der „Jetztzeit“, die zu einem (invertierten) präfigurativen Handeln im Modus des „Als-ob-nicht“ führt. Und drittens die Linie von Michael Hardt/Antonio Negri, Spinoza und Machiavelli, in welcher die Gelegenheit zur Gründung des Neuen aus den utopischen Tendenzen in der Gegenwart herausgeschält wird. Neupert-Doppler rahmt diese umfangreichen Darstellungen mit der Diskussion um den Kairoś in der deutschen Revolution 1918, wobei seine Sympathie bei revoltierenden rätekommunistischen Gruppen liegt, sowie dem berüchtigten Mai 1968 in Paris, den er vor allem aus Perspektive der Situationisten begreift.
„Die Gelegenheit ergreifen“ ist für Lesende zu empfehlen, die etwas über die genannten Kernautoren erfahren möchten, deren Gedanken der aus der Kritischen Theorie kommende Autor kenntnisreich darstellt. Weiterhin kann das Buch als ein gelungenes Beispiel für akribische und durchdachte Arbeit der politischen Philosophie gelten, die anspruchsvoll ist und einiges voraussetzt. Damit verlangt er den Lesenden phasenweise ab, auf mehreren Ebenen gleichzeitig zu denken. Der Tiefgang von Neupert-Dopplers Beschäftigung beeindruckt und verdeutlicht, dass er nicht lediglich darstellen, sondern den Begriff durchdringen möchte. Dabei scheut sich der Autor auch nicht, Kritik zu üben, wo sie ihm angemessen erscheint. Zweifellos ist Kairós schwer zu fassen, weil der Begriff im Unterschied zur chronologischen Zeit, nicht einen bestimmbaren Verlauf meint, sondern Situationen beschreibt, in der Zeit qualitativ anders erfahren wird. Dies beinhaltet unter anderem auch, mit dem Fortschrittsglauben der Moderne zu brechen, was beispielsweise Benjamin tue. Mit seinem Messianismus bringe er ein Dystopie- und Katastrophenbewusstsein zum Ausdruck, welches für den Kairós ebenso wichtig sei, wie die Vorstellung einer konkreten Utopie.
Anstatt in bloße Beliebigkeit und Passivität zu verfallen, kann die messianische Zeit – in der das Zukünftige bereits in Tendenz spürbar vorhanden ist – einerseits ins Hier und Jetzt geholt werden, um andererseits zugleich auf den Zeitpunkt vorbereitet zu sein, in welchem unübersichtliche Entwicklungen in einem kairologischen Moment kulminieren. Dies ist möglich, denn mit Spinoza gedacht ist die „Utopie […] kein Vorauseilen in die Zukunft, sondern ein Vorgang der Gegenwart, die Annäherung an Kairós. Nicht ein unwirkliches Ideal soll verwirklicht, sondern eine wirkliche Triebkraft genutzt werden“ (S. 222). Demnach liegt es nahe, dass Neupert-Doppler sein Augenmerk nicht auf Akteur*innen richtet, die eine sozialdemokratische Vermittlung anstreben, sondern auf solche, die im Handgemenge handeln. So sei beispielsweise in Anschluss an Agamben der Anarchismus
„weniger als ferne Utopie, die in einem zukünftigen Kairós zu verwirklichen wäre, sondern Kairós als Zeitpunkt, in der Herrschaft unterbrochen wird [zu verstehen], um Freiheit genussvoll zu erfahren. Es ist Umkehrung: Wenn der Staat nacktes Leben setzen kann, kann das Leben den Staat absetzen“ (S. 123, Anm. J.E.).
Hierbei ist allerdings anzumerken, dass der zeitgenössische Anarchismus sich ohnehin nicht als ferne Utopie versteht. Zugleich geht der Anarchismus zumindest potenziell über die Umkehrung (und ihre Konsequenz: die Mikropolitik) hinaus. Er stellt mit der Ausdehnung von Erfahrungen der multiplen Krise auf weite Bevölkerungsschichten (durch Prekarisierung, Klimawandel, Digitalisierung und psychische Probleme) inzwischen auch wieder Fragen nach realen konkreten Utopien. Das einer solchen Vision entgegen strebende sozial-revolutionäre Projekt wäre allerdings gegen allerhand liebgewonnene Dogmen, pseudo-radikale Phrasen und akademische Selbstbezüglichkeit der gesellschaftlichen Linken gerade in der BRD erst noch zu erfinden. Einer der Hauptgründe dafür liegt darin, dass man sich mit dem Nutzen des Kairós durchaus die Finger schmutzig machen kann. Eine Machtpolitik, wie sie etwa von Machiavelli vorgedacht wird, wird häufig verworfen, als gäbe es eine reine, gute oder richtige Politik. Machtpolitik kann auf jeden Fall kritisiert oder abgelehnt werden. Dann stellt sich jedoch die Frage, wie sich als politisch verstehende Akteur*innen dennoch Wirkungsmacht entfalten können. Denn die Furcht ist berechtigt, sich im Kairós-Moment mit Reaktionär*innen, die ihn ebenfalls schätzen, gemein zu machen. Die Lösung des Dilemmas kann gleichwohl nicht darin bestehen, diesen die Gelegenheit zu überlassen. Daher lohnt sich die Aneignung von „genügend Erfahrung“, das „kollektive Handeln“ und nachträgliche „Konstitution“ einer vorherigen plötzlichen „Transformation“ (S. 266), wie Neupert-Doppler schreibt.
Der Kairós
„soll eine Lücke füllen. Inhaltlich überbrückt er einen Abgrund, indem er die politischen Haltungen des ewigen Abwartens besserer Zeiten und des hektischen Aktivismus vermeidet. Ähnliches gilt auch heute für die Lücke zwischen der Unzufriedenheit vieler Menschen mit den bestehenden Verhältnissen und der gleichzeitigen Angst vor der Zukunft, die allein Veränderungen bringen könnte“ (S. 30).
