Post-Anonymität

Lesedauer: 4 Minuten

Zugegeben, so wirklich anonym war ich selten unterwegs. Und wenn, ist es nicht so wichtig und vergessen. Wenn Personen sich „radikalisieren“ entsteht bei vielen erst mal das Gefühl, etwas Verbotenes und daher Aufregendes zu tun. Mensch übt sich in der Geheimniskrämerei, wenn noch nicht gut eingeschätzt werden kann, worüber wann mit wem gesprochen werden kann oder nicht. Zum Teil ist das sinnvoll, teilweise aber nur ein Szene-Code. Sich radikalisieren – überhaupt auch eine seltsame Vorstellung, angesichts des Zustandes der Welt ins Handeln kommen und sie verändern zu wollen, ohne dabei auf die Wege und Mittel des bestehenden Systems zu setzen. Wer der Wahrheit in die Augen blickt und ihr die Stirn bieten will, gilt dann als „radikal“. Als Fremdbezeichnung ist das absurd, wenn sie lediglich deswegen vergeben wird, weil viele vor den Ursachen und Folgen der Herrschaftsordnung und ihrer eigenen Verwobenheit darin, die Augen verschließen.

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Wie auch immer: Anonym trete ich nun nicht mehr auf. Ich würde wieder anonym agieren, wenn es geboten wäre. Aber das sage ich dann nicht. Vielleicht kenne ich auch Personen, die hauptsächlich anonym ihren aufklärenden und zersetzenden Tätigkeiten nachgehen – aber darüber spreche ich nicht. Ab einem bestimmten Zeitpunkt beziehungsweise zu einem gewissen Bekanntheitsgrad wird es deutlich schwieriger anonym zu handeln. Gerade wenn man Texte schreibt, in der Öffentlichkeit spricht und kein Blatt vor den Mund nimmt. Repressionsbehörden und politische Gegner*innen wissen, dass ihnen diese Personen gefährlich werden können; solche, die ihre Überzeugungen aus tiefwurzelnder eigener Erfahrung schöpfen und besessen sind (wenngleich sich dies im Alltag kaum zeigen mag).

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Ein paar Worte an meine Widersacher*innen

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Sehr wenige Menschen interessiert, wie sich Anarchist*innen untereinander behaken. Seien wir ehrlich, wer ein paar Mal Szene-Auseinandersetzungen miterlebt hat, wird ihrer müde. Im besten Fall lächelt man sie dann weg. Manche steigern sich aber auch vollends in sie hinein und verbittern immer mehr. Schlimmer noch ist, dass vermutlich über Generationen hinweg etliche Menschen anarchistische Kreise verlassen haben, aufgrund der gehässigen Auseinandersetzungen, die dort geführt werden – ob sie davon selbst Teil sind oder nicht.

Doch ich möchte mich keineswegs pauschal gegen Konflikte aussprechen! Konflikte sind erforderlich, um stillgestellte Debatten weiter zu entwickeln, um immer wieder den Finger in die Wunde zu legen und die Frage aufzuwerfen, worum es eigentlich geht. Konflikte sind Zeichen von Lebendigkeit und oftmals geht es den Beteiligten auch tatsächlich um etwas größeres als ihr eigenes Ego mit Rechthaberei oder rhetorischen Kniffen zu pushen. Auch mit dem Ansatz der anarchistischen Synthese geht es nicht darum, eine repressive Harmonie oder distanzierte Beliebigkeit herzustellen, sondern Konflikte sinnvoll zu vermitteln. Dies setzt allerdings auch voraus, klar zu haben, worum man sich streitet – also zumindest im Ansatz die Anerkennung der anderen Positionen, welche bei einer aus welchem Grund auch immer Unbehagen auslösen.

