Hier der Link zu einem Vortrag, der am 11.01. in Kassel (online) gehalten wurde. Es handelt sich hauptsächlich um eine Zusammenfassung von Disskussionen aus den letzten Monaten. Das explizit Anarchistische kommte vor allem im letzten Teil raus.
Die einzelnen Teile
(0) Fluch auf die Querschwurbler (1) Die proklamierte Panik (2) Der pandemische Ausnahmezustand (3) Risiken und Nebenwirkungen staatlicher Regulierung (4) Zu den Reaktionen der Linken (5) Verschwörungsmythologie, konformistische Revolte und faschistische Agitation (6+7) Anarchistische Perspektiven und Fluchtlinien zum libertären Sozialismus
Der Ankündigungstext
„Seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie sind wir mit neuen Bedingungen konfrontiert, in denen wir uns zurechtfinden müssen. Mit den Maßnahmen zur Regulierung haben Nationalstaaten zugleich ihre ungeheure Macht als auch ihre Unzulänglichkeit bewiesen, die gesellschaftlichen Folgen der Pandemie effektiv zu bearbeiten. Protest gegen die Maßnahmen zur medizinischen, polizeilichen und biopolitischen Eindämmung der Pandemie wurde in der BRD überwiegend von verschwörungsmythologisch argumentierenden Gruppierungen und faschistischen Akteuren artikuliert bzw. organisiert und auf die Straße getragen. Dagegen sollte der pandemische Ausnahmezustand auch aus anarchistischer Perspektive kritisiert werden, damit wir unsere Handlungsfähigkeit wiedergewinnen. Schließlich sollten wir zumindest aufzeigen, wie Menschen selbstorganisiert und für alle Gesundheitsversorgung und Sicherheit gewährleisten können.“
und ein Link zu den Folien zum Vortrag (lassen sich gut parallel anschauen):
Unter dem Titel „Feindlich-negative Elemente…“. Repression gegen Linke und emanzipatorische Bewegungen in der DDR erschien im Oktober 2019 eine Broschüre mit acht Beiträgen zu diesem Thema. Endlich könnte man sagen. Im Beitrag von Konstantin Behrends über den Anarchisten Wilhelm Jelinek wird deutlich, wie der Repressionsapparat des stalinistisches Regimes gleich in den ersten Jahren des sozialistischen Staates gegen Linksradikale und Anarchisten vorging. Diese versuchten sich ohnehin schon unter widrigsten Bedingungen zu organisieren. Jelinek selber wurde 1948 wegen seiner antiautoritären Umtriebe inhaftiert und „starb“ 1952 unter ungeklärten Umständen, wobei er bei seinem letzten Besuch bei guter Gesundheit zu sein schien. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass es sich ebenso um einen politischen Mord handelt wie bei Matthias Domaschk später.
Die Broschüre wurde von Bernd Gehrke, Renate Hürtgen und Thomas Klein herausgegeben und erschien bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Vor gut 50 Jahren legte der Schriftsteller Rudolf Krämer-Badoni eine merkwürdige Darstellung des Anarchismus vor.
In der Zeit der Achtundsechsziger-Bewegung schienen also auch konservative „Aufklärer“ nicht umhin zu kommen, sich mit der Manifestation der Neuen Linken zu beschäftigen, welche sich zumindest zu weiten Teilen in ihrem diffusen Antiautoritarismus von der biederen Sozialdemokratie, als auch vom leninistischen Bolschewismus abgrenzte und konsequenterweise mit dem Anarchismus liebäugelte.
Wohlgemerkt, dies war vor den Verfallserscheinungen der 68er-Bewegung, die in so divergierende Richtungen wie den (nicht-anarchistischen!) RAF-Terrorismus, maoistische und leninistische K-Gruppen, wie auch die Sponti-Bewegung und das Engagement in den Neuen sozialen Bewegungen für Frieden, Ökologie, Feminismus, Homosexuellenrechte, Demokratisierung und gegen Atomenergie, mündeten. Dass eine Bewegung wie jene von 1968 eine echte, protagonistische Kraft ist und auch ohne jede parlamentarische Beteiligung und institutionelle Einhegung Wirkungsmacht entfalten kann, zeigt sich ja auch beispielsweise daran, dass sich bürgerliche Schriftsteller gezwungen sehen, sich ernsthaft mit ihr auseinanderzusetzen.
Darüber hinaus sollte nicht vergessen werden, dass revolutionäre Situationen immer mit Polarisierungen einhergehen. Ein Indiktator dafür ist der Einzug der neofaschistischen NPD in die Landtage von Hessen 1966 (7,9%), Bayern (7,4%), 1967 von Rheinland-Pfalz (6,9%) und von Niedersachsen (7%), sowie 1968 von Baden-Württemberg (9,8%).
Achtundsechzig und was folgt? Chaos, Terror, Anarchie?
Krämer-Badoni, der sich – nicht ohne gewissen beissenden Witz – gegen den sozialistischen Sumpf in seinem ganzen Facettenreichtum richtet, ist es insbesondere ein Anliegen, den wiedererstarkten Anarchismus auf’s Korn zu nehmen. Vermutlich sieht er die eingehegte Sozialdemokratie als Kontrahenten, aber legitime (also „demokratischen“) Gegenspieler an, während der sowjetische Bolschewismus ohnehin diskreditiert und nicht der Rede wert ist.
Die „jungen Leute“, welche scheinbar plötzlich sozialistische Parolen rufen, sich mit revolutionären Bewegungen weltweit beschäftigen, keinen Respekt vor den Älteren haben, in Kommunen leben wollen, die bürgerliche Doppelmoral anprangern, erklären, den kapitalistischen Staat abzulehnen und endlose Stunden im Plenum diskutieren, sind offensichtlich nicht eingehegt und diskreditiert.
Krämer-Badoni suchte nach einer Einschätzung dieser tatsächlich unvorhergesehenen Erschütterungen. Mit etwas Abstand betrachtet gingen jene aus tieferliegenden gesellschaftlichen Verwerfungen hervor, welche die Welt des hegemonialen Diskurses üblicherweise ausblendet oder nur äusserst verzerrt wahrzunehmen gewohnt ist. Weil der Schriftsteller keine zufriedenstellende Einschätzung fand, beschloss er, selbst ein Buch über diese Thematik zu schreiben. Es sollte ein Buch werden, was trotz seiner klaren politischen Tendenz insgesamt sachlich bleibt.
Seine Kernthese lautet: Was sich heute (in der Achtundsechziger-Bewegung) abspielt, ist keineswegs etwas völlig Neues. Ganz im Gegenteil hätten wir es hierbei im Wesentlichen mit einer Wiederholung des Trauerspiels zu tun, welches sich schon seit Anbeginn der – in seiner Denkweise – weltfremden sozialistischen Bewegung abspielte und immer wieder abspielt – jener „Weltverbesserer“ und „Gesellschaftskonstrukteure“, welche die Wirklichkeit verkennen, die sich nach ihren humanistischen Idealen richten solle – was, trotz allem „antiautoritären“ Gehabe unweigerlich in Totalitarismus oder Terrorismus münden müsse.
Okay, dachte ich mir: Noch ein gehässiger alter weisser Mann, der von seinem Ledersessel aus jegliche Ansätze für gesellschaftliche Alternative zunichte macht, die Naivität der Jugend belächelt, vor roten Gefahren warnt und ansonsten über Frauen und Migranten herzieht. Ja, diese blöden Säcke sind leider sehr einflussreich. Einige mustergültige Exemplare von diesen konservativ-revoltierenden honoratorischen Deppen sind bei der „Achse des Guten“ aufgeführt. Also, so dachte ich mir, was soll bei Krämer-Badoni schon zu holen sein? Am Ende käme ich wohl wieder nur auf die lahme Gleichung „Anarchismus = Chaos + Gewalt“ – und das Ganze dann mit irgendwelchen fadenscheinigen Belegen gespickt, die wie Quellen wirken sollen, aber lediglich dem Kontext entrissene dumme „Meinungen“ darstellen. Nun ja, tatsächlich erwies sich Anarchismus: Geschichte und Gegenwart einer Utopie, dann doch als ernst zu nehmender, als ich zuvor unterstellte…
Tendenziöser könnte ein Einstieg kaum sein
Wobei der Autor sich gleich zu Beginn selbst sabotiert, indem skandalisierend mit den 1969 tagesaktuellen Morden der rassistischen und esoterischen, sogenannten „Manson Family“ einsteigt und die Brandstiftung in einem Frankfurter Kaufhaus nennt. Hinsichtlich der Bombenanschläge von Mailand und Rom denkt er ganz nach Absicht der verantwortlichen faschistischen Gruppe „Ordine Nuovo“, welche sie verübte: Selbstverständlich nimmt Krämer-Badoni an, dass die verhafteten Anarchist*innen die Täter waren, von denen Giuseppe „Pino“ Pinelli aus dem Fenster der Mailänder Polizeiwache zu Tode gestürzt wurde. Und er echauffiert sich noch über die Verachtung der Justiz durch Rainer Landhand und Fritz Teufel, Demonstrationen in Paris, lateinamerikanische Guerilla-Bewegungen, Herbert Marcuse und so weiter. Der Aufhänger ist also klar. Der altkluge Beobachter des Zeitgeschehens fragt sich: „Anarchisierende Jugend – Was geht?“
Um dieser Frage nachzugehen, beginnt er folgerichtig für einen polemischen Spiessbürger, mit einem Kapitel über anarchistischen Terror, wozu er das missglückte Attentat bei der Einweihung des Niederwalddenkmals 1883 als Ausgangspunkt nimmt. Meine Sicht auf die Dinge: Wären der deutsche Kaiser, Sachsens und Bayerns Könige, der Grossherzog von Baden und andere von der Dynamitexplosion zerrissen worden – vielleicht wäre die Demokratie in Deutschland früher eingeführt worden. Vielleicht wären später der erste und darauf folgend der zweite Weltkrieg verhindert worden. Doch das können wir nicht wissen.
Was Krämer-Badoni herausstellen will, ist, dass der massgeblich beteiligte Anarchist August Reinsdorf, kein einzelner Verwirrter, sondern voll Hass auf den Staat und mit der Utopie einer egalitären Gesellschaft erfüllt war, wie er im Bekenntnis vor seiner Hinrichtung deutlich machte. Statt dies abzutun, gälte es diese Szene gewissermassen ernstzunehmen. Zumindest die Polizei tat dies, mit der gängigen Infiltration der revolutionären Szene landauf landab. Neben einzelnen Gewalttaten an sich, regt sich der Autor insbesondere durch ihre bitterböse Rechtfertigung, etwa durch Johann Most, auf. Woher der Hass auf die Obrigkeit kommen könnte, darüber hingegen verliert er kein Wort.
Erstaunliche Sachkenntnis ansprechend aufbereitet
Nach einer grösstenteils richtigen Darstellung anarchistischer Grundgedanken, widmet sich der Autor mit einer überraschenden Sympathie dem Leben und Denken Pierre-Joseph Proudhons und auch dessen Verachtung durch Karl Marx. Hier zeigt sich klar, dass Krämer-Badoni seinen Quellen gelesen hat – weswegen sein Buch eben nicht als blödsinnige Bürgerschundliteratur abgetan werden kann. Irritierend ist darauf aufbauend jedoch der Sprung im dritten Kapitel zur chinesischen Kulturrevolution, also der Adaption des jugendlichen Bedürfnisses nach Revolte bei den Roten Garden für den „kommunistischen“ Staat Maos. Rebellisches Bedürfnis, verknüpft mit Eigeninitiative und Forderungen nach Selbstverwaltung einerseits, schliessen sich nicht mit zentralisierter Staatlichkeit und Obrigkeitshörigkeit andererseits aus, scheint der Autor aussagen zu wollen. Der Antiautoritarismus stünde daher nicht im Gegensatz zum Autoritarismus, sondern es handle sich hierbei quasi um zwei Seiten derselben Medaille.