Somit sind die Wahrnehmung und Interpretation von Krise, Handlungsmöglichkeiten, Utopie und Kairós selbst von den komplexen Bedingungen der jeweiligen Zeit geprägt; die verschiedenen Geschichten, Organisationsformen und Praktiken links-emanzipatorischer oder sozial-revolutionärer Akteur*innen bilden diesbezüglich keine Ausnahme. Im Nachdenken über den Kairós können diese Bedingungen nicht einfach ignoriert oder geändert werden. Es erlaubt jedoch zu überdenken, was wir als möglich und was wir als gesetzt erachten. Unsere historisch gewordenen Annahmen über vermeintliche Tatsachen und Möglichkeiten in Frage zu stellen, bedeutet ein Element des Willens stark zu machen, um sich von vermeintlichen Notwendigkeiten zu verabschieden und Handlungsfähigkeit im Sinne des qualitativ Anderen zu werden.
Okay, war dann doch ganz schön komisch, die Online-Diskussionsrunde am Sonntagnachmittag bei der HARP. Nun gut, das werde ich mir künftig also sparen, auch wenn ich es ganz nett fand, mit Thomas Seibert zu sprechen. Für den Anlass zum Thema habe ich einen Entwurf zur Frage des politischen Subjektes im Anarchismus geschrieben, der denke ich tatsächlich wesentliche Punkte enthält, aber auch ausgebaut, belegt und konkretisiert werden müsste.
zuerst veröffentlicht auf: https://www.untergrund-blättle.ch
[Entwurf]
Jonathan Eibisch
Die Frage nach dem politischen Subjekt im Anarchismus verweist auf ein Spannungsfeld innerhalb des anarchistischen Denkens. Es handelt sich um jenes zwischen Politik und dem Anderen von Politik, dem, was von ihr ausgeschlossen wird und/oder ihr entfliehen möchte.
Anarchistische Anti-Politik beinhaltet die ethische und utopische Forderung danach, dass alle Menschen sich als Einzelne selbst bestimmen können. Demnach können auch die Autonomie von Kommunen und Kollektiven dem Anspruch nach nur durch vollständig Freiwilligkeit, also aus dem eigenen vernünftigen Entschluss ihrer Mitglieder, verwirklicht werden. Menschen schlössen sich demnach nicht mehr aufgrund ihrer geographischen oder sozialen Herkunft und nicht aufgrund konstruierter Identitäten zusammen. Ihre Assoziation geschähe aufgrund der Orte an denen sie leben, den Tätigkeiten, welchen sie aktuell nachgehen und den Leidenschaften beziehungsweise Vorlieben, welche sie jeweils haben. Diese seien jedoch multiple und auch wandelbar. Wo keine Zwänge auf die Einzelnen ausgeübt werden, würden diese in der überwältigenden Mehrheit die meiste Zeit dazu tendieren, sich mit ihren Fähigkeiten in die Reproduktion und Gestaltung kollektiver Aktivitäten einzubringen. Damit könnten sie ihre ausgeprägten sozialen Bedürfnisse befriedigen, hätten individuell ein angenehmeres Leben und würden in Beziehung mit anderen erst zu wirklichen Individuen werden.
„Überlegungen zum politischen Subjekt im Anarchismus“ weiterlesen[Entwurf]
Jonathan Eibisch
Die Frage nach dem politischen Subjekt im Anarchismus verweist auf ein Spannungsfeld innerhalb des anarchistischen Denkens. Es handelt sich um jenes zwischen Politik und dem Anderen von Politik, dem, was von ihr ausgeschlossen wird und/oder ihr entfliehen möchte.
Anarchistische Anti-Politik beinhaltet die ethische und utopische Forderung danach, dass alle Menschen sich als Einzelne selbst bestimmen können. Demnach können auch die Autonomie von Kommunen und Kollektiven dem Anspruch nach nur durch vollständig Freiwilligkeit, also aus dem eigenen vernünftigen Entschluss ihrer Mitglieder, verwirklicht werden. Menschen schlössen sich demnach nicht mehr aufgrund ihrer geographischen oder sozialen Herkunft und nicht aufgrund konstruierter Identitäten zusammen. Ihre Assoziation geschähe aufgrund der Orte an denen sie leben, den Tätigkeiten, welchen sie aktuell nachgehen und den Leidenschaften beziehungsweise Vorlieben, welche sie jeweils haben. Diese seien jedoch multiple und auch wandelbar. Wo keine Zwänge auf die Einzelnen ausgeübt werden, würden diese in der überwältigenden Mehrheit die meiste Zeit dazu tendieren, sich mit ihren Fähigkeiten in die Reproduktion und Gestaltung kollektiver Aktivitäten einzubringen. Damit könnten sie ihre ausgeprägten sozialen Bedürfnisse befriedigen, hätten individuell ein angenehmeres Leben und würden in Beziehung mit anderen erst zu wirklichen Individuen werden.
Menschen kommen also individuell nur in sozialer Auseinandersetzung und im kollektiven Zusammenhang zu sich selbst. Es scheint, dass viele Anarchist*innen davon ausgehen, dass der Begriff „Subjekt“ neben „Handlungsfähigkeit“ stets auch einen Aspekt der Fremdbestimmung aufweist, der über die bloße Tatsache hinaus geht, dass Menschen als gesellschaftliche Wesen umfassend voneinander abhängig sind, weswegen sie bisweilen auch spontane individuelle Impulse oder Interesse zurückstellen. Diese unfreiwillige Eingliederung kann sich innerhalb der weiten Spanne von sanftem sozialen Zwang bis hin zu direkter und brutaler Unterwerfung bewegen. Damit müsste konsequenterweise angenommen werden, dass bei vollständig ausgeprägten Anarchie, sowohl der Subjektstatus von Personen, als auch jener von Kollektiven entsprechend den utopischen und ethischen Fluchtlinien des Anarchismus aufgelöst sein würde. Zumindest wäre er radikal anders, als für die meisten Menschen in der heutigen Gesellschaft. Entscheidend ist, dass im Anarchismus die Möglichkeiten zur Selbstbestimmung aller (unterschiedlicher) Einzelnen Ziel und damit auch Indikator für die Verwirklichung von sozialer Freiheit ist. Aus der Ablehnung von erzwungenen Kollektivitäten ergibt sich somit im Anarchismus auch eine grundlegende Skepsis gegenüber politischer Subjektivität.