Problematisch sind daher nicht Konflikte per se, sondern wie sie ausgetragen werden. Dies geschieht unterschiedlich, sollte aber insgesamt besser gehen, unter den wenigen Menschen, welche sich ernsthaft, konsequent und dauerhaft für anarchistische Anliegen einsetzen. Offensichtlich bin ich nicht die richtige Person, um hierbei große Reden zu schwingen. Schließlich habe ich mich in meiner Auseinandersetzung mit Framo scheiße verhalten – und tue es weiterhin. Ja, ich habe mein* Kontrahent*in bloßgestellt und Framo verschiedene Dinge unterstellt, die x gar nicht so geäußert hat.

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zu Camillo Berneri

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Camillo Berneri (* 28.5. 1897 / + 5.5.1937) war ein italienischer Anarchist, dessen Biografie im deutschsprachigen Raum leider kaum bekannt ist und der leider nicht im Zuge mit anderen bekannten Anarchist*innen genannt wird. So stieß ich auch erst recht spät auf ihn. Mich inspirierte sein Leben und Engagement.

Berneri wirkte als Organisator der italienischen anarchistischen Bewegung. Als bekannte Figur wurde er von den Faschisten verfolgt, floh unter anderem nach Frankreich, wurde aber inhaftiert und international verfolgt. Er schrieb Beiträge in transnationalen anarchistischen Zeitungen, lehrte kurzzeitig Philosophie an der Uni in Camerino, ging nach Spanien um die soziale Revolution zu unterstützen und wurde dort von den Stalinisten ermordet. Berneri war verheiratet mit der ebenso aktiven Giovanna mit der er auch zwei Kinder hatte.

Seine Texte gilt es für den deutschsprachigen Kontext auszugraben. Giovanni Stiffoni schrieb die Biografie „Mythes, racines et réalités d’un intellectuel anarchiste“ über ihn.

Trugschluss „reine Negation“ – ideologische Kritik #3

Lesedauer: 4 Minuten
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Vor einer Weile erhielt ich einen wütenden Text, welcher sich gegen mich richtete und mit welchem ich vermeintlich polemisch angegriffen wurde. Da diese Diffamierung gegen mich vermutlich ohnehin irgendwo in Textform zirkulieren wird, habe ich mich entschieden, ihr zumindest an dieser Stelle entgegenzutreten.

Weil meine Antwort leider wieder mal sehr lang ausgefallen ist, werde ich diese ungefähr wöchentlich nach und nach in sieben Teilen veröffentlichen. [#1], [#2] Meine Kritik geht dabei über den Ursprungstext Ein Psychogramm des post-bürgerlichen Individuums und seiner alter egos weit hinaus, um auf dahinter liegende Themen zu sprechen zu kommen.

Ansonsten ist mir schon klar, dass derartige Auseinandersetzungen letztendlich nur eine handvoll Personen interessieren. Die Zeit und Nerven wären bei vielen Tätigkeiten weit sinnvoller eingesetzt. Insofern sind meine Entgegnungen als unabgeschlossene Selbstreflexionen zu verstehen, nach denen ich mich wieder Wichtigerem zuwende. Auf Vorschlag meines Kontrahenten nenne ich diesen „Frankensteins Monster“, kurz „Framo“.

Die Argumentation von Framo ist nicht zielführend, weil sie die Absurdität einer Position offenbart, welche zombiehaft ist. Der Nihilismus mag eine philosophisch interessante Denkweise sein, offenbart sich in der Lebensrealität jedoch als Absurdität, die es zu hinterfragen gilt. Insofern ist er einer unter verschiedenen Ausgangspunkten für den Anarchismus – stellt zugleich aber auch sein Verfallsstadium dar.

Bakunin hatte Recht damit, wenn er in seiner hegelianischen Frühphase argumentierte, dass sich das oppositionelle („demokratische“) Lager nur in der Negation des „positiven“ („konservativen“) Lagers definieren könnte. Die Negation des Bestehenden schließt damit den Verweis auf die libertär-sozialistische Gesellschaftsform – welche es fortwährend zu anarchisieren gilt in sich ein. Gleiches zeigt sich beim Wort „Protest“. Im Protest gegen eine etwas (der Abbau von sozialen Rechten, Faschismus, Atomkraftwerken, 5G-Funkmasten usw.) wird zugleich ausgedrückt, wofür ein spezifisches Projekt steht; was es realisieren will.