Leider muss ich gestehen, dass dies eine These ist, welche ich viel früher und unabhängig von der Lektüre des Buches selbst vertreten habe. Zunächst aus dem Wissen um die Entwicklungen der Achtundsechziger-Bewegung, wo mir selbst unklar war, wie aus undogmatischen lustvollen Rebell*innen, in so kurzer Zeit Kaderkinder kommunistischer Sekten werden konnten. Dann aber auch aus eigener Erfahrung: Jene, die am lautesten und pöbelhaftesten nach der Abschaffung aller Autoritäten schreien, würden sich oftmals selbst gern an der Führung sehen. Trotz dieser Wahrnehmung meinerseits, kritisiere ich, dass Krämer-Badoni bei dieser Feststellung zu bleiben scheint und ebenfalls vorhandene egalitäre, horizontale Organisationsformen gar nicht in den Blick nimmt.
So sieht dann auch seine Darstellung von Michael Bakunin als „eigentlicher“ Anarchist aus. Die Verachtung des Autors für den Revolutionär ist unverhohlen und zielt in illegitimer Weise vor allem auch auf ihn als Person ab. Dennoch kann man nicht verleugnen, dass sich Krämer-Badoni mit seinem Gegenstand auseinandergesetzt hat und nicht einfach Märchen schreibt. Beispielsweise zeigt er auf, dass die marxistische Kritik des blinden „Voluntarismus“ bakunistischen Vorstellungen keineswegs gerecht wird. Sicherlich kann eine Kritik an Bakunins Person oder seinem Agieren geübt werden. Was nach der Lektüre bleibt, ist jedoch vor allem der Eindruck, es mit einem Psychopathen zu tun zu haben. Bei Bakunin.
Wiederum steht die Auseinandersetzung mit Marx und Engels und das Spannungsverhältnis zwischen Autoritären und Antiautoritären innerhalb der Ersten Internationalen und sonstigen internationalen Begegnungen im Fokus, um die vorher erwähnte These zu untermauern. Begrüssenswert ist, dass der Autor auch Bakunin selbst ausführlich zitiert, was ermöglicht, ein eigenes Urteil über den Argumentationsgang zu fällen. Zugleich haben wir es mit einem Grundproblem konservativer Denker zu tun, einzelne Figuren in das Licht zu rücken und so gut wie kein Verständnis für gesellschaftliche Entwicklungen und darauf reagierende soziale Bewegungen zu haben. (So erklärt sich beispielsweise auch Krämer-Badonis völlig abwegige Aussage im Einstiegskapitel, Cohn-Bendit hätte im Alleingang die Pariser Studentenproteste 1968 ausgelöst.)
Was innovativ sein soll, mutet eher komisch an, wenn im folgenden Kapitel der sozialistische Antagonismus „heute“ zwischen Wolfgang Harich und Daniel Cohn-Bendit ausgefochten werden soll. Die Denkbewegung wird nach vorherigem klar, hat sich jedoch an dieser Stelle schon verbraucht.
Gewagte Rückschlüsse und Sprünge bringen das zu untersuchende Durcheinander hervor
Krämer-Badoni springt anschliessend wieder zurück und betrachtet die „Linke unter sich – hundert Jahre vorher“. Dies ist dahingehend nicht unplausibel, als das die Gründung der Ersten Internationalen in London 1864 durchaus als Wegmarke genommen werden kann, um ursprüngliche Konfliktlinien aufzuspüren, die sich historisch weiter fortpflanzten. Im Wesentlichen geht es hierbei um die Auseinandersetzungen und Intrigen in diesem Zusammenschluss, die bekanntlich 1872 zum Ausschluss der Antiautoritären aus der IAA und deren eigenständiger Formierung als anarchistische Bewegung führten.
Die Erzählung wird wiederum anhand von Schriftstücken und führenden Köpfen aufgerollt, welche freilich nicht irrelevant waren. Gleichwohl lässt sich damit kein Blick für grundlegende und wichtige theoretische Streitfragen gewinnen und erweitern, seien es die Kontroversen um Zentralismus/Föderalismus, Bejahung oder Ablehnung von Staat und bürgerlichem Parlamentarismus, politische Parteien oder autonome Selbstorganisation, Klassenstruktur und revolutionäre Subjekte usw..
Mit diesen Leerstellen springt Krämer-Badoni wieder in die Gegenwart der „Jugendrevolte“ und diskutiert Konzepte der Selbstverwaltung und hierarchiefreien Organisation und die Ablehnung des Establishments, um die Kontinuität zum historischen Anarchismus aufzuzeigen. Dies beinhaltet unter anderem auch eine weitgehende Kritik und Ablehnung des Bolschewismus, dafür jedoch eine Hinwendung zu antiimperialistischen Befreiungsbewegungen (mit ihren höchst problematischen Implikationen, wie dem linken Antisemitismus).
Weiterhin schreibt Krämer-Badoni über den – aus seiner Sicht – langweiligen Anarcho-Syndikalismus, stellte jener sich doch als eine sachliche, klassenbasierte und unaufgeregte Gewerkschaftsbewegung heraus. (Hier zeigt sich wieder einmal, dass die bürgerlichen Denker*innen nicht von ihrem Gewaltfetisch lassen können. Entweder der Anarchismus ist gewalttätig – und damit abzulehnen. Oder er ist nicht gewalttätig – könne dann ja aber wohl kein richtiger Anarchismus sein.)
Dies dient ihm vor allem dazu die Frage aufzuwerfen, wie es die Anarchist*innen bei ihrem Organisationschaos und ihrer Gewaltaffinität zuvor denn überhaupt geschafft hatten, eine relevante soziale Bewegung auf die Beine zu stellen. Die Antwort leitet der Autor aus der Darstellung des Scheiterns insurrektionalistischer Erhebungen, wie auch aus der Überwindung der Fixierung auf blosse Propaganda ab.. Peter Kropotkin lieferte dann Krämer-Badonis Darstellung nach zumindest etwas Theorie, um die „ausserparlamentarische Opposition“ zu beschreiben, damit diese ihr eigenes Handeln begreifen könne.
Die Distanz der Aktiven in der Achtundsechziger-Bewegung, welche die bürgerlichen Kreise und Intellektuellen so überrasche, sei somit überhaupt nichts Neues. In ihr manifestiere sich jedoch der ungeklärte Widerspruch, entweder tatsächlich politische Opposition sein zu wollen, oder „antiparlamentarisch“ Selbstorganisation zu betreiben. Auch darin muss ich dem Autor recht geben und meine, es ist wichtig, dieses Spannungsverhältnis herauszuarbeiten – allerdings mit einer gegenteiligten Zielsetzung als das politisch etablierte Bürgertum, welches auf die Einhegung autonomer Bewegungen abzielt. Offenkundig zeigt Krämer-Badoni wiederum gewisse Sympathien für Kropotkin – was jedoch mehr überrascht -, auch für Most, die er jedoch wiederum für ihre Gewaltaffinität rügt. Auweia.
Abschliessend stellt er den Sieg des leninistischen Kommunismus über den Anarchismus in der russischen Revolution und im spanischen Bürgerkrieg dar. Dabei scheine nicht ausgemacht zu sein, dass sich der Anarchismus damit als relevantes Phänomen endgültig erledigt habe. In Kommunen würden anarchistische Vorstellungen praktiziert und erneuert werden. Absurderweise wettert der Schriftsteller auf den letzten Seiten dann darüber, dass der Sowjet-Kommunismus alle zu Staatsbeamten mache und im Grunde genommen die repressivste und monopolisierteste Form des Kapitalismus wäre. Und er wirft noch einige unbegründete Behauptungen in den Raum, wie etwa, dass sich Malatesta heute unter den Maoist*innen finden würde.
Trotz seiner ausführlichen Recherche in anarchistischen Quellen und einer skeptischen Beschäftigung mit dem Zeitgeschehen, endet er also mit einer unzulänglichen Vermischung verschiedener Stränge und vulgären Darstellung des Anarchismus. Das wirkt eigenartig, verweist aber letztendlich sinnbildlich darauf, dass Krämer-Badoni nicht in der Lage ist, über den begrenzten Horizont seines bürgerlichen Bewusstseins hinaus zu schauen – weil er es schlichtweg nicht will, weil er die Infragestellung seiner eigenen Klassenposition, sonstigen Privilegien, aber eben auch seiner politischen Position nicht zulassen will.
Der Mehrwert der spiessigen Wutbürger-Perspektive
Meine vorurteilsbehaftete Herangehensweise, musste ich also bei der Lektüre von Anarchismus: Geschichte und Gegenwart einer Utopie über Bord werfen und überdenken, da ich es mit einem Autoren zu tun hatte, der seinen Gegenstand studiert hat und zum eigenständigen Urteilen in der Lage ist. Und ja, es mag stimmen, dass er damit weit eigenständiger denkt, als mancher Professor oder manche Lehrerin, die, mitgerissen vom Tagesgeschehen, plötzlich „marxistisch“ denken oder sich für „revolutionär“ halten, weil sie mal ein bestimmtes Buch gelesen oder an einer Versammlung teilgenommen hatten, in diesen berauschenden Zeiten.
Krämer-Badonis Herangehensweise, in die Geschichte des Anarchismus zu blicken, um aufzuzeigen, dass bestimmte Diskussionen um das Verhältnis zur bestehenden Gesellschaft, revolutionäre Subjekte, den Umgang mit dem Staat etc. schon hundert Jahre früher geführt wurden, finde ich einen ernüchternden Beitrag für all jene, die sich vom Zeitgeschehen blenden lassen. Selbstverständlich ist meine Intention dabei eine andere, nämlich die Überlegung, unter welchen Umständen, anarchistische Positionen verbreitet und mit anarchistischer Herangehensweise Organisation betrieben und effektive Aktionen hervorgebracht werden können.
Schliesslich teile ich auch die erwähnte These, dass der Antiautoritarismus mehr oder weniger als die Kehrseite des Autoritarismus gelten kann. Dies kann innerhalb eines Subjektes oder einer Gruppe der Fall sein. Es kann sich jedoch auch in einer breiteren sozialistischen Bewegung widerspiegeln.
Als „autoritär“ begreife ich dabei nicht die Sozialdemokratie – welche in diesem Zusammenhang ja kaum eine Rolle spielt, wenn die Situation zugespitzt ist und sich die Lager deutlicher abzeichnen – sondern die K-Gruppen und (Führungs-)Stile innerhalb sozialer Bewegungen. Gerade darum gilt es den Anarchismus über den Antiautoritarismus hinaus zu entwickeln, das heisst, antiautoritäre Reflexe zu reflektieren und eigenständige Inhalte, Wertvorstellungen und Organisationsprinzipien zu entwickeln und zu praktizieren.
Diese ergeben sich natürlich aus den Praktiken von emanzipatorischen sozialen Bewegungen selbst, brauchen jedoch Grundlagen, welche über die tagesaktuellen Erfordernisse einer Bewegung hinausgehen. Auch wenn ich persönlich schon zahlreiche negative Beispiele gesehen habe, halte ich entgegen Krämer-Badoni, anarchistische Organisation für möglich und auch für die Voraussetzung dafür, nicht ins Autoritäre umzukippen oder sich in blosse Lebensstile aufzulösen. Eine eigenständige sozial-revolutionäre Orientierung kann dabei jedoch nur gewonnen werden, wenn auch eine Scheidung des Anarchismus vom diffusen „antiautoritären“ Linksliberalismus als auch von selbstbezüglichen „linken“ Akademiker*innen vorgenommen wird. Strategische und respektvolle Kooperationen schliesst dies ja nicht aus.
Darüber hinaus ist Anarchismus: Geschichte und Gegenwart einer Utopie auch als Zeitdokument ein Beitrag, den man sich anschauen kann, um die Achtundsechziger-Bewegung zu verstehen. Im Unterschied zu manch manipulativen Krypto-Leninisten, deren einziges Anliegen ist, den Anarchismus argumentativ zu untergraben, weiss man beim konservativen Wutbürger Krämer-Badoni wenigstens gleich, woran man ist. Ironischerweise wird sein Beitrag daher für Apologeten des Anarchismus wie mich brauchbar.
Zwischen 2004 und 2013 bestand die „Front deutscher Äpfel“ als performative Aktionsform mit dem Anspruch „Satire als angewandten Punkrock“ unter das Volk zu bringen. Im „Buch zur Bewegung“ (Max Upravitelev (Hrsg), 2014) wurden Gespräche, Aktionen und Debatten über die Verbindung von Politik und Kunst und Satire und Intervention festgehalten. Ziel der FdÄ war, neue und alte Nazis zu diskreditieren, indem Ästhetik und Sprache aus Hitler-Deutschland persifliert wurden. Sie können „gesellschaftlichen Herausforderungen konfrontativ mit Humor“ (S. 5) begegnen.