Dieser Zielvorstellung, welche gleichwohl nicht irgendwann ist oder sein soll, sondern entweder hier und heute gebrochen und widersprüchlich anbricht, oder gar nicht ist, steht notwendigerweise die politische Seite des Anarchismus gegenüber. Anarchismus als Streben nach umfassender Emanzipation und Autonomie ist nicht unpolitisch oder apolitisch, sondern (anti)politisch. Und in der Politik geht es um die Aushandlung der divergierenden Interessen unterschiedlicher politischer Subjekte, die über verschiedene Machtressourcen verfügen.
Politische Subjektivität weist in anarchistischen Verständnissen sechs Dimensionen auf. Mit der sozial-strukturellen Dimension lässt sich erheben und beschreiben, wie sich bestimmte soziale Gruppen anhand ihrer Positionierung in der sozialen Hierarchie der Gesamtgesellschaft, herausbilden. Dies lässt sich überwiegend anhand der ökonomischen und politischen Macht beschreiben, welche jene sozialen Gruppen aufweisen. Sie überschneidet sich mit der sozial-kulturelle Dimension, beide gehen jedoch keineswegs ineinander auf. Als sozial-kulturelle Faktoren können Sprache, Habitus, Narrationen und Mythologien gelten, welche Gefühle von Gemeinsamkeit und Unterschiedlichkeit erzeugen. Sozial-strukturelle und sozial-kulturelle Dimensionen haben starken Einfluss auf die Prägung von sozialen Subjekten.
Als politische Subjekte können diese jedoch erst gelten, wenn ihre jeweiligen Eigenheiten politisiert, also in das Feld politischer Auseinandersetzungen überführt werden. Dies geschieht in der strategisch-organisatorischen Dimension von politischer Subjektivität. Eine wesentliche Rolle spielen in diesem Zusammenhang Räume der Versammlung und Auseinandersetzung. Die Ausbildung politischer Subjektivität geschieht zum einen durch die Strukturierung nach innen, zum anderen beim Auftreten in der Öffentlichkeit. Ferner sind soziale Hierarchien innerhalb von politischen Subjekten, als auch ihre Organisationsformen und Arbeitsweisen generell und deren Unterscheidung von jenen anderer politischer Subjekte zu bestimmen. Dies ist mit der strategisch-diskursiven Dimension verknüpft. Zwar lassen sich sozial-strukturelle oder sozial-kulturelle Faktoren eines Subjektes relativ objektiv bestimmen. Zu einem politischen Subjektiv kann es jedoch nur werden, wenn ihnen spezifische Bedeutung verliehen wird, wenn sie benannt werden. Die Benennung eines politischen Subjektes geschieht notwendigerweise in Abgrenzung zu anderen politischen Subjekten, wobei die Art der Abgrenzung und die Möglichkeiten ihrer politischen Beziehungen eine große Varianz aufweisen. Ebenso besteht eine Variabilität darin, zu welchem Grad dem politischen Subjekt eine Essenz zugeschrieben wird oder ob diese als strategische Setzung offen gelegt und damit zur Verhandlung gestellt wird. Politische Organisation und Artikulation geschehen zu Stärkung eines spezifischen sozialen Subjekte in der politischen Auseinandersetzung. Politische Tätigkeit besteht jedoch auch in der Desorganisation und Desartikulation von konkurrierenden und gegnerischen politischen Subjekten.
Im anarchistischen Verständnis spielt auch die ethische Dimension politischer Subjektivität eine Rolle. Diese beinhaltet die Legitimation, mit welchem einem politischen Subjekt eine spezifische Position in der sozialen Hierarchie zukäme, die es zu behalten oder zu erringen gälte. Politische Subjekte werden formiert, um politische Auseinandersetzung einzugehen und letztere bedingen auch ihre Konstituierung. Anders gesagt bedeutet Emanzipation, dass unterworfene, ausgebeutete und entfremdete politische Subjekte danach streben, die Bedingungen aufzulösen, unter welchen sie sich als spezifische politische Subjekte konstituieren. Daran knüpft schließlich die voluntaristische Dimension an. Emanzipation kann nicht für andere politische Subjekte, sondern muss durch diese selbst vollzogen werden. Dies bedeutet, dass aus den jeweiligen sozialen Gruppen möglichst viele Menschen möglichst umfassend an der Konstitution ihrer politischen Subjektivität mitwirken sollen. Diese Prämisse gründet sich erstens auf der Annahme einer subjektiven Verhaftung von Menschen in den Herrschaftsverhältnissen und zweitens auf der Einsicht darin, dass sie letztendlich nur selbst definieren, entscheiden und mit Inhalt füllen könnten, worin „Freiheit“, „Gerechtigkeit“, „Anerkennung“ oder „Gleichheit“ für sie konkret bestehen. Dass darum offensichtlich Auseinandersetzungen geführt werden und es verschiedene Bewusstseinsgrade davon gibt, wird im Anarchismus mit dem Anliegen vermittelt, möglichst alle Menschen zu ihrer Bewusstseinsbildung und Selbstbestimmung zu befähigen. Die ethische und voluntaristische Dimension politischer Subjektivität führen wiederum zur anarchistischen (Anti)Politik zurück.