Anarchist*innen gehen dabei über Demokrat*innen hinaus, weil sie sich nicht als Opposition verstehen und formieren, welche danach trachtet, an anderer Stelle und bei Gelegenheit, ihre Vorstellung um- und durchzusetzen. Vielmehr verstehen sie sich als Antagonist*innen, welche sich für grundlegend andere Verhältnisse, Formen und Inhalte engagieren.

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Demokratie zerlegt sich selbst

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Ob bei der zunehmenden Repression gegen den organisierten Antifaschismus zeigt der Reaktion der repressiven Staatsapparate gegen die Letzte Generation, wie der kapitalistische Staat seine eigenen demokratischen Legitimationsgrundlagen zerlegt. [1] Die gute Nachricht ist, dass Menschen, die Verstand und das Herz an der richtigen Stelle haben, spätestens nach der Räumung von Lützerath endlich vom Irrglauben abgerückt sind, das die Partei der Grünen den erforderlichen gesellschaftlichen Umbau durch parlamentarische Politik realisieren würden.

Dem aktuellen Repressionsschlag ging eine monatelange Hetzkampagne voraus, die nicht alleine der bürgerlichen Politik der Letzten Generation gilt. Vielmehr zielt sie auf die Unterdrückung und Ausgrenzung jeglichen Engagements außerhalb des engstirnigen politischen Institutionen-Sets und der in Bezug auf sie legitimierten Verfahren. „Klima-Terrorismus“ ist das Schlagwort der spürbaren Gewalt, welche durch das verrohte Bürgertum und die abgehobenen Politiker*innenkaste ausgeübt wird. Dies wurde nicht zuletzt bei der völlig überzogenen Ingewahrsamnahme dutzender Personen deutlich, die vor knapp zwei Jahren gegen den Ausbau des DHL-Flughafens Leipzig/Halle protestierten [2] [3].

Dass Angehörige der Letzten Generation sich von in ihren Augen „wirklich Kriminellen“ und „Radikalen“ deutlich distanzieren, ist eine nachvollziehbare Reaktion aus Selbstschutz. Sie ist zu kritisieren, weil der Rahmen der gesetzten Legitimität an sich auf Gewalt und Ausgrenzung beruht. In dieser Taktik kommt darüber hinaus aber die Wahrheit zum Ausdruck, dass die Anhänger*innen dieser Retorten-Bewegung tatsächlich aus der sogenannten „Mitte der Gesellschaft“ entstammen. Umso mehr schien es den staatlichen Repressionsorganen geboten zu sein, dieser Entwicklung einen Riegel vorzuschieben, bevor sich etwa ein Protest wie Ende März im französischen Saint Soline entzündet [4] [5].

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The anarchist synthesis in a nutshell

Lesedauer: 9 Minuten

This contribution was published on theanarchistlibrary.org 11.04.2023. A friend recommended me at least to have a provisional translation of some of my writings.

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„Take a little bit of each ingredient and throw it together blindly“ – This is how the often diffuse streams of thought, shaky positions, weak commitments and unsteady practices in leftist scenes could be described, of which anarchists have always been and still are a part.

„After years of uncertainty, I have found a true standard on which the world must be measure“ – This is how all the statements of the rightists of the various factions, whether they call themselves Marxist or feminist, egoist or communist, syndicalist, platformist, insurrectionist or non-violent, sound in my ears. The confusion, positionlessness, noncommittalism, and restlessness on the one hand and the problematic claim to truth, the authoritarian behavior, the top dog behavior, and the scathing criticism on the other are two sides of the same coin.

Both sides were already present in anarchism. But both are also reactions to the certain conditions of exactly our time. In this one there are strong emancipatory social movements, but they lack the vanishing lines to change society as a whole. There are numerous, also new, groupings that want to change something and start with it directly in their environment. But they lack a shared vision as an orientation towards which they can direct their important everyday struggles and their communication.

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