Auch wenn die Hochzeiten des organisierten „nationalen Obstbestands“ schon wieder etliche Jahre her sind, lohnt es sich, ihn in Erinnerung zu behalten. Eine Frage, welche mich in diesem Zusammenhang beschäftigt, ist, ob sie als Variante anarchistischer (Anti-)Politik zu verstehen ist. Dafür spricht ihre Selbstorganisation und ihre Distanz zur Politik, in welcher Kritik zum Ausdruck kommt, welche weit über jene an Nazis hinaus geht. Aktuell tendiere ich allerdings eher dazu, dies zu verneinen. Immerhin strebte die Apfelfront nicht an, eine Vision mitzugestalten, wie eine andere Gesellschaft aussehen könnte. Zudem ist ihr Ansatz nicht als sozial-revolutionär zu charakterisieren, sondern bleibt im Primat auf Satire dabei, den Feind zu diskreditieren – sich damit aber auch an diesem negativ zu orientieren. Gleichwohl kann der Aktionsform der Front deutscher Äpfel viel abgewonnen werden: Mit ihren performativen Inszenierungen kann sie potenziell selbstbestimmt, ermächtigend, konfrontativ und emanzipatorisch sein. Letzteres nicht zuletzt,weil mit ihr auch die eigenen psychischen Tendenzen des Autoritarismus und der Unterwerfung bearbeitet werden können.
Bevor die Genoss*innen aus Kassel die Audioaufnahme zu mei nem Vortrag veröffentlichen, hier schon mal vorab, der eingangs ausgesprochene Fluch, der als Auftakt der Veranstaltung diente. Möge er in zweihundert Jahren im Kanon der digitalen Lehrbücher stehen!
Fluch auf die Querschwurbler
ein Gedicht von Heinrich Heine
Oh ihr Querschwurbler!
Wie tief seid ihr gesunken! Wie unendlich hohl und niederträchtig ist eure Agenda! Wie bestialisch ist, was zu Tage tritt, wenn ihr euch versammelt; wenn ihr dem Wahnsinn huldigt und die Reste des gesunden Menschenverstandes verächtlich macht!
Euer Hass, der ein Selbsthass ist, eure Menschenfeindlichkeit, stinkt bis zum Himmel. Die Fantasiewelten, in die ihr euch eingerichtet habt und die ihr propagiert, zeugen von eurer Verkommenheit.
1 Annäherungen an apokalyptische Narrative im Anarchismus
Die Assoziierung apokalyptischer Narrative und Bilder mit ‚Anarchie‘ oder ‚Anarchismus‘ ist im Alltag weit verbreitet. Schließlich wird das Hobbes‘sche Paradigma eines drohenden ‚Kampfes aller gegen alle‘ in Zeiten fragiler Herrschaftsordnungen durch Regierungsvertreter*innen und konservative Intellektuelle hartnäckig reproduziert. Aus anarchischer Perspektive sind politische und ökonomische Eliten auf die Angst vor ‚Chaos‘ und ‚Terror‘ angewiesen, während die bestehende gespaltene Gesellschaftsformation selbst Solidaritäten zerstört, Konkurrenzsituationen verursacht und grundlegend auf Gewaltverhältnissen fußt. Bei der folgenden Betrachtung potenziell apokalyptischer Narrative im anarchistischen Denken ist es daher entscheidend, nicht in die Falle des Schreckgespenstes chaotischer und barbarischer Zustände zu verfallen, wie es in einer Vielzahl von Katastrophenfilmen ausgiebig inszeniert wird. Vielmehr gilt es, theoretische Überlegungen im Anarchismus kritisch darauf hin zu überprüfen, inwiefern sie apokalyptische Aspekte beinhalten und – wichtiger noch – wie mit diesen umgegangen wird.
In diesem Beitrag werde ich, ausgehend vom anarchistischen Konzept der sozialen Revolution vier verschiedene geschichtsphilosophische Stränge im Anarchismus darstellen, welche sich auf apokalyptisches Denken und Empfinden beziehen und es verarbeiten. Das Argument lautet, dass sie auf unterschiedliche Weise apokalyptische Narrationen im kollektiven Bewusstsein ansprechen, diese jedoch in Richtung ermächtigender Handlungsaufforderungen wenden. Zunächst aber dienen drei ästhetische Beispiele für eine erste Annäherung an anarchistische apokalyptische Narrative.
1) Dem anarchistischen Kontext entsprang der geflügelte Satz „Wir sind ein Bild der Zukunft“, welcher geprägt wurde, nachdem Polizisten den Jugendlichen Alexandros Grigoropoulos am 12. Dezember 2008 in Athen erschossen hatten und es daraufhin wochenlang zu massiven Ausschreitungen in Griechenland kam. Viele der weit verbreiteten „Bilder der Zukunft“ zeigten vollvermummte Straßenkämpfer*innen, die vorzugsweise hinter Gasmaske verborgen sind. Noch zu finden sind sie als Graffitis an den Wänden des nunmehr stark von Gentrifizierung und polizeilicher Repression bedrohten Athener Alternativ- und Szeneviertels Exarchia. Zahlreiche Interviews von Beteiligten in den Kämpfen um Autonomie offenbaren allerdings, welche unglaubliche Sehnsucht nach alternativer Vergesellschaftung sich hinter den bedrohlichen Masken verbirgt (vgl. A.G. Schwarz/Sagris/Void Network 2010). Es wirkt, als könnte nur die apokalyptisch inszenierte Konfrontation mit den Repräsentanten des Staates und jene Befreiungsräume eröffnen, durch welche die neue Welt geboren werden könnte.
2) Eine zynische, von anarchistischen Aktivist*innen produzierte US-amerikanische Videoreihe, die in den Jahren 2006 bis 2019 erschien, wurde mit „It‘s the end of the world as we know it and I‘ll feel fine“ benannt. Der Titel wurde vom populären Song der Band R.E.M. (1987) adaptiert und als Intro der jeweiligen Videos leicht verfremdet eingespielt (vgl. Anonym 2018a). Die unverhohlene Propaganda und kontinuierliche Delegitimierung von politischen Repräsentant*innen, sowie der zur Schau gestellte Hass auf die Polizei in der Serie, dient augenscheinlich zur Verdeutlichung der Angreifbarkeit von Herrschaftsinstitutionen sowie zur Provokation und Legitimierung widerständigen Handelns. Das Motto des bitter lachend begrüßten Weltendes beinhaltet gleichwohl die Hoffnung auf eine selbstorganisierte, horizontale und dezentrale Organisierung der Gesellschaft und eine Beendigung des alltäglichen Leidens unter der Gewalt vorgefundener Herrschaftsverhältnisse.
3) In der deutschsprachigen Rap-Szene weit verbreitet ist der Song der Berliner Rapper K.I.Z „Hurra diese Welt geht unter“, vom gleichnamigen Album (2015). Darin wird aus der Perspektive der Überlebenden und der nächsten Generation die Zufriedenheit über die Katastrophe nach einem Atomschlag besungen. Durch den Untergang der heutigen Gesellschaft wäre ein Leben in Schlichtheit, Zwangslosigkeit, mit freier Liebe und verfügbarer Zeit, wenig Arbeit, ohne Geld, Banken, Gefängnisse, Armut und politischer Herrschaft möglich geworden. Mit der Aufforderung: „Haut in Trümmern das Paradies“ wird angedeutet, dass dies nicht durch eine zwangsläufige Entwicklung geschehen könne, sondern der ersehnte radikale Neuanfang des aktiven Zutuns von Menschen bedürfe. Dieser beinhalte unter anderem die Überwindung der eigenen Konsumentenhaltung im vermeintlichen Paradies westlicher Industriestaaten. Wenngleich es zu weit geht, die Texte von K.I.Z als anarchistisch zu bezeichnen, können hier dennoch deutliche Parallelen zu anarchistischen Narrativen radikaler Transformation ausgemacht werden.
Die Beispiele verdeutlichen, dass aktuelle anarchistische Mythologie durchaus an apokalyptische Vorstellungen, Ängsten oder Sehnsüchte anknüpft. Dies ist wenig überraschend, immerhin besteht der Kern der äußerst unterschiedlichen anarchistischen Bestrebungen im Vorantreiben der sozialen Revolution, die als umfassende, radikale, mehrdimensionale und intentionale Gesellschaftstransformation zu verstehen ist.
Um adäquat erfassen zu können, inwiefern Anarchist*innen apokalyptische Narrationen ausprägen, ist es zunächst erforderlich, zwei umstrittene Rezeptionen des Anarchismus zu betrachten, welche über die Geschichtswissenschaften Eingang in die sozialwissenschaftliche Betrachtung des Phänomens fanden.
Dies betrifft zum einen Eric J. Hobsbawms Darstellung der „andalusischen Anarchisten“ als moderne chiliastische Bewegung (vgl. 1979, S. 104 ff.). Die enormen gesellschaftlichen Umwälzungen, welche mit der Etablierung des Kapitalismus und moderner Staatlichkeit einhergingen, riefen zweifellos ein spezifisches Zeit- und Lebensgefühl – beispielsweise auf der iberischen Halbinsel – hervor. Hobsbawms Erklärungsansatz, hierbei handele es sich um eine im Grunde genommen anti-moderne Bewegung, welche die Bedingungen der Moderne nicht zu begreifen imstande gewesen wäre und daher von einer eschatologischen Erlösungshoffnung getrieben sei, greift deutlich zu kurz. Dagegen wird Walter L. Bernecker (2006) der Komplexität des Gegenstandes gerecht, indem er sowohl sozial-strukturelle, wirtschaftliche, kulturelle und ideologische Aspekte der spanischen Geschichte beleuchtet, wodurch sich eine verkürzte Darstellung des Anarchismus als pseudo-religiöse soziale Bewegung als falsch erweist.
Zum anderen ist in diesem Zusammenhang Norman Cohns Das neue irdische Paradies. Revolutionärer Millenarismus und mystischer Anarchismus im mittelalterlichen Europa (1988) zu nennen. Cohn untersucht darin dissidente und häretische soziale Bewegungen (wie beispielsweise die Begharden und Beginen oder die Taboriten) auf ihren proto-anarcho-kommunistischen Gehalt und ihre apokalyptischen Vorstellungen hin. Weil die Durchsetzung der modernen Gesellschaft weder als eine Kontinuität, noch als ein klarer Bruch zur mittelalterlichen Lebens- und Gedankenwelt zu betrachten ist, hilft Cohns Studie durchaus, um die lange Geschichte apokalyptischen Denkens, seine lebensweltlichen Ausprägungen sowie kulturellen, sozialen und politischen Folgen zu verstehen. Gleichwohl ist der libertäre Sozialismus nicht als pseudo- oder postreligiöse Weltanschauung zu rahmen, sondern als grundlegend moderne soziale Bewegung anzusehen. Ihn lediglich als klischeebehaftetes Abbild zu erfassen oder als historisch abgeschlossenes Phänomen zu konservieren, wird dem Gegenstand nicht gerecht.