Die Konstituierung politischer Subjekte wird im Anarchismus nicht als Selbstzweck gedacht, sondern geschieht strategisch, um für einen libertären Sozialismus zu kämpfen. Darüber hinaus sollen die zu konstituierenden Subjekte im Sinne einer präfigurativen Politik in ihrer Organisationsform, ihren Aktionsformen und in ihren Beziehungsweisen die angestrebten gesellschaftlichen Verhältnisse bereits vorwegnehmen. Da das sozial-revolutionäre Anliegen im Anarchismus darin besteht, die gesellschaftlichen Verhältnisse insgesamt grundlegend zu verändern, versteht sich von selbst, dass mit präfigurativer Politik Ansprüche formuliert werden, welche erstens wiederum selbst Teil von Aushandlungsprozessen sind und die zweitens als Orientierungsmarken dienen, deren Erfüllung stets nur partiell, gebrochen und widersprüchlich gelingen kann. Aufgrund dieser ethischen und utopischen Komponente, sind emanzipatorische politische Subjekte daher auch nicht als bloße Mittel zu Erreichung spezifischer Zwecke zu verstehen. Aus dem Changieren zwischen der Tendenz von formierten Subjekten zum „sozialen“ Selbstzweck zu werden und jener, „nur-politischer“ Zweck zum Mittel sein, ergibt sich ein komplexes Verständnis (anti)politisches Subjektivität, welches anarchistische Akteure vor große Herausforderungen stellt.
Da der Anarchismus sehr plural ist, sich auf verschiedene soziale Gruppen bezieht und unterschiedliche ideologisch-weltanschauliche und strategische Vorstellungen umfasst, ergibt sich von selbst, dass in ihm verschiedene Vorstellungen von politischen Subjekten und politischer Subjektivität bestehen. Hierbei müsste streng genommen zwischen politisch-ideologisch überzeugten „Anarchist*innen“, Aktiven in emanzipatorischen sozialen Bewegungen im weiteren Sinne und solche sozialen Gruppen unterschieden werden, welche in ihrer sozial-strukturellen und sozial-kulturellen Position in einer historisch-spezifischen Herrschaftsordnung am stärksten ausgebeutet, unterdrückt und entfremdet werden. Die Übergänge sind jedoch fließend.
Allgemein kann festgestellt werden, dass der Anarchismus bei seiner Genese in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf die Kategorie des „Volkes“ im Sinne des vierten Standes Bezug nahm. „Volk“ ist in der anarchistischen Verwendung also eine sozialstrukturelle Kategorie der unteren Klassen, welche zu weiten Teilen politisch unterdrückt und ausgeschlossen werden. Die beinhaltet jedoch bereits die Annahme seiner inhärenten Heterogenität, angefangen bei der Arbeit verschiedener sozialer Gruppen in der Landwirtschaft, im Handwerk oder der Industrie, aus welcher unterschiedliche Interessen resultieren. Darüber hinaus werden auch sozial-kulturelle Unterschiede ausgemacht, je nach geographischem Raum (Stadt-Land, verschiedene Regionen), nach Herkunft (unterschiedliche Sprachen, Gebräuche) oder weltanschaulichen Überzeugungen (z.B. Prägung durch Religionsgemeinschaften). Wenn im frühen Anarchismus von „Volk“ gesprochen wurde, dann stets von einer Gemengelage unterschiedlicher sozialer Gruppen, denen jedoch unterstellt wurde, sich in einem strukturellen Antagonismus zum Großgrund-besitzenden Adel oder dem Kapital-besitzenden Bürgertum zu befinden. Wesentlich ist dem Anarchismus die Ablehnung eines vermeintlich privilegierten revolutionären Subjektes, wie es etwa im Marxismus mit dem Industrieproletariat ausgemacht wurde. Fast als Gegenbewegung zum Marxismus findet sich daher im Anarchismus auch eine Bezugnahme auf den angeblich reaktionären „fünften Stand“, das sogenannte „Lumpenproletariat“. Darunter werden mit Langzeitarbeitslosen, Obdachlosen, Tagelöhnern, Kleinkriminellen und Prostituierten all jene sozialen Gruppen zusammengefasst, welche von der Hand in den Mund leben müssen, oftmals keinen dauerhaften Wohnsitz haben und daher keinen geregelten Lebenslauf vorweisen können.
Der soziale Gegensatz zwischen „Volk“ und herrschenden Gruppen sollte anarchistischer Lesart nach mit dem Nationalismus übertüncht und in seiner republikanischen oder völkischen Variante in die konstruierte Gesamtheit von „Republik“ oder „Volksgemeinschaft“ überführt werden. Dementsprechend wird in allen Varianten der nationalstaatliche Rahmen für die Herausbildung politischer Subjekte abgelehnt, im Unterschied zu sozialdemokratischer Politik vom Ende des 19. Jahrhunderts bis heute.
Mit dem in der Ersten Internationale (1864-1876) verbreiteten und später von Peter Kropotkin ausformulierten anarchistischen Kommunismus wurde das Subjekt des Volkes zunehmend durch jenes der Klasse ersetzt. Doch auch bei ihm gingen anarchistische Denker*innen von seiner inhärenten Heterogenität aus. Mit anderen Worten richteten sie ihr Augenmerk darauf, wie die „Klasse an sich“ zu einer „Klasse für sich“ werden könnte, wie es Marx formulierte. Denn dieser Prozess geschieht nicht mehr oder weniger automatisch, sondern ist aktiv organisatorisch, diskursiv, ethisch und voluntaristisch herzustellen, vor allem deswegen, weil die „Befreiung der Arbeiterklasse das Werk der Arbeiterklasse selbst sein“ soll. Die Bezeichnungen „Volk“ und „Klasse“ treten jedoch auch künftig oftmals vermischt auf. Im spanischen Raum sind „pueblo“ und im englischen „people“ anders konnotiert als im deutschen Sprachgebrauch. Dahingehend lassen sich im Anarchismus bis Anfang des 20. Jahrhunderts auch explizite Bezugnahmen auf die Bauernschaft zeigen – man denke beispielsweise an die mexikanische Revolution oder die Macho-Bewegung.
Die Entwicklung des Anarcho-Kommunismus ist jedoch nur eine Linie im Anarchismus. Ihr gegenüber steht die Ausbreitung des individualistischen Anarchismus, der einerseits in Abwehr der sich ausdehnenden Zwangsinstitutionen des bürgerlichen Nationalstaats und andererseits in Ablehnung der Massengesellschaft und politischer Kollektive generell entsteht. Kommunistische Anarchist*innen lehnten sozialistische politische Parteien ab, befürworteten jedoch Massenorganisationen, um politische Subjekte zu konstituieren. Individualanarchist*innen dagegen argumentieren, mit Massenorganisationen und der Bezugnahme auf kollektive politische Subjekte geschähe erneut eine Unterordnung von Einzelnen unter abstrakte Gesamtwillen, was dem anarchistischen Grundanliegen widerspräche. Als politische Subjekte werden hingegen gerade die Individuen betrachtet, welche es zu stärken gälte. Etwas später noch, ab den 1890er Jahren kamen der anarchistische Syndikalismus und der kommunitäre Anarchismus auf. In ersterem wird das politische Subjekt der proletarischen Klasse eindeutiger als im Anarcho-Kommunismus betont, wenngleich weiterhin von ihrer Heterogenität ausgegangen wird. Im anarchistischen Kommunitarismus ist eine Relativierung von sozial-strukturellen Begründungen festzustellen. Stattdessen wird die sozial-kulturelle Dimension in dem Sinne betont, als dass die politischen Subjekte eher in Lebensreform- und Genossenschaftsbewegungen gesucht werden.
Im Verlauf des 20. Jahrhunderts ist ein zunehmende Integration der Arbeiterklasse in den staatlichen Kapitalismus zu beobachten. Staatliche Eingriffe in die Wirtschaft während der Kriege, die Ausdehnung von Konsummöglichkeiten und relativer Wohlstand, politisch-gewerkschaftliche Klassenkompromisse, die Entwicklung der Unterhaltungsindustrie, die parlamentarische Einbindung sozialistischer und kommunistischer Parteien und die Beschwörung nationaler Einheit durch äußere und innere Feind*innen sind hierbei als wesentliche Faktoren für diese Entwicklung zu nennen. Zumindest sozial-revolutionäre Bestrebungen waren mit dem herkömmlichen Klassensubjekt nicht mehr denkbar. Dies galt ebenso für die realsozialistischen Staaten in welchen mit der Proklamation der Diktatur der Arbeiterklasse, reale Klassenunterschiede negiert wurden, während ebenso eine neuartige Einbindung proletarischer Klassen in herrschende Schichten erfolgte.
Zugleich brach sich eine Entwicklung bahn, deren Keim schon lange vorher gelegt war: Herkunft/race und Geschlecht/Sexualität wurden als Unterdrückungsmomente begriffen, denen mit weißer Vorherrschaft und Patriarchat eigenständige Herrschaftsverhältnisse zu Grunde liegen. Um diesen entgegenzutreten, wurde über Identitätspolitiken verschiedene politische Subjekte gebildet, die sich gegen multiple Unterdrückungsachsen zu Wehr setzen.
Mit der Welle der antiimperialistischen Bewegungen wurde von Anarchist*innen ebenfalls auf die Subjekte von um Befreiung kämpfenden sozialen Gruppen in Ländern der sogenannten „Dritten Welt“ Bezug genommen. Dies geschah jedoch deutlich kritischer auch dem sowjetischen Imperialismus und dem Nationalismus der Befreiungsbewegungen gegenüber. Ab den 1990ern ist von einer weiteren Pluralisierung oder auch Fragmentierung politischer Subjekte im Anarchismus zu sprechen. Mit der Diskussion um die Ansprüche nicht-menschlicher Lebewesen oder auch zukünftig lebender menschlicher Generationen wird eine Ansammlung von politischen Subjekten in Abwesenheit eingeführt.
Der Fragmentierung wird mit Überlegungen zur Bildung neuer Allianzen zwischen verschiedenen politischen Subjekten begegnet. Die postoperaistische „Multitude“ erfuhr dabei teilweise Zustimmung von Anarchist*innen, gilt ihnen jedoch noch als zu unbestimmt, schematisch und unterkomplex. Stärker wird versucht, heterogene politische Subjekte an den „Rändern“ der Herrschaftsordnung zu suchen (z.B. Indigene, Arbeitslose, Migrant*innen, Sexarbeiter*innen), die ebenso „innerhalb“ ihrer Metropolen, in deren „Rissen“ und „Zwischenräumen“ (z.B. Autonome, digitale Bohéme, Transpersonen, anti-elitärer Kosmopolitismus) gefunden werden können. Der Vorstellung eines „linken Mosaiks“ nicht fern, geht es um die Bildung von „Äquivalenzketten“ um verschiedenen politischen Subjekte zusammen zu schließen. Über „linke“ Vorstellungen hinaus, soll eine solche Allianz jedoch ohne anführende Partei auskommen und in vollständiger Bewahrung beziehungsweise erst Herstellung der Autonomie der sich freiwillig und horizontal föderierenden politischen Subjekte gelingen. Diese anarchistische Pluralität richte sich gegen den liberalen Multikulturalismus, wie Richard F. Day betont (2005). Mit dem Ansatz der „Total Liberation“ soll wiederum eine Vereinigung verschiedener Subjekte gegen soziale Hierarchie generell möglich werden, in dem vom Kristallationspunkt der ökologischen Zerstörung ausgegangen wird (2019).
Im Individualanarchismus wird das Subjekt „souveräner sozialer Singularitäten“ fortgeschrieben (Saul Newman (2016); Crispin Sartwell (2008)), ebenso wie im Anarcho-Syndikalismus der Klassenbegriff aufgewärmt wird (Schmidt/van der Walt (2009)) oder kommunale (Murray Bookchin (1997)) beziehungsweise kommunitäre Kollektivitäten (John P. Clark (2013)) wieder in den Blick genommen werden. Traditionelle Diskussionen werden hierbei also unter teilweise veränderten Umständen fortgeschrieben.