Im Folgenden widme ich mich verschiedenen, möglicherweise als apokalyptisch zu beschreibenden Narrativen im Anarchismus, die parallel zueinander existieren und fortgeschrieben werden. Hierbei gilt es zu bedenken, dass es spezifische sozial-strukturelle und sozial-kulturelle Faktoren und Entwicklungen sind, welche die Ausprägung bestimmter Zeitlichkeitsvorstellungen und -empfindungen bedingen. Weil der moderne Anarchismus wie der Sozialismus insgesamt als Reaktion auf die Entwicklung der krisenhaften modernen Gesellschaft gilt, kann vermutet werden, dass seine Narrationen in den aktuellen Umwälzungsprozessen wieder an Relevanz gewinnen. Weil das Wissen um Anarchismus als soziale Bewegung, Theorie und Lebensweise wenig verbreitet ist und oftmals verkürzt wiedergegeben wird, werde ich eine vorwiegend politisch-theoretische, immanente Betrachtung vornehmen, um die spezifischen Vorstellungen von Geschichte und Zeitlichkeit in ihm aufzuzeigen, welche teilweise apokalyptische Aspekte aufweisen oder sich auf solche beziehen (vgl. Loick 2017, S. 9 ff.). In diesem Zusammenhang greife ich auf Gustav Landauers (1907/1977) unkonventionelles Geschichtsverständnis zurück. In seinem Buch Revolution erläutert er, dass Geschichtsverständnisse mit den jeweiligen historisch-kontingenten sozialen und politischen Bedingungen, sowie deren spezifischer Interpretationen verknüpft sind. Landauer behauptet,
dass unser geschichtliches Verständnis viel weniger von den Zufällen der äußeren Überlieferung und Erhaltung abhängt als von unserem Interesse. Wir wissen von der Vergangenheit nur unsere Vergangenheit; wir verstehen von dem Gewesenen nur, was uns heute etwas angeht; wir verstehen das Gewesene nur so, wie wir sind; wir verstehen es als unseren Weg. Anders ausgedrückt heißt das, dass die Vergangenheit nicht etwas Fertiges ist, sondern etwas Werdendes. Es gibt für uns nur Weg; nur Zukunft; auch die Vergangenheit ist Zukunft, die mit unserm Weiterschreiten wird, sich verändert, anders gewesen ist. (Landauer 1907/1977, S. 26)
In jüngerer Zeit hat beispielsweise Eric Selbin (2010) eine ähnliche Herangehensweise, um revolutionäre Narrationen in den Blick zu bekommen. In diesem Sinne sind bei der Frage nach apokalyptischen Narrationen im Anarchismus deren explizite und implizite Funktionen und Wirkungsweisen für emanzipatorische soziale Bewegungen zu bedenken. Deswegen wende ich mich zunächst dem anarchistischen Konzept von sozialer Revolution zu, bevor ich vier Formen anarchistischer Geschichtsverständnisse und Zeitlichkeit darstelle, welche bestimmte Handlungsstrategien intendieren.
Vorweggenommen werden soll jedoch bereits die Herangehensweise Martin Bubers. Dieser strebt an, von einer ‚apokalyptischen‘ zur ‚prophetischen‘ Eschatologie zu gelangen. Letztere überlasse Menschen die Entscheidung über ihr Handeln, während erstere von historischen Notwendigkeiten ausgehe und die Konkretisierung von Utopie ablehne. Damit wird zugleich eine Unterscheidung zwischen den tendenziell marxistischen und den libertär-sozialistischen Vorstellungen von radikaler Gesellschaftstransformation deutlich. Denn der
Punkt, an dem bei Marx die utopisierte Apokalyptik aufbricht und alle ökonomisch-wissenschaftliche Topik in reine Utopie umschlägt, ist die Wandlung aller Dinge nach der sozialen Revolution. Die Utopie der sogenannten Utopisten ist vorrevolutionär, die marxistische ist nachrevolutionär. (Buber 1950, S. 25)
2 Das anarchistische Konzept von sozialer Revolution
Das anarchistische Verständnis von sozialer Revolution kann als ein schwer konturierbarer Zwischenraum zwischen sozialer Evolution, politischer Revolution und politischer Reform begriffen werden. In ihm geht es weder darum, eine bürgerliche Regierung durch eine vermeintlich sozialistisch-revolutionäre zu ersetzen, noch um eine Diktatur des Proletariats, noch um reformerische Bestrebungen im Rahmen der bestehenden gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse und -institutionen. Ebenso wenig geht es beim anarchistischen Konzept von sozialer Revolution um die Annahme einer vollkommen eigendynamischen gesellschaftlichen (Weiter-)Entwicklung. Die frühen Anarchist*innen begriffen sich selbst in der Rolle von ‚Geburtshelfer*innen‘ für eine grundlegend neue, selbstorganisierte, egalitäre und sozialistische Gesellschaftsform, deren Anlagen immanent vorhanden seien und die prozesshaft zu erkämpfen und einzurichten seien. Hierbei ist der Gedanke von Élisée Reclus (1898/2013) von Bedeutung, dass zwischen Evolution und Revolution kein Widerspruch bestünde. Die bürgerliche und sozialdemokratische Aufforderung, auf gesellschaftliche ‚Evolution‘ zu setzen, laufe demnach darauf hinaus, den Anspruch einer grundlegenden Gesellschaftstransformation fallen zu lassen – und sei es unter dem Deckmantel radikaler Phrasen wie in der marxistischen Orthodoxie Karl Kautskys. Reclus schreibt:
It can thus be said that evolution and revolution are two successive aspects of the same phenomenon, evolution preceding revolution, and revolution preceding a new evolution, which is in turn the mother of future revolutions. […] A new phenomenon can thus come into being only through an effort that is more violent, or a force that is more powerful, than the resistance. (Reclus 1898/2013, S. 138)
Wichtig ist hierbei, dass Reclus nicht naiv die Radikalität oder Rapidität gesellschaftlicher Veränderungsprozesse per se begrüßt, sondern deren Inhalte und ethische Zielsetzungen in den Vordergrund rückt, denn Revolutionen
do not necessarily constitute progress, just as evolutions are not always directed toward justice. Everything changes; everything in nature moves as part of an eternal movement. But where there is progress, there can also be regression, and if some evolutions tend toward the growth of life, there are others that incline toward death. To stop is impossible, and it is necessary to move in one direction or another. (Reclus 1898/2013, S. 139)
In der anarchistischen Theorie wird somit nach einem Zwischenraum zwischen Aufstand und Evolution, zwischen Voluntarismus und Determinismus, gesucht, um Möglichkeiten für soziale Fortschritte auszuloten. Dieses Problem betrachtet auch Bini Adamczak, indem sie formuliert:
In der klassischen Perspektive sind die Pole miteinander vermittelt, insofern eine bewusste Revolution erst stattfinden kann, wenn sich in der alten Gesellschaft – in ‚ihrem Schoß‘ – die neue entwickelt hat (MEW 13, 9). Dies lässt sich im Sinne von Produktivkräften verstehen, welche die ‚Fesseln‘ (MEW 4, 467) der überkommenen Produktionsverhältnisse sprengen, oder im Sinne einer Klasse, die ‚zum Totengräber‘ (MEW 4, 474) der bisher herrschenden wird, oder im Sinne von Produktionsverhältnissen und Verkehrsformen, die sich parallel zu den dominanten entwickeln, um sie schließlich zu ersetzen. Nur die dritte Möglichkeit kann den verschiedenen Einwänden standhalten, die in der Geschichte des Marxismus gegen sie erhoben wurden. (Adamczak 2017, S. 89)
An dieser Stelle ist auf das Detail zu schauen. Denn es ist bezeichnend, dass Adamczak sowohl für die deterministische als auch für die voluntaristische Herangehensweise ein Zitat von Marx anführen kann, für die dritte Option der sich parallel entwickelnden neuen gesellschaftlichen Verhältnisse und Institutionen jedoch keinen Beleg bei diesem findet. Im Unterschied dazu umkreist das anarchistische Konzept von sozialer Revolution genau diese interstitielle Herangehensweise und geht entschieden von als ethisch wünschenswert erachteten parallel vorhandenen gesellschaftlichen Verhältnissen aus, die verteidigt und ausgedehnt werden können, bis sie schließlich die dominierenden Herrschaftsverhältnisse soweit untergraben haben, dass sie verdrängt werden (vgl. Critchley 2008, S. 20, S. 109, S. 132 ff.).
Die Ambivalenz, welche in einer Herangehensweise des Agierens in-gegen-und-jenseits der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse zum Ausdruck kommt, findet sich naheliegender Weise auch im sozial-revolutionären Geschichtsverständnis und Denken von Zeitlichkeit wieder. Soziale Revolution bezeichnet demnach zugleich prozesshafte und schrittweise gesellschaftliche Transformationsvorgänge als auch rapide, abrupte und erschütternde Brüche und Eruptionen. Sollen dadurch emanzipatorische Ansprüche verwirklicht werden, könnten jene jedoch nicht einfach herbeigeführt werden, sondern sind Ausdruck verschiedenster untergründiger Tätigkeiten. Daraus lässt sich die emphatische Anrufung des Handelns im sogenannten Hier-und-Jetzt als spezifischer Modus von Zeitlichkeit im Anarchismus erklären. Jeder einzelne heute und vor Ort gegangene Schritt in Richtung des sozialen Fortschritts und zur Abwehr der antiemanzipatorischen Konterrevolution ist demnach Ausgangsbasis und Voraussetzung aller weiteren sozial-revolutionären Veränderungsmöglichkeiten. Jene sind freilich von einer Vielzahl struktureller Bedingungen abhängig, wobei ein herausgebildeter und verbreiteter Veränderungswillen sowie die Ausbildung von Organisationsformen, welche den angestrebten Zielsetzungen entsprechen, als solche Bewegungen zu verstehen sind. Die Gleichzeitigkeit von prozesshaften Entwicklungen als auch von rapiden und abrupten Zusammenbrüchen und Aufbrüchen zu denken, bleibt im anarchistischen Verständnis von sozialer Revolution also auf paradoxe Weise unaufgelöst. Wenn das Anliegen der sozialen Revolution ernstgenommen wird, liegt es auf der Hand, dass bestimmte Beschreibungen von Vergangenheiten und Gegenwärtigkeiten dazu dienen, ein grundlegendes Transformationsprojekt zu ermöglichen, dessen Notwendigkeit möglicherweise anhand eines katastrophalen Zustandes beziehungsweise durch dessen abrupte Überwindung legitimiert wird.
3 Vier geschichtsphilosophische Stränge zum Umgang mit apokalyptischen Narrativen im Anarchismus
Unter diesem breiten gemeinsamen Nenner finden sich in der anarchistischen Theorie vier Stränge von Geschichtsvorstellungen und Zeitlichkeit, die auf ihren apokalyptischen Gehalt hin überprüft werden können. Sie können benannt werden als dialektische Befreiung, (r)evolutionäre Entwicklung, eschatologischer Bruch und als prozesshafte strukturelle Erneuerung. Diese Verständnisse werde ich nun nacheinander behandeln, wozu ich jeweils ein Beispiel aus dem frühen Anarchismus und ein aktuelles wähle, um ihre Kontinuität aufzuzeigen.
3.1 Materialistische dialektische Befreiung
Michael Bakunin gewann aufgrund seiner revolutionären Tätigkeiten und als Gegenspieler der Staatssozialisten in der Ersten Internationalen Arbeiterassoziation weltweit große Bekanntheit. Weniger beachtet sind seine theoretischen Schriften, was teilweise deren fragmentarischem Charakter geschuldet ist. So bezog er nicht nur wesentliche Gedanken aus den radikalen sozialistischen Kreisen, in denen er sich bewegte, sondern insbesondere aus der deutschen Philosophie von Fichte, Kant und vor allem Hegel. Von Hegel übernahm Bakunin dessen dialektisches Denken. Für seine reife Schaffensphase kann festgehalten werden, dass Bakunin ein materialistisches Geschichtsverständnis entwickelt und Geschichtsverläufe als dialektischen Prozess der Befreiung im Sinne einer Negation des Bestehenden begreift. So deutet er den Mythos der jüdisch-christlichen Schöpfungsgeschichte so:
Der Mensch hat sich befreit, er hat sich von der tierischen Natur getrennt und sich als Mensch gebildet; er begann seine Geschichte und seine eigentlich menschliche Entwicklung mit einem Akt des Ungehorsams und der Erkenntnis, das heißt mit der Empörung und dem Denken. (Bakunin 1975, S. 95 f.)
Doch insbesondere in seiner philosophischen Frühschrift Die Reaktion in Deutschland (1842/1969) argumentiert er, weshalb sich eine sozial-revolutionäre Perspektive nicht auf demokratische Vermittlungsversuche einlassen dürfe, sondern konsequent die Negation der bestehenden Gesellschaft betreiben müsse, um diese tatsächlich überwinden zu können. Er beendet den Text mit der bekannten, aber oft unverstandenen Passage:
Und die Vermittelnden mahnen wir, ihre Herzen der Wahrheit zu öffnen und sich von ihrer armseligen und blinden Weisheit, von ihrem theoretischen Hochmut und von der knechtischen Furcht zu befreien, welche ihre Seele austrocknet und ihre Bewegungen lähmt. Laßt uns also dem ewigen Geiste vertrauen, der nur deshalb zerstört und vernichtet, weil er der unergründliche und ewig schaffende Quell alles Lebens ist. – Die Lust der Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust! (Bakunin 1842/1969, S. 95f.)
Bakunin stellte fest, dass eine revolutionäre Gesellschaftsveränderung zwangsläufig auch Gewaltanwendung beinhaltet. Wesentlich interessanter als die Debatte um diese Problematik ist für den vorliegenden Zusammenhang das dahinterliegende Geschichtsverständnis des dialektischen Befreiungsprozesses, nach welchem nur durch radikales Agieren überhaupt nennenswerte Erfolge erzielt werden könnten. Demnach ist es nur folgerichtig, wenn er sich rhetorisch aufgeladen in diesem Text selbst als „Apokalyptiker“ bezeichnet (vgl. ebd., S. 87). Nach dieser Logik lehnt er es tatsächlich auch ab,
das Paradiesgebäude des zukünftigen Lebens aufzurichten, von dem wir nur eine nebelhafte Vorstellung haben können […]. Für Leute der bereits begonnenen praktischen Revolutionssache halten wir jegliche Betrachtungen über diese nebelhafte Zukunft für verbrecherisch, da sie nur der Sache der Zerstörung als solcher hinderlich sind. (Bakunin zitiert nach Adamczak 2017, S. 46)
Ungeachtet dessen entwickelte Bakunin als Theoretiker des kollektivistischen Wirtschaftsmodells letztendlich dennoch auch konstruktive Überlegungen.
Fortgesetzt wird das materialistische Denken von Geschichte als dialektischer Befreiungsprozess von John Clark in seinem Buch The Impossible Community. Realizing Communitarian Anarchism (2013). Darin verteidigt er dialektisches Denken als epistemologisches Werkzeug für den Anarchismus.
Radical dialectic sees the world (including the social world, the natural world, and the world of ideas) as the site of constant change and transformation that takes place through processes of mutual interaction, negation, and contradiction. It asserts that a dynamic, self-transforming reality is always a step, or several steps, ahead of our processes of conceptualization. Things are in a state of becoming and therefore always are not what they are, and always are what they are not. Negation is determination. Things are what they are not in the sense that to which they are related is internal to their being. (Clark 2013, S. 21)
In den folgenden Beiträgen des Bandes durchdenkt Clark mit seiner dialektischen Herangehensweise unter anderem ein drittes Freiheitskonzept im Sinne der Freiheit in Gemeinschaft (vgl. ebd., S. 53 ff.) und umkreist damit implizit – aber keineswegs zufällig – wiederum ein Thema, welches schon Bakunin behandelte (vgl. Bakunin 1871/1969). Weiterhin widmet sich Clark (2013, S. 127 ff.) der Dialektik von Utopie als Ort des Nicht-Orts, wie auch der Vermittlung persönlicher Veränderung und sozialer Aktivität in anarchistischen Praktiken (ebd., S. 169 ff.). Auf einer theoretischen Ebene kann daher festgehalten werden, dass er ein dialektisches Geschichtsverständnis für den Anarchismus erneuert.
3.2 (R)evolutionäres soziales Fortschreiten
Peter Kropotkins Geschichtsverständnis kann am ehesten als Antagonismus zwischen Freiheit und Herrschaft, zwischen egalitären/horizontalen und hierarchischen/staatlichen Gesellschaftsordnungen verstanden werden. In einer Schrift Diehistorische Rolle des Staates ist Folgendes pointiert zu lesen: durch
die gesamte Geschichte unserer Kultur ziehen sich zwei Traditionen, zwei entgegengesetzte Strömungen: die römische Tradition und die volkstümliche, die kaiserliche Tradition und die eidgenössische, die autoritäre Tradition und die freiheitliche. Und heute, am Vorabend der sozialen Revolution, treffen diese zwei Traditionen von neuem aufeinander. (Kropotkin 1896/2008, S. 68)
Tendenzen zu anarchistischen und kommunistischen gesellschaftlichen Verhältnissen wären demnach seit Jahrtausenden parallel zu den Dominanten der politischen und ökonomischen Herrschaft zu finden. Statt der Konkurrenz der Individuen im Kapitalismus entstünden gleichzeitig
unter tausend verschiedenen Gesichtspunkten neue, auf dasselbe Prinzip: Jedem nach seinen Bedürfnissen gegründete Organisationen; denn ohne eine gewisse Dosis Kommunismus vermögen die gegenwärtigen Gesellschaften nicht zu leben. Trotz der durch die Warenproduktion evozierten beschränkten egoistischen Geistesverfassung offenbart sich die kommunistische Tendenz in jedem Moment und dringt in allen möglichen Gestalten in unsere Verhältnisse ein. (Kropotkin 1973, S. 97, kursiv im Original)
Kropotkin geht also von einem grundlegenden Antagonismus zwischen einerseits solidarischen, egalitären, freiheitlichen, sowie auf Konkurrenz basierten, hierarchischen, autoritären Vergesellschaftungsformen andererseits aus. Dies führt ihn jedoch nicht zu einer im engeren Sinne apokalyptischen Logik einer unvermeidlichen Zuspitzung, sondern zum komplexen Denken von Fort- und Rückschritten, von Terraingewinnen und -verlusten. Gleichwohl bleibt Kropotkin mit seiner Vorstellung von sozialem Fortschritt, welcher den ökonomischen, kulturellen und technischen Entwicklungen folgen müsse, weitgehend dem teleologischen Fortschrittsdenken der Aufklärung verhaftet.
Zwischen 1879 und 1882 schrieb er eine Artikelreihe, die als Worte eines Rebellen publiziert wurden. Darin begründet er, warum eine große soziale Revolution bevorstünde (vgl. Kropotkin 1922, S. 18 f., S. 23 ff., S. 182 f., S. 188 f.), stellt jedoch ebenso fest, dass ihr Verlauf sehr stark vom Bewusstseinsstand und Organisationsgrad der unterdrückten und ausgebeuteten Klassen abhängig wäre (vgl. ebd., S. 35 ff., S. 210 ff.), dessen Mangel nicht durch einen autoritären Parteikommunismus kompensiert werden könne (vgl. ebd., S. 171 ff.). Schon im Vorwort zur italienischen Ausgabe von 1904 reflektiert Kropotkin über das Ausbleiben des von ihm vorhergesagten großen Umbruchs und erklärt es mit den massiven Repressionswellen nach der Zerschlagung der Pariser Kommune, mit dem Ausbau des Imperialismus, welcher eine Anhebung des durchschnittlichen Lebensstandards ermöglichte, der Einhegung und Entradikalisierung der Arbeiter*innenbewegung, sowie den gegenrevolutionären Anstrengungen der Kirchen (vgl. ebd., S. 1 ff.). Das Zusammendenken von gesellschaftlicher Evolution und sozialer Revolution führt ihn also keineswegs zu einer eschatologischen Endzeiterwartung, sondern zu einer differenzierten Suche nach den Handlungsmöglichkeiten eines libertär-sozialistischen Projektes.
Dieses Geschichts- und Zeitverständnis lässt sich auch bei David Graeber nachzeichnen. In seinem Buch Debt ist die Passage zu lesen:
For thousands of years, the struggle between rich and poor has largely taken the form of conflicts between creditors and debtors-of arguments about the rights and wrongs of interest payments, debt peonage, amnesty, repossession, restitution, the sequestering of sheep, the seizing of vineyards, and the selling of debtors‘ children into slavery. By the same token, for the last five thousand years, with remarkable regularity, popular insurrections have begun the same way: with the ritual destruction of the debt records-tablets, papyri, ledgers, whatever form they might have taken in any particular time and place. (Graeber 2011, S. 8)
Ganz wie bei Kropotkin kann diese geschichtsphilosophische Perspektive als dualistisch, nicht jedoch als manichäisch bezeichnet werden. Zwar wird von einem grundlegenden Antagonismus zwischen Regierung und Selbstbestimmung (vgl. CrimethInc 2018) ausgegangen, dieser jedoch nicht in einer vereinfachten schwarz-weiß-Unterscheidung zugespitzt, sondern in seiner Verwobenheit und im Prozess gesehen. In einem Essay wird deutlich, dass Graeber (2012) den Verlauf historischer Entwicklungen als offen und vom Handeln verschiedener Akteure abhängig erachtet, wobei er Bezug auf emanzipatorische soziale Bewegungen nimmt. Die Beschäftigung mit sozial-revolutionären Transformationsmöglichkeiten unter den Bedingungen der gegenwärtigen Situation heraus sei demnach selbst ein Bestandteil, sie zu verwirklichen. In post-situationistischer Manier betont er damit die Rolle der Vorstellungskraft, also letztendlich auch von Narrationen, sowohl im zeitdiagnostischen Sinne einer Gegenwartsanalyse, als auch im prognostischen, dem Aufzeigen von Veränderungsmöglichkeiten. Es erscheine ihm,
that at the current historical juncture, some such reflection wouldn’t be a bad idea. We are at a moment, after all, when received definitions have been thrown into disarray. It is quite possible that we are heading for a revolutionary moment, or perhaps a series of them, but we no longer have any clear idea of what that might even mean. This essay then is the product of a sustained effort to try to rethink terms like realism, imagination, alienation, bureaucracy, and revolution itself. (Graeber 2012, S. 41)
Eine Umkehrung ‚klassischer‘ Revolutionsvorstellungen bestünde darin, sich im Hier und Jetzt sozial-revolutionär auszurichten und im Modus direkter Aktionen zu agieren, anstatt ihre Forderungen lediglich auf die Zukunft zu verschieben und zu projizieren (vgl. ebd., S. 42 f., S. 57 ff.). Um Revolution neu denkbar zu machen, plädiert Graeber auch dafür, links-emanzipatorische Geschichte nicht fortwährend negativ, als Verlust, Niederlage oder Scheitern zu begreifen, sondern Konzepte des Siegens zu entwickeln, die er beispielsweise in der Geschichte feministischer Bewegungen sieht (vgl. Graeber 2011, S. 11 ff.; vgl. Adamczak 2017, S. 97). In seinem Essay Fragments of an anarchist Anthropology fokussiert sich Graeber (2004, S. 33) auf die „stillen“ Revolutionsprozesse der alltäglichen Ablehnung von Macht, Verweigerung von Zustimmung und Unterstützung. Wiederum betont er die Rolle des politischen Träumens, der Imagination – das heißt im Grunde auch: des Alltagsverstands mit seinen utopischen Potenzialen –, damit soziale Bewegungen Einfluss auf Revolutionsprozesse erlangen können (vgl. ebd., S. 44). Anstatt in Kategorien des Regierungssturzes zu denken, könne Revolution auch bedeuten, autonome Gemeinschaften zu schaffen beziehungsweise diese zu fördern und auszubauen (vgl. ebd., S. 45), wobei es über den Horizont der westlichen Welt hinauszuschauen gälte (vgl. ebd., S. 54).