Allen Strömungen im Anarchismus ist gemein, dass in ihnen der Wille von Subjekten zu ihrer eigenen Ermächtigung beziehungsweise Emanzipation betont wird. Die im Sozialismus weit verbreitete Vorstellung eines unweigerlichen gesellschaftlichen Fortschritts wird ebenso abgelehnt, wie jene, dass Geschichte nach vermeintlich historischen Gesetzmäßigkeiten verlaufe. Verworfen wurden die Verelendungsthese, nach welcher Menschen dann revolutionär werden würden, wenn sich ihre Lebensbedingungen verschlechtern und auch das angeblich „eherne Lohngesetz“, mit welchem davon ausgegangen wurde, dass jegliche Verbesserungen von Arbeitsbedingungen durch eine Erhöhung der Preise oder Mieten ausgeglichen werden würden. Die Situation von Unterdrückung, Ausbeutung und Entfremdung führe bei Angehörigen der produzierenden Klassen zu Fatalismus und Perspektivlosigkeit. Religionsgemeinschaften, Medien und Unterhaltungsindustrie hielten sie in einem dauerhaften Spektakel gefangen oder verdummten sie regelrecht, sodass sich ihr Drang aufzubegehren in reaktionäre Richtungen wendet.
Für Anarchist*innen spielen sozialistische Parteien dieses Spiel mit, anstatt sich ihm entgegen zu stellen. Sie artikulieren und vertreten die Interessen ihres Klientels, anstatt dass die Angehörigen einer sozialen Gruppe dies selbst tun. Sie vermitteln ihre Interessen in parlamentarischen politischen Gremien und Prozessen, anstatt direkt für ihrer Umsetzung als soziale Praxis einzutreten. Sie bilden hierarchische Strukturen aus, die jenen des Staates gleichen. Indem Parteisozialist*innen Menschen organisieren und anführen, anstatt das diese sich selbst organisieren und selbst bestimmen (was auch kollektiv und prinzipiell auch institutionalisiert geschehen kann), tendieren sie dazu, sie in Unwissenheit, Abhängigkeit, Ohnmächtigkeit und Gehorsam zu halten.
Daher wird im individualistischen Anarchismus die Eigenwilligkeit der Einzelnen betont, deren Erkennen und Ausleben an sich eine antiautoritäre Stoßrichtung aufweise. Im Mutualismus wird mit neuartigen Institutionen wie den Arbeiterbörsen, Kollektivbetrieben oder Genossenschaften gegenseitige Hilfe, praktische Solidarität und sozialer Zusammenhalts gestiftet, die bewusst nicht für andere, sondern für ihre Mitglieder selbst geschehen soll. Der Anarcho-Kommunismus weist den Widerspruch auf, dass seine Anhänger*innen die proletarischen Klassen einerseits nicht anführen, sondern zu ihrer Selbstermächtigung anregen wollen; andererseits aber eine festere Vorstellung davon haben, wie der gesellschaftliche Zustand zu beschreiben ist und wie die Vision für eine libertär-sozialistische Gesellschaft aussieht. Dies führt zu einer Überbetonung von der Notwendigkeit der Bewusstseinsbildung, Propaganda und Agitation der Menschen, welche sich darauf hin selbst erheben und organisieren sollen. Im anarchistischen Syndikalismus wird der „Arbeiterwille“ als „neuer Faktor“ angesehen, sprich als etwas, was nicht einfach gegeben ist, sondern was durch spezifische Erfahrungen geprägt und durch Sozialtechniken gefördert werden könne. Daher wird Wert auf die genaue Organisationsform der Syndikate gelegt, in welchen die Arbeiter*innen sich organisieren, darüber hinaus jedoch auch ihrer Lage bewusst werden, solidarisieren und ermächtigen können. Die Anwendungen von direkten Aktionen dient zum Einen dazu, bestimmten Forderungen Nachdruck zu verleihen, indem Tatsachen geschaffen werden. Nicht weniger jedoch hat sie eine erzieherische Funktion für jene, die sie anwenden als auch für jene, die sie sehen. Auch im kommunitären Anarchismus wird der Wille der Einzelnen betont, welcher Voraussetzung dafür sei, politische Subjekte zu konstituieren, die anarchistischen Vorstellungen entsprechen. Klassenübergreifend sollen all jene, die gesamtgesellschaftliche Veränderungen in Verbindung mit der Veränderung ihrer eigenen Lebensweise wollen versammelt werden, um ein experimentelles „neues Beginnen“ zu wagen. Schließlich soll auch im anarchistischen Insurrektionalismus die Rebellion, der Aufstand, nicht allein dazu dienen, Aspekte der Herrschaftsordnung direkt anzugreifen und zu zerstören. Ebenso sollen mit ihm die Verletzbarkeit der Herrschaft aufgezeigt und die Ermächtigung der Subjekte in der aufständischen Situation erfahren werden, damit die Ohnmacht gebrochen und der Wille erzeugt wird, mit der Herrschaftsordnung auf umfassende Weise zu brechen.
Insgesamt kann für die anarchistische Theorie wiederum von einem dialektischen Verhältnis vom „Willen“ als Ausgangspunkt zur Konstitution von politischen Subjekten und „Willen“ als Ziel formierter politischer Subjekte ausgegangen werden. „Wille“ ist dabei nicht als etwas naturgemäß gegebenes oder als bloße Charaktereigenschaft zu verstehen. Vielmehr gründet er sich in der „Erziehung“, das heißt zum Beispiel dem Kennenlernen der eigenen Bedürfnisse und Vorstellungen, einem Bewusstsein von der eigenen gesellschaftlichen Situation und Zielvorstellungen davon, wie diese anders sein könnte, sowie in der Erfahrung von Selbstwirksamkeit, die als mit anderen (im Kampf) verbunden zu verstehen ist. In jedem Fall ist diese voluntaristische Dimension wie erwähnt eine, die zu politischen Subjekten, die einem anarchistischem Verständnis entsprechen, hinzukommen muss. Im Zusammenhang mit der Dimension einer sozialistischen Ethik übersteigt sie die sozial-strukturellen und sozial-kulturellen Bedingungen in denen soziale Subjekte situiert sind und ermöglicht tendenziell einen Zusammenschluss von politischen Subjekten aus verschiedenen Kontexten. Diese Schnittpunkte sind jedoch aktiv herzustellen.
So unterschiedlich die Hintergründe von Anhänger*innen der anarchistischen Szene beziehungsweise anarchistisch beeinflusster sozialer Bewegungen waren und sind, kam der Großteil von ihnen aus proletarischen Verhältnissen, waren sie Industriearbeiter, Bauern oder abhängige Handwerker. Die Namen, die historisch überliefert werden sind jedoch in der Regel jene von Aktiven, die entweder Bücher oder Zeitungsartikel geschrieben haben, sich als Redner*innen und Organisator*innen besonders hervortaten oder durch ihren außergewöhnlichen Wagemut zur Legende gemacht wurden. Damit wird die gängige Vorstellung reproduziert, es seien entweder fast ausschließlich „privilegierte“, „besonders begabte“ oder „fanatische“ (überwiegend weiße und männliche) Personen, welche emanzipatorische soziale Bewegungen prägen oder anführen. Wenngleich die Zugangschancen äußerst unterschiedlich sind, trügt dieser Eindruck dennoch. Echtes sozial-revolutionäres Handeln geschieht durch viele „durchschnittliche“ Leute und wird in oftmals sehr unspektakulären Handlungen und kontinuierlicher Organisationsarbeit vollzogen. Einen „Willen“ – im oben beschriebenen Sinne – für diese Graswurzeltätigkeiten zu entwickeln, ist an bestimmten Voraussetzungen gekoppelt. Dies gilt umso mehr, je weniger das sozial-revolutionäre Handeln an der Oberfläche kratzt, während es für tiefschürfende und daher oftmals wenig sichtbare Aktivitäten selten soziale Anerkennung oder überhaupt Verständnis gibt. Politisch aktiv zu werden, also sich bewusst als Teil eines politisches Subjektes zu verstehen und politische Subjekte organisieren zu wollen, verlangt über eigene Zeit zu verfügen, Zugang zu bestimmter Bildung zu haben und einen bestimmten Habitus ausbilden zu können, um Anteil an einer bestimmten politischen Szene und Kontakte in ihnen zu haben. Je schwerer Ausbeutung, Unterdrückung und Entfremdung auf den sozialen Gruppen lasten, desto schwerer ist es für sie, sich freiwillig als bewusste politische Subjekte zu konstituieren.
Dass soziale Gruppen sich als politische Subjekte formieren und sich emanzipatorischen sozialen Bewegungen oder sogar einer anarchistischen Szene anschließen, lässt sich also nicht allein oder vorrangig aus sozial-strukturellen und sozial-kulturellen Bedingungen ableiten, ergibt sich aber auch nicht bloß aus der ethischen oder voluntaristischen Dimension, sondern ist eine Frage von Organisation und Diskurs. Menschen können sich aus verschiedenen Positionen heraus politischen Subjekten anschließen. Auch wenn sich Faktoren dafür benennen, begründen und somit auch in gewissem Maß beeinflussen lassen, wäre es müßig danach zu suchen, aus welchen Gründen genau sich Einzelne oder bestimmte Gruppen einem politischen Subjekt anschließen. Beziehungsweise wäre es – wenn es umfassend betrieben werden würde – auch schlichtweg manipulativ und damit nicht emanzipatorisch.
Festzustellen ist, dass es immer wieder eine Kluft zwischen ideologisch überzeugten Aktiven und einer breiten und relativ unbewussten beziehungsweise lethargischen Masse zu geben scheint. Dies hängt mit den erwähnten Zugangsvoraussetzungen zusammen, mit der Ohnmacht und Fatalismus erzeugenden gesamtgesellschaftlichen Konstellation, als auch mit der bloßen „sozialen“ Tatsache, dass sich nur wenige Menschen trauen mit mehrheitlich verbreiteten Vorstellungen oder Verhaltensweisen zu brechen und damit in der Regel die eigene Komfortzone zu verlassen. Letzteres bedeutet zudem die Bereitschaft, sich auch als soziales Subjekt in Frage zu stellen und sich von dessen Bedingungen emanzipieren zu wollen.
Wie erwähnt, setzen Anarchist*innen auf die Selbstermächtigung und Selbstorganisation der von Herrschaft betroffenen Subjekte. Damit werden Stellvertretungsprinzip und Avantgarde-Politik zurückgewiesen. In der Konsequenz führte dies oftmals zu einer subkulturellen oder dogmatisch-identitären Selbstbezüglichkeit in anarchistischen Kreisen. Die Ansprüche daran, eigene Lebensweisen zu verändern, wurden derart hoch angelegt, dass das Verständnis für die eigene „Progressivität“, beziehungsweise die Exklusivität der spezifischen gesellschaftlichen Position, verloren ging. Mit schlecht vermittelbaren Beispielen und fernen Lebensrealitäten lassen sich die eigenen Vorstellungen jedoch nur schwierig verbreiten. Die Kluft zwischen bewussten politischen Subjekten und durch die – in der staatlich-kapitalistischen Gesellschaft hergestellten – Massen, lässt sich somit nicht überbrücken.
Die Diskussionen um diese Thematik führten im Anarchismus zum Konzept der radikalen Minderheiten. Mit diesem geht es nicht darum, eine große Anzahl von Menschen zu versammeln zu werden, „bevor“ sozial-revolutionär gehandelt werden könnte, sondern umgekehrt sozial-revolutionär zu handeln, um „mehr“ zu werden. Die neu überzeugten Anhänger*innen eines sozial-revolutionären Subjektes, sollen sich jedoch nicht lediglich einem politischen Subjekt anschließen, sondern entweder aktiv in ihm mitwirken oder aus der eigenen spezifischen sozialen Gruppe heraus politische Subjektivität ausbilden. Heruntergebrochen zähle nicht die Quantität der Anhänger*innen, sondern die Qualität ihres bewussten, selbstbestimmten und radikalen Handelns. Es liegt nahe, dass hierbei wiederum die Gefahr besteht, in exklusive Kleingruppen zurück zu fallen, welche an Wirkungsmacht, Themenvielfalt und Verankerung in der Bevölkerung einbüßen. Damit dies nicht geschieht, wurden im Anarchismus immer wieder nach Formen gesucht, wie Gemeinsamkeiten trotz Pluralität der politischen Subjekte hergestellt werden können.