3.3 Mythologisierter eschatologischer Bruch
Während Kropotkins und Graebers anarchistisch-kommunistisches Verständnis von Geschichte und Zeitlichkeit nicht als apokalyptisch bezeichnet werden können, trifft dies auf Georges Sorels Verständnis von Geschichte als mythologisiertem Klassenkampf grundlegend zu, welches er in seinem Werk Über die Gewalt entfaltet.1
Analog zu den avantgardistischen Surrealist*innen seiner Zeit führte Sorel die Dimension des Imaginären in das politische Denken ein, indem er die Taktik des Generalstreiks bewusst mythologisiert (vgl. Sorel 1908/1969, S. 174). Sorel schreibt, wir könnten
nicht handeln, ohne aus der Gegenwart herauszutreten, ohne über jene Zukunft vernunftgemäß nachzudenken, die doch für immer verdammt erscheint, sich unserer Vernunft zu entziehen. Die Erfahrung beweist uns, daß Konstruktionen einer in ihrem Verlauf unbestimmten Zukunft eine große Wirksamkeit besitzen und nur geringe Unzuträglichkeit mit sich bringen können, sofern sie von einer bestimmten Art sind. […] Es kommt also äußerst wenig darauf an, zu wissen, was die Mythen an Einzelheiten enthalten, die bestimmt sind, wirklich auf der Ebene der Zukunftsgeschichte zu erscheinen […]. Man muß die Mythen als Mittel einer Wirkung auf die Gegenwart beurteilen; jede Auseinandersetzung über die Art und Weise, wie man sie inhaltlich auf den Verlauf der Geschichte anzuwenden vermöchte, ist ohne Sinn. Die Ganzheit des Mythos ist allein von Bedeutung; seine Teile bieten nur insofern Interesse, als sie die in dem Gefüge enthaltene Idee hervortreten lassen. (Sorel 1908/1968, S. 143)
Die im Anarcho-Syndikalismus angelegte und forcierte Analyse der strukturellen Spaltung zwischen Arbeiter*innenklasse und Kapitalist*innen essenzialisiert Sorel zu einem „Klassenkrieg“ oder „sozialen Krieg“ (vgl. ebd., S. 63, S. 83). Den Generalstreik begreift er als die ultimative Endschlacht der antagonistischen Klassen (vgl. ebd., S. 134, S. 152 ff.), an welcher die alltäglichen sozialen Kämpfe zu orientieren seien. Man müsse „den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus als eine Katastrophe auffassen, deren Prozeß sich der Beschreibung entzieht“ (ebd., S. 173). Entgegen der Verwässerung inhaltlicher Positionen, der Verweichlichung des militanten Kampfeswillens, der Saturierung durch Lohnerhöhungen und Preisnachlasse, der Einhegung der autonomen Arbeiter*innenbewegung durch sozialistische und bürgerliche Parteien, den Parlamentarismus und vermittelnde staatliche Sozialpolitik zielt Sorel auf eine unbedingte Spaltung der Fronten ab, die ihm als Voraussetzung für die eschatologisch überhöhte Endschlacht gilt (vgl. ebd., S. 60 ff.). Der Mythos des Generalstreiks als spezifische „Ordnung von Bildern“ (ebd., S. 145) dient somit als voluntaristische Anrufung, um sozial-revolutionäre Gewerkschaftsaktivist*innen zu motivieren, die klaren Frontverläufe wiederzugewinnen, welche sie historisch vor 10 bis 30 Jahren vermeintlich – tatsächlich allerdings niemals in Reinform – gegenübergestanden hätten. Damit zeigt Sorel eine dritte Perspektive gegen den sozialdemokratischen Reformismus und die marxistische Orthodoxie im Revisionismus-Streit auf (vgl. ebd., S. 60, S. 163, S. 199, S. 259). Eine Gewaltanwendung militanter Arbeiter*innen sei gerechtfertigt und als reinigende Praxis erforderlich, um die Lager zu polarisieren und zu trennen, um der strukturellen Gewalt der ökonomischen und politischen Herrschaftsverhältnisse zu begegnen und um sie letztendlich zu überwinden. Die proletarische Gewalt wäre in jedem Fall deutlich milder als die systematische Gewaltausübung des Staates (vgl. ebd., S. 28, S. 129 ff., S. 208 ff.). Dagegen sei die Tabuisierung von Gewalt ein Ergebnis bürgerlichen Denkens, welches auch Sozialist*innen übernommen hätten, um die strukturellen Gewaltverhältnisse zu verschleiern (vgl. ebd., S. 124 ff.). Demgegenüber betreibt Sorel eine Heroisierung von Gewalt, setzt sie somit zum Selbstzweck (vgl. ebd., S. 106 f.; S. 280 ff.) und fetischisiert den Kampf (ebd., S. 154 f.). Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass Sorel sich klar von blanquistischen Aufstandstheorien abgrenzt (vgl. ebd., S. 198 ff.). Weiterhin wendet er sich gegen utopische Entwürfe und aufklärerische Erziehungsmodelle, die er als humanistisch und zahnlos verwirft (vgl. ebd., S. 93 f., S. 116, S. 158 f., S. 188, S. 266.). Sorels Denkweise als apokalyptisch zu beschreiben ist schließlich auch deswegen plausibel, weil die sozialistische Revolution für ihn den letzten Ausweg darstellt, um die Zivilisation zu retten (vgl. ebd., S. 101 ff., S. 195 ff., S. 300 ff.) und die Moral zu erneuern, die im dekadenten Bürgertum niedergegangen wäre (vgl. ebd., S. 272 ff.).
Allgemein ist festzustellen, dass der dezidiert apokalyptische Strang des eschatologischen Bruchs in der anarchistischen Szene und Literatur im Vergleich zu den anderen geschichtsphilosophischen Narrativen deutlich unterrepräsentiert ist und somit eher einen Sonderfall darstellt. Gleichwohl greift ihn eine US-amerikanische anarchistische Gruppe jüngst in der Flugschrift Inhabit. Instructions for Autonomy (o. J.) wieder auf und treibt die Logik der Zuspitzung als apokalyptische Narration voran. Von der Mythologisierung des Klassenkampfes kann hierbei nicht die Rede sein, wohl aber von jener des Aktivismus. Die Angesprochenen sollen demnach einen unumkehrbaren Bruch mit der bestehenden Herrschaftsordnung vollziehen, sich organisieren, Knotenpunkte („hubs“) gründen, eine geteilte Zukunftsvision entwickeln, Autonomie aufbauen und unregierbar werden. Dennoch wird in der Schrift Apokalypse als ein bereits vorschreitender Prozess und nicht als zukünftiges Katastrophenereignis begriffen. Weiterhin sei sie von Menschen verursacht und kein unvermeidliches Naturereignis. Ohnehin wird in Inhabit nicht nach einem fiktiven naturalisierten Zustand als utopischer Bezugspunkt gesucht, wie etwa von den sogenannten Anarcho-Primitivist*innen. Vielmehr wird die Vision einer nicht-entfremdeten Hybridisierung von technischen und organischen Artefakten entfaltet, welche durch das sogenannte Hacken der herrschaftsförmigen Infrastruktur gelingen würde. Mit diesen Aspekten gewinnt die apokalyptische Erzählung keinen außerweltlichen, sondern immanenten Charakter und soll zum eigenständigen Handeln motivieren, weil eine positive – in gewisser Weise versöhnte – Zukunft möglich wäre. Im fulminanten Schlusswort heißt es:
There is no future emergency for which we must prepare. We are already here – with every dystopian element, every means of revolution. The horrific consequences of our time and its beautiful potential are unfolding everywhere. We are resisting the end of the world by proliferating new worlds. We are becoming ungovernable – unbeholden to their merciless law, their crumbling infrastructure, their vile economy, and their spiritually broken culture. We violently stake a claim in happiness – that life resides in our material power, in our refusal to be managed, in our ability to inhabit the earth, in our care for each other, and in our encounters with all forms of life that share these ethical truths. (Anonym 2018b)
3.4 Prozesshafte strukturelle Erneuerung
Der in Anschluss an Sorel dargestellte apokalyptische Strang im Anarchismus wird in Frage gestellt durch die Narration eines vielfältigen Prozesses der strukturellen Erneuerung ohne bestimmbaren Anfang und ohne benennbares Ziel. In dieser Linie ist die eingangs erwähnte theoretische Figur Bubers zu verorten, mit der jener von der apokalyptischen zur prophetischen Eschatologie gelangen möchte. Das Verständnis von einer prozesshaften strukturellen Erneuerung kann maßgeblich von Gustav Landauer (1900) ausgehend betrachtet werden. Da die prophetische Eschatologie vom Willen einzelner Menschen ausgeht und diesen zum Ausgangspunkt nimmt, müsse es darum gehen, die Veränderungswilligen zu versammeln und intentionale Gemeinschaften, soziale Bewegungen oder sub-kulturelle Szenen mit ihnen zu gründen. Dazu wäre nach Landauer eine andere Weltwahrnehmung und ein mystisch anmutendes Lebensgefühl der kosmischen Verbundenheit wiederzugewinnen, die eine sinnliche Erfahrung darstellt und den modernen Individualismus überwindet. Durch das Experimentieren mit alternativen Produktions- und Lebensformen könnten demnach Potenziale entfaltet werden, um die gesamte Gesellschaftsstruktur zu erneuern, ohne dass dahinter ein zentraler Plan oder zwangsläufig eine ausgearbeitete Strategie stünden. Diese Herangehensweise ist eng mit Landauers Utopiebegriff verbunden. In der Schrift Revolution schreibt er, als Revolution werde
die Zeitspanne [genannt], während derer die alte Topie nicht mehr, die neue noch nicht feststeht. Revolution ist also der Weg von der einen Topie zur andern, von einer relativen Stabilität über Chaos und Aufruhr, Individualismus zu einer andern relativen Stabilität. […] Die neue Topie tritt ins Leben zur Rettung der Utopie, bedeutet aber ihren Untergang. (Landauer 1907/1977, S. 14 f.)
In jeder historischen Phase gäbe es demnach verschiedene utopische Narrationen und Gefühle, die sich untergründig durch die Geschichte hindurch fortpflanzten und sich in revolutionären Situationen enorm verdichteten, wodurch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wie auch das kollektive Bewusstsein einige grundlegende Verschiebungen erfahren würden. Darin besteht eine deutliche Parallele zu Reclus‘ Figur des Ineinanderfallens von Evolution und Revolution, die Landauer durch sein Verständnis eines gemeinschaftsstiftenden kollektiven ‚Geistes‘ ergänzt. Dieser wäre die spirituelle, affektive beziehungsweise psychische Kraft, mit welcher eine komplexe, dezentrale und pluralistische Gesellschaft integriert werden könnte, ohne dass es einen erzwingenden Staat bräuchte und ohne auf die künstliche Pseudo-Gemeinschaft der Nation zu rekurrieren (vgl. Landauer 1911). Sozialismus sei demnach nicht vorrangig als eine gesamtgesellschaftliche Produktionsweise und Eigentumsordnung zu verstehen, die den Kapitalismus zur Voraussetzung hätte, sondern als egalitäre, solidarische und freiheitliche Beziehungsweise, welche parallel zu den bestehenden Herrschaftsverhältnissen bestünde und ausgebaut werden könne.
In jüngerer Zeit kann beispielsweise Rolf Cantzens Buch Weniger Staat – mehr Gesellschaft (1987) dem Strang eines anarchistischen Geschichts- und Zeitverständnisses zugerechnet werden, welches diese als vielfältigen Prozess der strukturellen Erneuerung begreift. Cantzens Postulat
‚Weniger Staat – Mehr Gesellschaft‘ zielt […], neben einer Entstaatlichung im Sinne eines Zurückdrängens staatlicher Einflußnahmen auch auf die Vergesellschaftung herrschaftlicher Strukturen durch den sukzessiven Ausbau der Selbstverwaltung und Selbstbestimmung, durch Dezentralisierung zentralisierter Strukturen sowie durch die föderalistische Organisation der politisch autonomen Einheiten. (Cantzen 1987, S. 96)
Autor*innen wie Eva von Redecker (2018) greifen diese oft verborgene Denktradition erneut auf und verdeutlichen somit, dass sie nie ganz verschwunden ist. Für Cantzen intendiert der
aus anarchistischen Theorien zu rekonstruierende Gesellschaftsbegriff […] neben der Kritik an der Vorstellung des Sozialismus als staatliche Organisationsaufgabe auch eine Kritik am Glauben, daß eine Revolution, die nur entschieden genug mit der Vergangenheit bricht, notwendig ein neues sozialistisches und anarchistisches Zeitalter einleiten wird. Die Ablehnung von revolutionären Totalumstürzen ist verbunden mit der Alternative, entweder unter Beibehaltung des Zieles ‚Revolution‘ die neue Gesellschaft in der alten vorzubereiten oder, unter Ablehnung des Konzepts einer einmaligen revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft, sukzessive die alte Gesellschaft in die angestrebte neue zu transformieren. (Cantzen 1987, S. 231)
4 Fazit und Ausblick
aus anarchistischen Theorien zu rekonstruierende Gesellschaftsbegriff […] neben der Kritik an der Vorstellung des Sozialismus als staatliche Organisationsaufgabe auch eine Kritik am Glauben, daß eine Revolution, die nur entschieden genug mit der Vergangenheit bricht, notwendig ein neues sozialistisches und anarchistisches Zeitalter einleiten wird. Die Ablehnung von revolutionären Totalumstürzen ist verbunden mit der Alternative, entweder unter Beibehaltung des Zieles ‚Revolution‘ die neue Gesellschaft in der alten vorzubereiten oder, unter Ablehnung des Konzepts einer einmaligen revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft, sukzessive die alte Gesellschaft in die angestrebte neue zu transformieren. (Cantzen 1987, S. 231)aus anarchistischen Theorien zu rekonstruierende Gesellschaftsbegriff […] neben der Kritik an der Vorstellung des Sozialismus als staatliche Organisationsaufgabe auch eine Kritik am Glauben, daß eine Revolution, die nur entschieden genug mit der Vergangenheit bricht, notwendig ein neues sozialistisches und anarchistisches Zeitalter einleiten wird. Die Ablehnung von revolutionären Totalumstürzen ist verbunden mit der Alternative, entweder unter Beibehaltung des Zieles ‚Revolution‘ die neue Gesellschaft in der alten vorzubereiten oder, unter Ablehnung des Konzepts einer einmaligen revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft, sukzessive die alte Gesellschaft in die angestrebte neue zu transformieren. (Cantzen 1987, S. 231)Aus der Darstellung von vier unterschiedlichen Verständnissen von Zeitlichkeit und Geschichte im anarchistischen Denken geht hervor, dass es unmöglich – und auch gar nicht erstrebenswert – ist, diese auf einen einheitlichen Nenner zu bringen. Gleichwohl finden sie eine Gemeinsamkeit in der Bezugnahme auf eine spezifisch anarchistische Konzeption von sozialer Revolution, was verschiedene Implikationen mit sich bringt. Thematiken wie die kontinuierliche Vermittlung von Zielen und Mitteln, die Herstellung von Kohärenz zwischen aus historischen Erfahrungen in sozialen Bewegungen gewonnenen ethischen Werten, organisatorischen Prinzipien und theoretischen Grundsätzen, wie auch die Anwendung direkter Aktionen, ergeben sich als Folgen dieser Denkweise. Für Letztere wird in jüngeren Debatten der Begriff der präfigurativen Politik verwendet, mit welcher eine mögliche und erstrebenswerte Zukunft vorweggenommen werden soll (vgl. u.a. Kuhn 2016, Marcks 2018).