Meiner Lesart nach wird mit anarchistischen Strategien versucht, unterschiedliche politische Subjekte in gemeinsame Kämpfe gegen eine allgemeine Herrschaftsordnung zu vereinen, die sich zwar unterschiedlich auf die jeweils Betroffenen auswirkt, von welcher aber angenommen wird, dass sie den Beteiligten grundlegend schadet. Wie eingangs erwähnt, ist die Annahme der Heterogenität politischer Subjekte ein wesentliches Kennzeichen des Anarchismus, mit welchem danach gesucht wird, wie diese sich freiwillig und horizontal zusammenschließen können, ohne ihre Autonomie aufzugeben.
Dazu wird im Individualanarchismus die Differenz im Sinne des Strebens nach der Selbstentfaltung von Einzelnen betont, deren divergierende „Leidenschaften“ idealtypisch gerade aufgrund ihrer sich ergänzenden Vielfalt vermittelt werden könnten. Schwierig wird es allerdings, wenn kein verbindlicher organisatorischer Rahmen besteht, in welchem Differenzen in Auseinandersetzung treten können, um dann Gemeinsames zwischen ihnen herzustellen – etwa weil individuelle Anliegen und Bedürfnisse derart in den Vordergrund gestellt werden, dass damit Bezugnahme auf die Kollektivität eines politischen Subjektes verunmöglicht wird. Im Anarcho-Syndikalismus besteht die Tendenz einer Relativierung von Differenzen durch die Betonung der gemeinsamen Klassenposition. Die gewerkschaftliche Praxis ruft jedoch immer wieder ins Bewusstsein, dass unterschiedliche Subjektpositionen und mithin verschiedene politische Subjekte zu beachten sind, um einen Klassenantagonismus überhaupt von der eigenen Seite her kämpferisch aufmachen zu können. Wie erwähnt wird im anarchistischen Kommunitarismus der Wille zum experimentellen und verändernden Neuaufbau als wesentliche Voraussetzung angesehen. Damit wird Vielfalt begrüßt, werden jedoch auch neue Habitusformen erzeugt, mit denen Zugangsbarrieren einhergehen, welche der Heterogenität wiederum entgegen stehen. Aus diesen Gründen befinden sich anarchistische Ansätze in einem Dilemma zwischen dem Anspruch, die Vielfalt und Offenheit von politischen Subjekten zu gewährleisten, während dieser gleichzeitig aufgrund der Komplexität der anarchistischen Vorstellungen, bestimmten Voraussetzungen für die politische Subjektivierung und damit einhergehenden subjektiven Anstrengungen, untergraben wird.
Meiner Ansicht nach wird dieses Dilemma im zeitgenössischen Anarchismus kaum gelöst, weil strategische Überlegungen abgelehnt und eine politisch motivierte Beschäftigung mit Theorie, ja vielmehr ihre Übertragung und Anwendung in die politische Praxis, oftmals nicht als notwendig erachtet wird. „Strategische Überlegungen“ müssen dabei keineswegs den Charakter von der kritisierten Parteipolitik annehmen oder deren politische Logik übernehmen, noch braucht es für sie zwangsläufig eine bestimmte Größe von sozialen Bewegungen. Mit der Anwendung „politischer Theorien“ ist keine Aneignung von bloßem Bücherwissen oder die Exegese von einem Schriftenkanon gemeint, aus welcher dann Masterpläne abgeleitet werden. Vielmehr geht es mit ihnen darum, sich gezielt Wissen über gesellschaftliche Entwicklungen, soziale Positionen von Menschen usw. anzueignen, um sich organisieren und emanzipatorisch kämpfen zu können. Dies kann zahlenbasiert und „wissenschaftlich“ sein, aber ebenso in der Kenntnis von Narrationen und in Erfahrungen beim Agieren von politischen Verbündete, Konkurrent*innen oder Gegner*innen, bestehen. Auch hinsichtlich des Nachdenkens über politische Subjekte, ihrer Ausgestaltung und der Zugehörigkeit zu ihnen, bestehen im Anarchismus starke Tendenzen zur Romantik und zur Dogmatik. Spezifische Praktiken und politische Subjekte stehen dauernd vor der Gefahr zu Selbstzwecken oder bloßen Mitteln zu Zwecken zu verkommen. Präfigurative Praxis hingegen bedeutet, die Formung und Ausgestaltung von politischen Subjekte, ihre Zugangsmöglichkeiten und ihr Verhältnis in der Differenz zu anderen politischen Subjekten fortwährend zu reflektieren und zur Debatte zu stellen. Auch dies ist letztendlich ein Grund dafür, warum eine Festlegung von politischen Subjekten im Anarchismus – abseits von der wahren, aber allgemeinen Beschreibung, dass sie von Herrschaftsverhältnissen betroffen sind und sich von diesen emanzipieren wollen – nicht vorgenommen werden kann. Anhaltende Debatten um „Privilegien“ in linken Szenen verdeutlichen jedoch, dass dahingehend eine gewisse Reflexionsbereitschaft und ein Problembewusstsein für die trennenden Unterschiede bestehen, in welche die Herrschaftsordnung Menschen setzt. Dies wird ergänzt durch die Begrüßung von selbstbestimmter Vielfalt, die potenziell Grundlage für horizontale Gemeinsamkeiten sein kann.
Eine bewegende Kurzdoku über oppositionelle Jugendliche in der DDR am Beispiel der Kreise, die sich um die Junge Gemeinde Stadtmitte in Jena trafen. Der ungeklärte Tod von Matthias Domaschk im Stasi-Gefängnis in Gera bildet den traurigen Hintergrund dieser historischen Geschehnisse.