Aufgezeigt wurde, dass die vier unterschiedlichen anarchistischen Geschichts- und Zeitverständnisse auch aktuell fortgeschrieben werden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie praktisch in Reinform vorkämen, sondern vielmehr, dass sie zumeist miteinander vermischt auftreten. Damit wird ein eindeutiger Nachweis explizit apokalyptischer Narrative im anarchistischen Denken nahezu unmöglich. Festgehalten werden kann jedoch, dass der überwiegende Teil anarchistischer Schriften sich gelegentlich auf apokalyptische Aspekte in gesellschaftlichen Diskursen und auf apokalyptische Vorstellungen im kollektiven Bewusstsein bezieht. Gleichwohl wird in ihnen eine Umwendung von Ohnmachtserfahrungen zur Eröffnung von ermächtigenden Handlungsoptionen beschrieben, mit welchen die Ursachen der gefühlten apokalyptischen Katastrophe abgebaut und beseitigt werden sollen. Daraus ist konsequenterweise zu schließen, dass anarchistische Narrationen fast ausschließlich als nicht-apokalyptisch, sondern beispielsweise als prophetisch zu bezeichnen sind. Eine Sonderstellung nimmt hierbei der Strang des eschatologischen Bruchs ein, dessen Logik der Zuspitzung durchaus ein apokalyptisches Szenario bedient. Doch auch hier zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass der irrationale Mythos bewusst konstruiert wird, also nicht von der Apokalypse unumgänglich als Tatsache ausgegangen wird.
Auch das Buch Recipes for Disaster. An anarchist cookbook des anarchistischen Netzwerkes CrimethInc (2004) erweckt zunächst den Anschein, eine Anleitung für ein individuelles Aussteigen im Katastrophenfall zu sein, womit es an verbreitete apokalyptische Narrationen und Lebensgefühle anknüpft. Dahinter verbirgt sich jedoch wiederum eine Handlungsmotivation für die radikale und unmittelbare Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse im Hier und Jetzt. Dieses spezifische Denken wird von Michael Löwy (1997) auch als „messianisch“ thematisiert und beschreiben. In Zeiten einer sich massiv zuspitzenden multiplen Krise, mündet dies in die Debatte eines Disaster Anarchism (vgl. Clark 2013, S. 197-215). In diesem Sinne schreibt etwa Rebecca Solnit, Katastrophen seien zwar
grundsätzlich schrecklich, tragisch und schmerzlich, und welche positiven Nebeneffekte und Möglichkeiten auch immer sie mit sich bringen, wünschenswert sind Katastrophen niemals. Andererseits sollten ihre Nebeneffekte aber auch nicht ignoriert werden, nur weil sie sich inmitten des Desasters einstellen. (Solnit 2012, S. 64)
Sie gewinnt katastrophalen Zusammenbrüchen also durchaus positive Aspekte ab, ohne deswegen zynisch zu werden. Denn die Katastrophe enthüllt, wie
anders die Welt sein könnte – enthüllt die Stärke dieser Hoffnungen, dieses Großmuts und dieser Solidarität. Sie enthüllt gegenseitige Hilfe als ein vorhandenes Organisationsprinzip und die Zivilgesellschaft als etwas, das hinter den Kulissen auf seinen Auftritt wartet. Auf dieser Grundlage lässt sich eine Welt bauen, und wenn das geschähe, würden die Trennungen beseitigt werden, die das tägliche Elend produzieren, die Armut, die Einsamkeit und in Krisenzeiten die mörderische Angst und den Opportunismus. (ebd., S. 79)
Uri Gordon pflichtet dieser Vorstellung bei, indem er schreibt, das
Menetekel stand seit Jahrzehnten an der Wand geschrieben. Es musste ein ungeheures Ausmaß an Ignoranz, Arroganz und Verleugnung zusammenkommen, um diese vollkommen begründete und rationale Prognose als irrationales Gegeifer von Untergangsspinnern abzutun. Aber jetzt, da uns die Wirklichkeit immer brutaler einholt, wird das Muster endlich für alle sichtbar. Wir können unsere Augen nicht länger davor verschließen: Die industrielle Zivilisation geht ihrem Ende entgegen. (Gordon 2012, S. 199)
Die interessante Frage sei nun, ob sich die Gesellschaft in Richtung eines Graswurzelkommunismus, eines Ökoautoritarismus oder zum andauernden Bürgerkrieg hin entwickeln würde (vgl. ebd., S. 203 ff.). Dieser Ansatz wird im Übrigen auch in einem ökoanarchistischen und zivilisationskritischen Text unter dem bezeichnenden Titel Introduction to the Apocalypse (Anonymous 2009) vertreten. Darin heißt es im Hinblick auf den Klimawandel:
Today, catastrophic climate change is the image of the apocalypse. Nothing has escaped the touch of humanity, from the deepest oceans to the atmosphere itself. There is little doubt that carbon emissions caused by human activity may bring about the end of the world as we know it. It’s just a matter of listening to the ticking of the doomsday clock as it counts down to a climactic apocalypse. Never before in recorded history has the question of the earth’s survival been so starkly posed, and never before has such news been greeted with such indifference (Anonymous 2009).
Schlussendlich empfiehlt Gordon direkte Aktionen für den Aufbau einer neuen Gesellschaft. Diese beinhalten,
allen Versuchen zu trotzen, lokale Eigenständigkeit in ein kapitalistisches und/oder autoritäres Rahmenwerk zu pressen und – falls sie damit erfolgreich sind – selbstorganisierte Gemeinschaften zu verteidigen, wenn sie wie auch immer angegriffen oder marginalisiert werden. (Gordon 2012, S. 214)
In diesem Sinne beziehen sich Anarchist*innen auf verbreitete apokalyptische Vorstellungen und Narrationen, um Menschen in ihrem Bedürfnis nach radikaler Gesellschaftstransformation ernst zu nehmen, ihnen Wege aufzuzeigen, um die Ursachen der als katastrophal empfundenen gesellschaftlichen Zustände zu bekämpfen – und sie durch eigenmächtiges Handeln zu beheben.
5 Nachtrag zur multiplen Krise im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie
Dieser Beitrag entstand vor der Pandemie, deren politische Bearbeitung mit ihren gravierenden Folgekosten, tatsächlich eine tiefgreifende Veränderung des gesellschaftlichen Zusammenlebens bewirken. Zweifellos verändern sich dadurch auch die Bedingungen für emanzipatorische soziale Bewegungen spürbar (vgl. Mezzadra 2020). Daher deute ich hier nachträglich noch einige Gedanken an, die anarchistische Bezugnahmen auf apokalyptische Narrative betreffen.
Stärker als die linke Szene, welche den hegemonialen Krisendiskurs weitgehend akzeptierte und ihn – abgesehen von humanistischen Appellen – teilweise aktiv unterstützte, zeigten sich Anarchist*innen gespalten in Hinblick auf die Frage, ob es angesichts der Pandemie zunächst sachliche Ruhe (vgl. Nigra 2020) zu bewahren oder aktiv Kritik an der Erklärung des Ausnahmezustandes zu üben gälte (vgl. Anonym 2020, vgl. Grupo Barbaria 2020). Eine Erklärung für diese Divergenz könnte sein, dass die Anhänger*innen des zweiten Weges, sich deutlich stärker auf die apokalyptische Grundstimmung bezogen, welche im medialen Diskurs, durch Regierungserklärungen und durch Reaktionen aus der Bevölkerung erzeugt wurde, um den Ausnahmezustand erklären und rechtfertigen zu können. Untersucht werden könnte ferner, inwiefern sich die erste Fraktion eher der hier vorgeschlagenen geschichtsphilosophischen Narrationen von (r)evolutionärem sozialen Fortschreiten und prozesshafter struktureller Erneuerung bedient, während letztere sich stärker der Erzählungen von materialistischer dialektischer Befreiung und mythologisiertem eschatologischem Bruch orientiert.
Das Gefühl an einer Zeitenwende zu stehen, welche einerseits das Potenzial in sich trägt, dass Anarchie tendenziell verwirklicht werden kann, jedoch andererseits diese Hoffnung von harten autoritären Maßnahmen der Regierungen, als auch von faschistischen Bürgerkriegs- und Putschfantasien konterkariert wird, erklärt zum Teil die emotionale und rhetorische Aufladung der unentschiedenen Umbruchssituation in der Krise. Selbst in einem Strategiepapier des Innenministeriums wurde hysterisch vor der Karikatur der „Anarchie“ gewarnt (Strategiepapier 2020: 8) – freilich lediglich, um die autoritäre Krisenbearbeitungsstrategie zu legitimieren. Schließlich wird auch in diesem Papier die Krise als Chance gesehen: Sie könne auch „zukunftsweisend sein für eine neue Beziehung zwischen Gesellschaft und Staat“ (Ebd.: 17).
Dies liegt dem anarchistischen Interesse diametral entgegen (vgl. Eibisch 2020). Doch durch die Erneuerung des Primats des Politischen, von staatlicher Legitimität und Souveränität durch die Bearbeitung der mit der Pandemie einhergehenden gesellschaftlichen Herausforderungen, werden immerhin die Fronten geklärt. Die Bundesregierung strebt, mit Hilfe der Vereinnahmung des Schlagwortes „Solidarität“ (vgl. Jonathan 2020), aktiv nach der Mobilisierung und Einbindung der Zivilgesellschaft, um die Bevölkerung an sich zu binden. Völlig unabhängig davon entstanden zahlreichen Projekte der Nachbarschaftshilfe, in denen gegenseitige Hilfe praktiziert wird. Gleichzeitig entwickelte sich bei vielen ein neues Problembewusstsein dafür, dass sie wechselseitig voneinander abhängig und aufeinander angewiesen sind. Hierin liegt aus anarchistischer Perspektive die Chance auf gesellschaftliche Selbstorganisation als eine Form der sozialen Distanz zum Staat, sprich: auf Autonomie. In diesem Sinne werden apokalyptische Narrationen im anarchistischen Denken erneut in prophetische Visionen transzendiert und mit Handlungsappellen zur Restrukturierung der Gesellschaft verbunden, um Bedingungen zu erkämpfen, unter denen allen Menschen ein Leben in Selbstbestimmung, Wohlstand, Absicherung und Gesundheit ermöglicht wird.
Literatur
Adamczak, Bini (2017): Beziehungsweise Revolution. 1918, 1968 und kommende. Berlin: Suhrkamp.
A.G. Schwarz/Sagris, Tassis/Void Network (Hrsg.) (2010): Wir sind ein Bild der Zukunft – Auf der Straße schreiben wir Geschichte. Texte aus der griechischen Revolte. Hamburg: Laika-Verlag.
Anonym (2018b): „Inhabit. Instructions for Autonomy“ https://inhabit.global/ (Abfrage: 17.10.2019).
Anonym, „Fight Social Distancing. Für einen solidarischen und kämpferischen Umgang mit dem Virus“; verfügbar auf: https://barrikade.info/article/3281 (Abfrage: 30.09.2020).
Anonymer Expertenkreis, Strategiepapier des Innenministeriums „Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen“, verfügbar unter: https://fragdenstaat.de/blog/2020/04/01/strategiepapier-des-innenministeriums-corona-szenarien (Abfrage: 30.09.2020).
Anonymous (2009): “Introduction into the Apocalypse”, https://theanarchistlibrary.org/library/anonymous-introduction-to-the-apocalypse (Abfrage: 03.12.2019).
Bakunin, Michael (1842/1969): Die Reaktion in Deutschland. In: Bakunin, Michael (1969) Philosophie der Tat. Auswahl aus seinem Werk. Köln: Jakob Hegner Verlag, S. 61–96.
Bakunin, Michael (1871/1969): Der Kampf gegen die Gesellschaft. In: Rammstedt, Otthein (Hrsg.): Anarchismus. Grundtexte zur Theorie und Praxis der Gewalt. Köln und Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 44–58.
Bakunin, Michael (1882/1975): Gott und der Staat. In: Nettlau, Max (Hrsg): Michael Bakunin. Gesammelte Werke, Band 2. Berlin: Kramer-Verlag.
Bernecker, Walter L. (2006): Anarchismus und Bürgerkrieg. Zur Geschichte der sozialen Revolution in Spanien 1936-1939. Münster: Verlag Graswurzelrevolution.
Buber, Martin (1950): Pfade in Utopia. Heidelberg: Lambert Schneider Verlag.
Cantzen, Rolf (1987): Weniger Staat – mehr Gesellschaft. Freiheit – Ökologie – Anarchismus. Grafenau: Trotzdem Verlag.
Clark, John P. (2013): The Impossible Community. Realizing Communitarian Anarchism. New York und London: Bloomsbury.
CrimethInc (2004): Recipes for Disaster. An anarchist cookbook. Olympia: Selbstverlag.
CrimethInc (2018): From Democracy to Freedom. Der Unterschied zwischen Regierung und Selbstbestimmung. Münster: Unrast-Verlag.
Critchley, Simon (2008): Unendlich fordernd. Ethik der Verpflichtung, Politik des Widerstands. Zürich: diaphanes.
Cohn, Norman (1988): Das neue irdische Paradies. Revolutionärer Millenarismus und mystischer Anarchismus im mittelalterlichen Europa. Reinbek bei Hamburg: rororo.
Eibisch, Jonathan / Gai Dao, „Die soziale Distanz zum Staat – für einen effektiven und emanzipatorischen Umgang mit der Pandemie“, in: Gai Dao. Zeitschrift der Föderation deutschsprachiger Anarchist*innen, Sonderausgabe #10, „Pandemischer Ausnahmezustand“, Juli 2020; verfügbar auf: https://fda-ifa.org/gai-dao-sonderausgabe-no-10-pandemischer-ausnahmezustand (Abfrage: 30.09.2020).
Gordon, Uri (2012): Düstere Neuigkeiten? Anarchistische Politik in Zeiten des Zusammenbruchs. In: Trojanow, Ilija (Hrsg.): Anarchistische Welten. Hamburg: Nautilus, S. 199–216.
Graeber, David (2004): Fragments of an Anarchist Anthropology. Chicago: Prickley Paradigm Press.
Graeber, David (2011): Debt. The first 5000 years. New York: Melville House.
Graeber, David (2012): Revolution in Reverse. In: Graeber, David (2012): Revolution in Reverse. Essays on Politics, Violence, Art, and Imagination. London, New York und Port Watson: Autonomedia, S. 41–65.
Grupo Barbaria, „Die Pandemien des Kapitals“; verfügbar auf: https://de.indymedia.org/node/76556 (Abfrage: 30.09.2020).
Hobsbawm, Eric J. (1979): Sozialrebellen: Archaische Sozialbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert. Gießen: Focus.
Jonathan, „Was bedeuten soziale Freiheit und Solidarität in Zeiten des pandemischen Ausnahmezustandes?“; verfügbar auf: https://www.untergrund-blättle.ch/gesellschaft/coronavirus-soziale-freiheit-solidaritaet-2214.html (Abfrage: 30.09.2020).
Kropotkin, Peter (1922): Worte eines Rebellen (herausgegeben von Pierre Ramus). Wien: Erkenntnis und Befreiung.
Kropotkin, Peter (1973): Die Eroberung des Brotes und andere Schriften. München: Carl Hanser Verlag.
Kropotkin, Peter (1896/2008): Die historische Rolle des Staates. In: Kropotkin, Peter (2008): Der Staat und seine historische Rolle. Münster: Unrast-Verlag, S. 12-70.
Kuhn, Gabriel (2016): Revolution ist mehr als ein Wort. 23 Thesen zum Anarchismus; verfügbar auf: http://www.alpineanarchist.org/r_23_thesen.html (Abfrage 17.08.2020).
Landauer, Gustav (1900): Durch Absonderung zur Gemeinschaft. www.anarchismus.at/anarchistische-klassiker/gustav-landauer/6619-gustav-landauer-durch-absonderung-zur-gemeinschaft (Abfrage: 17.10.2019).
Landauer, Gustav (1911): Aufruf zum Sozialismus. www.anarchismus.at/anarchistische-klassiker/gustav-landauer/108-gustav-landauer-aufruf-zum-sozialismus (Abfrage: 17.10.2019).
Landauer, Gustav (1907/1977): Revolution. Berlin: Kramer-Verlag.
Loick, Daniel (2017): Anarchismus zur Einführung. Hamburg: Junius.
Löwy, Michael (1997): Erlösung und Utopie. Jüdischer Messianismus und libertäres Denken. Berlin: Kramer-Verlag.
Mezzadra, Sandro, „Ausnahmezustand, Ausgangssperre, Gefängnisrevolten und Streiks: Italien ist das europäische Epizentrum der Pandemie“; verfügbar auf: https://www.medico.de/eine-politik-der-kaempfe-in-zeiten-der-pandemie-17674 (Abfrage: 30.09.2020).
Nigra, Die Corona-Pandemie und wir alle. Über Aufstandsfantasien, Militanzromantik, Autoritätshörigkeit und die ganz normale Solidarität unter Menschen; verfügbar auf: https://nigra.noblogs.org/post/2020/03/22/die-corona-pandemie-und-wir-alle (Abfrage: 30.09.2020).
Reclus, Élisée (1898/2013): Evolution, Revolution, and the Anarchist Ideal. In: Clark, John/Martin, Camille (Hrsg.): Anarchy, Geography, Modernity. Selected Writings of Élisée Reclus. Oakland: PM Press, S. 138–155.
von Redecker, Eva (2018): Praxis und Revolution. Frankfurt am Main: Campus.
Selbin, Eric (2010): Gerücht und Revolution. Von der Macht des Weitererzählens. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Solnit, Rebecca (2012): Aus der Hölle ein Paradies gebaut. In: Trojanow, Ilija (Hrsg.): Anarchistische Welten. Hamburg: Nautilus, S. 63–80.
Sorel, Georges (1908/1969). Über die Gewalt. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
1 Um diesen theoretischen Strang adäquat behandeln zu können, sind vier Punkte im Vorhinein zu bemerken: Erstens, beschäftigte sich Sorel nur eine Zeit lang intensiv mit dem Anarcho-Syndikalismus und war in dieser radikalen Gewerkschaftsbewegung nicht stark verankert oder einflussreich. Zweitens, greift er wesentliche Aspekte der anarcho-syndikalistischen Theorie auf, denkt sie weiter und spitzt sie vor allem zu. Drittens, war Sorel kein Faschist, suchte jedoch zwischen 1908 und 1914 den Kontakt zu rechtsradikalen Kreisen, mit denen er anschließend wieder brach. Viertens, verachtete er den Republikanismus, den Liberalismus und die Demokratie, weswegen seine Schriften von französischen und italienischen Proto-Faschisten rezipiert wurde, förderte damit jedoch nicht die Entstehung des Faschismus.
Inzwischen kam ich dazu die ersten drei veröffentlichten Teile des Textes Skizze eines konstruktiven Sozialismus von Holger Marcks ganz zu lesen. Da er auf der Homepage der Föderation der FAU erschienen ist und es aktuell kaum andere ausführliche Beiträge aus anarcho-syndikalistischer Richtung gibt wirkt er wie ein Grundlagentext, welcher von FAU-Mitgliedern möglichst gelesen werden sollte. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang jedoch noch mindestens die Schrift von Torsten BewernitzSyndikalismus und neue Klassenpolitik. Eine Streitschrift.
übernommen von: https://www.fau.org/materialien
Leider habe ich gerade nicht die Zeit und die Muße eine ausführlichere Besprechung von Holger Marcks Text zu leisten, möchte aber dennoch ein paar Eindrücke und Kritikpunkte benennen. Doch zunächst zur Form: Der Text besteht aus den Teilen (1) Syndikalistische Transformationspolitik: Die Vermittlung zwischen Realität und Utopie, (2) Multiple Gewerkschaften als Unterbau: Erste Bausteine der Gegenmacht und (3) Grundlagen der Konstruktion: Das Gefüge transformatorischer Organisation. Im bisher noch nicht veröffentlichten vierten Teil soll es dann um programmatische Konsequenzen aus den mikropolitischen Erfahrungen und die utopische Vision gehen.
Auf indymedia wurde kürzlich ein interessanter Debattenbeitrag veröffentlicht, welcher wie den Kommentaren zu entnehmen ist, eine größere Kontroverse auslöste. Aus diesem Grund möchte ich diesen Text hier festhalten, nicht, weil ich den Stil insgesamt oder alle Inhalte teile. Was ich jedoch gutheiße, ist eine Kritik am Zero Covid–Aufrufder zurecht ein Armutszeugnis von Leuten ist, die es eigentlich besser wissen könnten. Oder möglicherweise auch nicht, insofern sie damit ihre eigene gesellschaftliche Positionierung widerspiegeln, welche Teil des Problems ist.
Die Forderung „Zero Covid“ hat ja einen wahren Kern: Es stimmt vermutlich, dass das Virus und seine Folgen zurückgedrängt werden könnten, wenn gebotene Verhaltensweisen konsequent umgesetzt werden könnten. Je mehr Menschen meinen Skifahren zu müssen, ihre Geschäfte zu öffnen, Party zu machen oder dergleichen, desto länger werden wir es mit diesem Virus zu tun haben. Das Menschen ohnehin sterben – auch an den Folgen der Herrschaftsordnung, in der wir leben – ist ebenfalls richtig. Es ist aber kein Argument dafür, die Pandemie einfach laufen zu lassen, sondern eine menschenverachtende, nihilistische Einstellung.
Das Problem ist, dass die Initiator*innen von Zero Covid sowohl die Ursachen verkennen, weswegen sich Covid19 dermaßen ausgebreitet hat und so gefährlich ist, als auch eine direkt falsche Vorstellung von der staatlichen Regulierung der Pandemie haben und mit dem Aufruf verbreiten. Mal abgesehen von Parteilinken, welche ohnehin der Meinung sind, besser regieren zu können (wobei die Herrschaft noch wo anders sitzt als allein oder vorrangig in den staatlichen Apparaten), erschreckt es zurecht, dass auch sich radikal wähnende Linke an die autoritäre Lösung glauben. Sicherlich, eine effektive Bekämpfung der Pandemie ist nicht möglich, wenn sich der Lockdown vorrangig auf das Sozialleben, Ausbildungsinstitutionen und das Einkaufen bezieht, während die Wirtschaft weiter laufen soll. Dass es sich hierbei jedoch um eine funktionale Logik des kapitalistischen Staates handelt, welcher eben nicht mit einem gut gemeinten Appell in eine andere Richtung schwenkt, ist eine Binsenweisheit, die in der gegebenen Situation wieder ihre Wahrheit erweist.